Die Proteste in Israel spitzen sich weiter zu. Ein drohender Generalstreik zwingt Premier Benjamin Netanjahu Medienberichten zufolge zur Rücknahme der umstrittenen Justizreform.
Jerusalem / Tel Aviv | Die Protestwelle in Israel erlebt dieser Tage ihren Höhepunkt. Nach dem Hinauswurf von Verteidigungsminister Joav Galant am Sonntagabend drehte sich die Eskalationsspirale weiter. In Tel Aviv, dem Zentrum des fortschrittlichen Israel, strömten noch am Sonntagabend Zehntausende auf die Straßen um weiterhin gegen die geplante Justizreform anzukämpfen.
Historischer Streik bringt Regierung unter Druck
Die Straßenproteste, gegen die die Polizei mit Wasserwerfern und Kavallerie vorgeht, haben seit Montagfrüh gewichtige Unterstützung bekommen. Die großen israelischen Gewerkschaften hatten sich mit einflussreichen Vertretern aus der Wirtschaft auf einen Generalstreik geeinigt, hieß es. Der internationale Flughafen des Landes, der Ben Gurion Airport bei Tel Aviv, operiert seit Montag nicht mehr. Auch wirtschaftlich bedeutende Häfen wurden stillgelegt.
Christoph Badelt, Vorsitzender des österreichischen Fiskalrates, lobte den Streik auf Twitter und warnte vor ähnlichen politischen Entwicklungen in Österreich:
Dass sich die Gewerkschaften mit Vertretern aus der Wirtschaft verbünden, ist ein Novum in Israels Geschichte und erhöht den Druck auf Netanjahu. Dieser hatte am Montagmorgen sogleich eine mit Spannung erwartete Rede angekündigt, die allerdings bis auf Weiteres verschoben wurde. Aus Regierungskreisen sickerte dennoch das vorläufige Ende der Justizreform durch. Denn nachdem sich auch Wirtschaftsminister Nir Barkat gegen das rasche Umsetzen der Reform ausgesprochen hatte, steht die Krisenregierung kurz vor dem Aus.
Netanjahu wankt
Dass der erzkonservative Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ausgerechnet seinen Parteikollegen Galant nach dessen Kritik an dem Justizumbau gefeuert hatte, kann als tiefer Riss in der israelischen Koalition gewertet werden. Die vor allem von Ultrarechten und orthodoxen Kräften gestützte Regierung Netanjahus könnte damit die Serie der gescheiterten Koalitionen in Israel um ein neues Kapitel erweitern.
Denn wie einige israelische Medien berichten wird Netanjahu die Justizreform aufgrund des massiven Widerstands aus der Gesellschaft nicht umsetzen können. Noch am Montag wird daher eine Rücknahme der umstrittenen Reform erwartet. Doch auch ein Rückzieher ist für die Koalition kaum tragbar. „Die Reform des Justizsystems darf nicht gestoppt werden, und wir dürfen nicht gegenüber der Anarchie kapitulieren“, sagte der Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzende der ultrarechten Partei „Jüdische Stärke“, Itamar Ben-Gvir.
Demokratie bedroht
Die von liberalen und linkeren Kräften massiv bekämpfte Justizreform sieht vor, dass die Regierung in Zukunft alle Richterinnen und Richter selbst ernennen kann und zudem Urteile des höchsten Gerichtshofs weitgehend ignorieren kann. Die Kontrolle der Politik durch das Justizsystem, ein Grundpfeiler der Demokratie, wäre damit Geschichte. Der israelische Präsident Isaac Herzog hatte deshalb schon mehrmals dazu aufgerufen, die Reform zu begraben.
Für Netanjahu geht es auch um das politische Überleben. Gegen ihn wird seit Jahren wegen Korruption ermittelt. Die Justizreform würde den Prozess im Keim ersticken.
Der populäre Journalist Ben Caspit brachte in einem Kommentar die tiefe Spaltung des Staates Israels zum Ausdruck. Er sprach von einem möglichen Staat Jerusalem und einem Staat Tel Aviv. Ersterer gilt als reaktionär und von ultrareligiösen Kräften dominiert, Tel Aviv dagegen ist die Hochburg der liberalen politischen Mitte, die den überwiegenden Anteil der israelischen Wirtschaftsleistung schultert und dessen Angehörige den Großteil des Militärs stellen. Orthodoxe Juden sind vom dreijährigen Militärdienst befreit.
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