Donnerstag, Dezember 12, 2024

Todesursache „Gesundheitspolitik“?

Im letzten halben Jahr sind im Vergleich zum Vorjahr um 3.500 Menschen mehr gestorben. Immer mehr deutet darauf hin, dass die Todesursache für viele von ihnen „Spitalskrise“ – und damit  „Gesundheitspolitik“ – heißt.

 

Wien, 8. Jänner 2023  Heute schreibe ich über das Überleben und wie schwer es für immer mehr Patienten und Patientinnen wird.

Die Hauptfolge der COVID-Pandemie heißt „Übersterblichkeit“. Monat für Monat stellen Statistiker von Rostock bis Wien fest, dass immer mehr Menschen im Vergleich zum Vorjahr sterben.

Der Wiener Landesstatistiker Ramon Bauer nannte im Mittagsjournal am 3. Dezember 2022 die Zahlen: Von Ende Mai bis Mitte November 2022 lag die Übersterblichkeit bei “knapp neun Prozent”, insbesondere “in der Altersgruppe 65 plus”. Damit sind in diesem knappen halben Jahr in ganz Österreich um rund 3.500 mehr Menschen als im Vorjahr gestorben.

Mit COVID sind die deutschen Statistiker erstmals zu Monatsvergleichen übergegangen. Im Oktober 2022 ergibt ihre Messung der Übersterblichkeit ein Plus von 19 Prozent zum Durschnitt der drei Vorjahre.

Nur ein Drittel COVID-Tote

Seit Sommer 2022 sind die deutschen Experten bei den Zahlen stutzig geworden. “Die Corona-Toten erklären nur noch ungefähr die Hälfte dessen, was wir im Oktober gesehen haben.” Das stellt Jonas Schöley vom Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock am 28. November 2022 in der „Tagesschau“ fest.

In Wien kommt Ramon Bauer zum selben Ergebnis. Nur für ein Drittel der 3.500 zusätzlichen Toten sei COVID verantwortlich. Für mehr als 2.000 Todesfälle muss es andere Ursachen geben.

Die Sommerhitze liefert den Grund für etwa 300 Fälle. Andere sind wahrscheinlich verstorben, weil sie die Pandemie bereits früher entscheidend geschwächt hat. Aber das erklärt weder in Deutschland noch in Österreich die hohen Zahlen, mit denen die Übersterblichkeit jetzt auch in den Sommermonaten auftritt.

Für Tausende Sterbefälle bleibt nur noch eine Erklärung: Überlastung und beginnender Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Immer mehr Kranke können nicht mehr rechtzeitig und ausreichend behandelt werden. Sie sterben, weil es für sie kein Bett, keine Operation oder kein Medikament gibt.

„Liegen exponiert herum“

„Viele Patienten liegen auf den Gängen und Korridoren, manchmal halb nackt und warten auf Untersuchungen oder Heimtransporte. Toilettengänge sind oft nicht möglich, verwirrte Patienten schreien, reißen sich Decken oder Kleider vom Leib und liegen exponiert herum“. Das berichtet ein Arzt Anfang Jänner 2023 dem ORF in Oberösterreich. Er möchte anonym bleiben.

Andere Ärzte vom Salzkammergut bis Linz beschreiben Ähnliches und bestätigen damit das, was wir über die Notsituation am Wiener AKH in “Notruf AKH” – Teil 1 und Teil 2 berichtet haben. In der Steiermark und in Salzburg ist es nicht anders. Auch dort hat die Gesundheits-Not 2022 Spitäler und Patienten erreicht.

„Gehen Sie zu Fuß da rüber“

In Wien werden Patienten mit akuten Nierenkoliken von einem Spital zum anderen weitergeschickt. Rettungsfahrer mit Akutpatienten wissen nicht, welches Krankenhaus sie anfahren sollen, weil eine Fachabteilung nach der anderen wegen Überbelegung „Rettungssperren“ verhängt. Einen Fall aus dem Oktober 2022 schildert ein Arzt, der anonym bleiben möchte: „Die Rettungsfahrer haben dem Patienten gleich vor dem Eingang ins AKH gesagt: ´Wenn Sie ins AKH wollen, steigen Sie aus und gehen Sie zu Fuß da rüber. Dann muss man Sie in der Ambulanz nehmen.´ So war das dann auch.“

Zur Spitalskrise kommt die Medikamentenkrise. Auf Twitter bitten Frauen für ihre Kinder um die dringend benötigten Antibiotika. Wie von COVID wird die Gesundheitspolitik auch von der Medikamentenkrise „überrascht“.

Todesursache „Pflegemangel“

Seit Jahrzehnten ist mit dem Mangel an Pflegerinnen und Pflegern der Hauptgrund der Spitalskrise bekannt. Jetzt, wo junge, gut ausgebildete Pflegerinnen nach den ersten Arbeitswochen aus dem Spital fliehen und von einer „Hölle“ an den Stationen berichten, ist es zu spät. Immer mehr Betten und OP-Tische werden in ganz Österreich gesperrt, immer mehr Krebspatienten mit Tumor und ohne Hoffnung nach Hause geschickt. Bei vielen von ihnen müsste später am Totenschein „Systemversagen“ stehen.

Wer den Umgang mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt über die letzten Jahrzehnte beobachtet hat, weiß: Es ist kein Wunder, das unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Es ist eher ein Wunder, dass es dem Kaputtsparen und der politischen Vernachlässigung so lange standgehalten hat.

In Großbritannien ist das öffentliche Gesundheitssystem bereits früher ruiniert worden. Dort sterben jetzt jede Woche 500 Menschen, weil das System für sie keinen Platz mehr hat. Österreichische und deutsche Gesundheitspolitiker können in London studieren, was passiert, wenn jetzt nichts geschieht.

Parteienfinanzierung und  Vietnamesinnen

In Wien, dem Bundesland mit dem besten Spitalssystem, kämpfen Kliniken und Abteilungen von Urologie und Neurochirurgie bis zu Kinder- und Unfallchirurgie Tag für Tag ums Überleben. Der zuständige Stadtrat antwortet seit Wochen auf Journalistenfragen kaum mehr. In anderen Bundesländern ist es nicht besser.

Nur Niederösterreich zeigt, dass noch ganz anderes geht. Am 18. November 2022 ließ die ÖVP im St. Pöltner Landtag in höchster Pflegenot den Import von 150 Pflegerinnen aus Vietnam beschließen.

Die Landesgesundheitsagentur LGA selbst investiert Steuergelder längst in türkise Zukunft: in Inserate in Parteizeitungen der ÖVP Niederösterreich. Die „Junge Volkspartei“ freut sich über LGA-Inserate im Parteimedium „Jung“. Im ÖVP-Blatt „Sicher in Niederösterreich“ steht über dem LGA-Inserat „Bitte zugreifen!“ Die finanzielle Gesundheit der Partei scheint in Niederösterreich nach wie vor verlässlich über der Gesundheit der Patientinnen zu stehen.

Das Wiener Gesundheitssystem hat eine Antwort auf die Zustände bei den Nachbarn gefunden: „Gastsperre“. Seit Wochen dürfen Patienten auch aus Niederösterreich nicht mehr in Wiener Spitälern aufgenommen werden.

Niemand weiß, wann in Österreich erstmals ganze Spitäler wie die Berliner Charité auf Notbetrieb umgestellt werden müssen. Niemand weiß, wann aus den Einbrüchen im Gesundheitssystem ein Dammbruch wird. Nur eines ist klar: Niemand weiß mehr, ob er oder sie im Falle einer Krankheit “übersterblich” werden kann. So weit ist es im Land, das sich jahrzehntelang für sein “weltbestes Gesundheitssystem” gefeiert hat, gekommen.

Titelbild: APA Picturedesk

Autor

  • Peter Pilz

    Peter Pilz ist Herausgeber von ZackZack.

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