Vor einem Jahr wurde der preisgekrönte investigative Lokaljournalist Arslan in seiner Redaktion ermordet. In einem Gerichtsurteil wurden mutmaßlich entscheidende Hintermänner freigesprochen.
Wien/Kocaeli | Güngör Arslan, Gründer und Chefredakteur der lokalen Online-Zeitung “Ses Kocaeli”, wurde am 19. Februar 2022 in seinem Büro in İzmit, Türkei, niedergeschossen. Er starb später im staatlichen Krankenhaus von Kocaeli. Die genauen Umstände seiner Ermordung sind bis heute nicht abschließend geklärt.
Freispruch für Hauptangeklagten
Dieses Jahr, am 09. Januar 2023, wurden zwei Hauptangeklagte am 1. Amtsgericht Kocaeli zu einer verschärften lebenslangen Haft verurteilt, namentlich der Schütze Ramazan Özkan und der Mordanstifter Burhan Polat. Der dritte Hauptangeklagte, Ersin Kurt, für den die Staatsanwaltschaft ebenfalls lebenslänglich gefordert hatte, wurde dagegen freigesprochen.
Auftragsmord
Der verurteilte Schütze, der 21-jährige Özkan, war nach dem Mordanschlag vom Tatort geflohen, war aber kurz darauf mit der Tatwaffe festgenommen worden. Die Behörden hatten unmittelbar danach umfangreiche Ermittlungen angekündigt und auch die Verhaftung weiterer Verdächtiger. Unter den Verhafteten war der Rechtsanwalt Kurt, einer seiner Mandanten, der mutmaßliche Anstifter des Mordes, Polat, und ein gewisser Hasan Emre Çelik. Es wird vermutet, dass Çelik die Mordwaffe gekauft hatte, diese einen Tag vor dem Mord mit Özkan auf einem leeren Feld getestet und ihn dann am nächsten Tag in die Nähe des Tatorts gefahren hatte.
Inseratenkorruption
Der nach der Tat verhaftete Anwalt Kurt ist Mitglied der MHP, dem rechtsextremen Koalitionspartner der regierenden AKP. Journalist Arslan hatte Artikel veröffentlicht, in denen er Kurt beschuldigt hatte, gegen die Standesregeln für Rechtsanwälte verstoßen zu haben. Die Vorwürfe bezogen sich konkret auf Ausschreibungen der Gemeinde İzmit für die Vergabe von Anzeigen in Gemeindezeitungen, auf öffentlichen Plakatwänden und auf der Verkleidung von Straßenbahnen. Kurt ist Berichten zufolge der Eigentümer von Kent Park Ajans, einer Agentur, die genannte städtische Ausschreibungen irregulär gewonnen habe.
Aufdecker von organisierten Verbrechen
Arslan hatte ausführlich über das organisierte Verbrechen und die mutmaßliche Korruption in der lokalen Verwaltung der Provinz Kocaeli geschrieben. In seinem letzten Artikel, der vor seiner Ermordung veröffentlicht worden war, hatte er den Bürgermeister der Stadt Kocaeli, Tahir Büyükakın (AKP), beschuldigt, eine öffentliche Ausschreibung manipuliert zu haben. Es war dabei um den Bau von etwa 500 Häusern der “Gesundheitsstadt” in Kartepe gegangen, bei dem Büyükakın den Zuschlag für die städtische Ausschreibung an einen befreundeten Bauunternehmer von Haldız Construction vergab, der der AKP nahesteht. Ein Konkurrenzanbieter, die Zeray Construction, hatte dem Bürgermeister vorgeworfen, dass sie auf irreguläre Weise von der Ausschreibung ausgeschlossen wurden.
Verweigerte Akteneinsicht
Die Familie von Arslan hatte zunächst Schwierigkeiten, einen Anwalt zu finden, der bereit war, den Fall zu übernehmen. Ihr neuer Anwalt Cahit Çiftçi erklärte in einer Pressekonferenz, dass ihm eine ordnungsgemäße Akteneinsicht verweigert wurde, dass er keinen Zugang zu den Zeugenaussagen hat und dass die Staatsanwaltschaft alle entsprechenden Anträge abgelehnt hat.
Laut Çiftçi hatte der Staatsanwalt, als er die Akten verlangte, gesagt: “Ich will sie nicht aushändigen, weil die Namen von Politikern in den Akten erwähnt werden.” Çiftçi hat inzwischen auch Strafanzeige gegen Necmi Bulut (MHP), den Präsidenten der Handelskammer von Kocaeli, gestellt, weil er Arslan bedroht hatte, nachdem der investigative Lokaljournalist über Buluts Verstrickungen geschrieben hatte.
Renommierter investigativer Lokaljournalismus
Güngör Arslan wurde 1962 in İzmit geboren und gründete 2001 seine Lokalzeitung “Bizim Kocaeli” (Unser Kocaeli). Die Lokalzeitung genoss hohes Ansehen und gewann in den 15 Jahren ihres Bestehens mehrere Medienpreise, bis sie nach dem Putschversuch im Jahr 2016 geschlossen wurde. Arslan gab jedoch nicht auf und gründete die Online-Zeitung “Ses Kocaeli”(Stimme Kocaelis).
SLAPP-Klagen, Verhaftungen, tätliche Angriffe
In seiner 35-jährigen Karriere als Journalist war Arslan wiederholt Einschüchterungsanklagen, Diffamierungen, Drohungen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, weshalb er um seine Sicherheit bei seiner Arbeit im investigativen Lokaljournalismus fürchtete. Er wurde sogar am helllichten Tag von unbekannten Personen körperlich angegriffen und misshandelt, dennoch setzte er seine Arbeit bis zu seiner Ermordung fort.
Güngör Arslan hinterlässt seine Frau und zwei Töchter. Er geht in die Geschichte ein, als der 67. in der Türkei getötete Journalist – seit der Ermordung von Hasan Fehmi am 06. Mai 1909.
Titelbild: UMIT TURHAN COSKUN / AFP / picturedesk.com