Freitag, März 29, 2024

Glaube – Geduld – Dschihad: Ein Comic über Erdogan

Der türkische Schriftsteller Can Dündar hat zusammen mit dem ägyptisch-sudanesischen Karikaturisten Mohamed Anwar einen Comicroman über Erdogans Werdegang geschaffen. Wir haben ihn gelesen.

Wien/Berlin | In wenigen Wochen werden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Im 100. Jahr der Republik Türkei stellt dies einen historischen Wendepunkt dar: Wird die stark unterminierte türkische Demokratie eine Chance auf Erneuerung erhalten? Oder wird ein autokratischer Präsident sein politisches Lebenswerk mit einer vorgeblich letzten Wiederwahl krönen können? Auch aufgrund der furchtbaren Erdbebenkatastrophe 2023 ist der Wahlausgang alles andere als gesichert.

Gerade in diesem Schicksalsjahr lohnt sich die Lektüre eines Buches über den immer noch populären Erdogan, um seine Psyche und die Gesellschaft, die ihn hervorbrachte, besser nachvollziehen zu können. Die Rede ist von einem Werk, das von einem seiner bewandertsten Intimfeinde geschrieben wurde: Can Dündars Comicroman „Erdogan“.

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Der im Berliner Exil lebende Starjournalist Can Dündar wurde durch das investigative Medium CORRECTIV mit dem ebenfalls exilierten Zeichner Mohamed Anwar zusammengebracht. Beide mussten ihre Heimat unfreiwillig wegen politischer Verfolgung verlassen. Dass sie in Berlin aufeinandertrafen, ist ein großes Glück, denn der Leserschaft wurde so eine kompakte, verdichtete Biographie über den türkischen Präsidenten Erdogan geschenkt.

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Vom Fußballspieler zum Autokraten

Recep Tayyip Erdogan trägt den Namen seines islamischen Geburtsmonats Recep und den Namen seines Urgroßvaters Tayyip. Sein Vater, Kapitän Ahmet, stammt aus der Schwarzmeerregion und zieht auf Arbeitssuche nach Istanbul, von wo aus er als Seefahrer Inseln mit Trinkwasser beliefert. Tayyip wächst in armen Verhältnissen auf, sein Vater ist streng, gewalttätig und zeigt ihm kaum Liebe. Er müht sich um die Anerkennung seines Vaters, der nur schwer davon zu überzeugen ist, seinen Sohn Fußball spielen zu lassen. Die Suche nach Bestätigung durchzieht das ganze Buch, beginnend beim biologischen Vater, über seinen politischen Ziehvater Necmettin Erbakan (ehemaliger Ministerpräsident), bis hin zur Wählerschaft.

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Das Militär und das Gespenst des Kommunismus

Die Türkei durchlebt in den 1970er Jahren eine sehr bewegte, spannungsgeladene Zeit. Das Militär versucht, dem Aufstieg des Kommunismus mit der Hilfe des zuvor bekämpften Islamismus etwas entgegenzusetzen. Das Buch geht hier zur Kontextualisierung etwas zu kurz auf die Geschichte der ägyptischen Muslimbruderschaft ein, als auch auf die Mudschahedin, welche in Afghanistan die sowjetischen Besatzungstruppen bekämpfen.

Erbakan gründet 1971 die erste islamistische Partei und muss nach dem Militärputsch und dem Verbot der Partei aufgrund „antilaizistischer Aktionen“ ins schwedische Exil. Zwei Jahre später holt das Militär Erbakan zurück. Bei der Wahl 1973 kommt seine neu gegründete Partei auf elf Prozent und wird Koalitionspartner unter Bülent Ecevit (CHP).

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Glaube, Geduld, Dschihad

Das Militär wird in den Jahren darauf immer wieder putschen, in die Politik intervenieren, Parteien verbieten, und Politikverbote erteilen, sodass sich die Islamisten entsprechend anpassen und verstellen müssen. Nach seinem Militärdienst besucht Erdogan Anfang der 1980er Jahre den unter Hausarrest stehenden Erbakan. Der rät seinem treuen Gefolgsmann drei Dinge: Glaube, Geduld, Dschihad („Anstrengung“) also klassische islamische Tugenden. Erdogans Loyalität zu seinem geschassten Hodscha wird belohnt, sodass er für die Partei kandidieren darf, anfangs noch ohne Wahlerfolg.

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Nach seiner ersten politischen Niederlage evaluiert Erdogan frühere Fehler. Seine Lösung: Die Partei muss sich den Frauen öffnen, denen er davor nicht einmal die Hand reichen wollte. So entschließt er sich im kosmopolitischen Istanbuler Stadtteil Beyoglu im Jahr 1989 als Bürgermeisterkandidat anzutreten.

Der Wahlkampf wird geschickt inszeniert: In moderne Viertel werden Wahlkampfhelferinnen ohne Kopftuch geschickt, in konservative Viertel dagegen Wahlkampfhelferinnen mit Kopftuch. Die bärtigen Brüder in Pluderhosen müssen kurztreten. Erdogan verliert die Wahl gegen die CHP nur knapp mit 1.500 Stimmen Rückstand. Wutentbrannt geht er noch in der Wahlnacht zur Kreiswahlkommission und schimpft auf den zuständigen Richter ein. Daraufhin kommt er wegen Beleidigung des Richters zunächst eine Woche ins Gefängnis, der Rest wird als Geldstrafe verbüßt.

Plötzlich Bürgermeister

Fünf Jahre später, also 1994, wird Erdogan überraschend zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Seine politische Konkurrenz macht ihm unüberlegt ein Wahlkampfgeschenk: Es wird ihm vorgeworfen, er lebe in einem illegal gebauten Haus. Erdogan nimmt den vorgelegten Penalty dankend auf und erklärt, er, wie Millionen andere auch, lebe natürlich in einem illegal gebauten Haus, da die Politik sich nicht ausreichend um das Thema gekümmert habe. Die Wählerschaft dankte ihm an der Urne diese als Anti-Establishment wahrgenommene Haltung.

Die Demokratie ist der Weg, nicht das Ziel

Die muslimische Welt stürzt in den 1990er Jahren in eine chaotische Zeit, sowohl in Afghanistan, Algerien, Bosnien und Tschetschenien. Die USA wollen ihren Fehler der Vergangenheit „Radikaler Islamismus gegen Kommunismus“ korrigieren, indem sie auf „Islamisten mit Krawatte“ setzen. So wird Erdogan unter anderem vom amerikanischen Diplomaten Abramowitz besucht und bereist seinerseits mehrmals die USA.

Fetullah Gülen profitiert ebenso von dieser Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik. Besonders auch durch seine Schulen in weltweit 160 Ländern, vor allem Zentralasien, ist Gülen zu einem wichtigen Machtfaktor geworden. In der Türkei kontrollieren Gülen-Anhänger gewisse Medien und 1996 wird mit seiner Hilfe die Asya Bank gegründet. Islamismus und Kapitalismus scheinen sich gut zu ergänzen, die amerikanische Politik scheint aufzugehen. Doch sowohl Erdogan als auch Gülen verstellen sich bloß als „gemäßigt und geläutert“.

Minarette unsere Bajonette

1997 kommt es zum „postmodernen Putsch“ gegen die Erbakan-Regierung. Erbakan will vorerst auf die Forderungen des Militärs eingehen, da er glaubt, im Parlament eine Mehrheit dagegen organisieren zu können. Erdogan widerspricht und wird von seinem früheren Vorbild zurechtgewiesen. Der Bruch zwischen den beiden wird dadurch öffentlich und endgültig. In der aufgeheizten Stimmung zitiert Erdogan, angestachelt von einer euphorischen Menge, bei einer Rede ein Gedicht, dass ihn wegen Volksverhetzung ins Gefängnis bringen wird: „Minarette unsere Bajonette, Kuppeln unsere Helme, Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten.“

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Grafisches Meisterwerk

Anwar und Dündar setzen mit diesem wundersamen Kunstwerk einen neuen Meilenstein der Kategorie „graphic novel“, in der sie der Geschichte des polemisierenden Autokraten gerecht werden. Auf über 300 Seiten ist den beiden ein wahres zeithistorisches Meisterwerk gelungen, das sowohl den Aufstieg des türkischen Politikers, als auch eine kurze Geschichte des Islamismus nachzeichnet. Jahrelange Arbeit und akribische Recherche haben ein sehr informatives, lesenswertes Werk ermöglicht, das sowohl Türkei-Sachkundige verblüfft, als auch Nichtkundige Lesende in den Bann zieht. Der vorliegende Stoff liest sich wie ein Thriller und die Ästhetik von Anwars Zeichnungen entfalten dazu eine passend, packende Stimmung.

Zeichnungen: Anwar; Text: Can Dündar 

Leseempfehlung

Die Übersetzung vom türkischen Original ins Deutsche liest sich meist flüssig, der Ausdruck im Türkischen lässt sich aber nicht immer wortwörtlich übertragen. So kommt es stellenweise zu Passagen im etwas eigenen Kurzdeutsch. Der Rezensent ist vom Buch insgesamt sehr positiv beeindruckt, aber ein Kritikpunkt sei noch anzumerken: Mangels besserer Alternativen einigt sich die Wissenschaft auf den Begriff „Islamismus“. Im Buch wird neben „Islamismus“ aber unnötigerweise auch immer wieder der Begriff „politischer Islam“ genutzt. Das ist ein schwammiger, unter anderem von Rechtspopulisten gern instrumentalisierter Begriff, der vor allem zum Missverständnis einlädt.

Das Buch sei allen empfohlen, die an der Türkei und ihrer Politik interessiert sind. Es ist im „CORRECTIV“ Verlag erschienen – bisher auf Türkisch, Deutsch und Arabisch.

Titelbild: ZackZack/ Thomas König

Gabriel Hartmann
Gabriel Hartmann
Reporter für türkisch-österreichische Gschichten. Beobachtet die Entwicklungen und den Wahlkampf in der Türkei. Dil kılıçtan keskindir.
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1 Kommentar

  1. Die missbrauchten Kinder. Ihr Leben ist – unreflektiert und somit ungeheilt – von Rache bestimmt. Sie rächen sich an jedem. Auch wenn die Rache nur einem gilt.

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