Die von den Medien vorgegebenen Wahlkampfthemen greifen parteipolitische Propaganda und nicht gesellschaftlich relevante Themen auf. Besonders beim »Wahlkampfthema Migration« stellen Massenmedien sich über den gesellschaftlichen Diskurs, um ihn abzuwürgen.
Ich beschreibe im Folgenden zwei Konformitätsexperimente von Salomon Asch: Sechzehn Personen bekommen ein Blatt mit drei Geraden A, B, C und jede Person muss öffentlich sagen, welche Gerade ihrer Meinung nach in ihrer Länge einer am Rand des Blatts gezeichneten Vergleichsgeraden entspricht. Die richtige Antwort ist B – das ist mit freiem Auge leicht sichtbar und 100 von 100 Befragten geben, wenn sie alleine befragt werden, die richtige Antwort. Nun ist aber im ersten Versuch unter den sechzehn Personen ein eingeschmuggelter Proband, der bewusst die falsche Antwort A gibt. Ergebnis: Die anderen 15 lachen ihn aus. Im zweiten Experiment sind 15 der 16 Probanden eingeschmuggelt und geben bewusst die falsche Antwort A. Die einzig wirkliche Testperson, die ganz davon überzeugt ist, dass die Gerade B gleich lange ist wie die Vergleichsgerade, lässt sich am Ende breitschlagen und behauptet schließlich, dass auch sie meint, dass A die richtige Antwort ist.
Vereinfach gesagt, zeigt das Experiment die Wirksamkeit von Gruppenzwang. Dem Gruppenzwang, dem Massenzwang, unterliegen wir auch heute, wenn wir den Fehler machen, unser politisches Denken oder Wahlverhalten von veröffentlichten Meinungsumfragen und der medialen Aufbereitung sogenannter Wahlkampfthemen abhängig zu machen. Stellen wir uns vor, dass »Migration« wirklich ein entscheidendes »Wahlkampfthema« wäre und dass – wie fast alle Medien schreiben, die ÖVP einen »harten Kurs gegen illegale Migration« vertrete.
Klein beigeben
Die Realität zeigte, dass unter einem ÖVP-Innenminster eine gut integrierte Georgierin von hunderten Polizisten in der Nacht aus Österreich abgeschoben wurde. Das geschah illegal, wie ein Gericht danach feststellte. Es müsste also heißen: »ÖVP vertritt illegalen Kurs gegen Migration« – umso mehr als ein ÖVP-Innenminister die Illegalität der Aktion mit den Worten kommentierte, man habe »keine Fehler gemacht«. Als ein Terrorist in Wien einen Anschlag verübte, war es ebenfalls ein ÖVP-Innenminister, der trotz Warnungen von Geheimdiensten über massive Munitionskäufe einer schon früher auffälligen und verdächtigen Person, nicht reagierte und so einen verhinderbaren Terroranschlag in Wien mit einem sehr weichen Kurs zuließ. Die Medien, die also vom »harten Kurs gegen illegale Migration« der ÖVP sprechen, sind jene eingeschmuggelten Probanden, die durch bewusst falsche Aussagen die anderen manipulieren – bis sie klein beigeben.
Es wird uns nahegelegt, unser Wahlverhalten von einem angeblich realen Bild des Verhaltens anderer abhängig zu machen. Nichts könnte verkehrter sein, als das tun. Es ist fatal, wenn eine Politikerin oder ein Politiker seine Meinung und seine politischen Aussagen danach richtet, was ihm Meinungsforschungsinstitute als den »Willen des Volkes« präsentieren. Es ist fatal, wenn eine Wählerin oder ein Wähler nicht nach politischem Willen und ideologischen Grundsätzen entschiedet, sondern der Partei ihre Stimme gibt, von der ihr Meinungsforschungsinsitute erzählen, sie werden bei den nächsten Wahlen den »Sieg« erringen, wie es heute in den meisten Medien heißt, wenn eine Liste bei einem Urnengang die meisten Stimmen bekommt. (Ich schreibe »Willen des Volkes« und »Sieg« unter Anführungszeichen, um die immer selbstverständlichere Durchsetzung des Pressevokabulars mit faschistischer Terminologie zu zeigen.)
Ausbildung des Denkens
Die moderne Propaganda, die durch World Wide Web und Smartphone auf eine immer schnellere und weitere Verbreitung von bloßen Behauptungen setzen kann, baut mehr denn je auf eine einfache Überlegung: dass selbst der vernünftigste Mensch den größten Unsinn für wahr hält, wenn er ihn nur oft genug hört. Schlimmer noch ist es, wenn Qualitätsmedien aus rein kommerziellen Motiven den Unsinn weiterverbreiten. Dann kann man sagen: Es steht ja sogar in einer seriösen Zeitung.
Freilich gibt es die ersten kritischen Stimmen und Analysen zur Massenmanipulation in Zeiten von Vernetzung und Smartphone. Freilich hat man inzwischen erkannt, dass viele sogenannte Krisen (z.B. die »Flüchtlingskrise« im Jahr 2015) und viele politische Themen durch gezielte Desinformation hochgespielt werden. Doch auch das Aufdecken dieser Manipulation wird – so notwendig und gut es ist – recht geringe Erfolge haben. Zum einen können Entscheidungen in der Vergangenheit nicht mehr revidiert werden. Zweitens erreicht die Aufdeckung meist ein viel kleineres Publikum als die großen Propagandakampagnen.
Falscher Freiheitsbegriff
Drittens verlangen die Erkenntnisse daraus dauerndes und konsequentes Handeln: Skepsis beim Umgang mit Information, Vergleichen vieler Quellen, dialektisches Denken und Selbstkritik sowie Selbstbeschränkung beim Medienkonsum. All das ist anstrengend und erfordert Selbstverantwortung, da eine dahingehende Ausbildung der Menschen nicht in Sicht ist. Philosophie und geschultes Denken sind in unserer Gesellschaft out.
Es ist ein großer Irrtum, das ungeschulte Denken mit dem Freiheitsbegriff zu verteidigen. Selbstverständlich ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut; es bezeichnet aber das Was – die Freiheit, zu einer eigenen Meinung zu gelangen und diese zu äußern. Die Frage nach dem Wie, die Frage, auf welche Weise und mit welchen Methoden wir zu unserer Meinung kommen, kann man aber nicht so einfach freistellen. Denn das bloße Wiederholen der Meinung anderer oder irgendwelcher Propaganda ist keine individuelle Äußerung und daher auch nicht frei.
Das Primat von Boulevard und Kommerz in der kapitalistischen Gesellschaft ist Gift für die Demokratie. Ihre Medien tragen nicht zur Meinungsbildung bei, sondern präsentieren vorgefertigte Meinungen mit dem Argument, das sei »das, was die meisten Leute wollen«. Sie entsprechen den eingeschmuggelten Probanden des zu Beginn erwähnten Experiments, die eine Versuchsperson mit der richtigen Antwort umstimmen, etwas zu behaupten, was sie eigentlich für falsch hält.
Diffamierung des Pluralismus
Bekämpft wird auch, dass die Haltung zu verschiedenen Fragen innerhalb einer Menschengruppe durchaus geteilt sein kann und darf. Die Annahme, dass es immer das gäbe »was die meisten Leute wollen« ist nicht nur irrig, sondern auch autoritär. Heute heißt es »das Land ist gespalten«, wenn es zu etwas keine eindeutige Mehrheitsmeinung gibt. Seltsam, dass man das in der Demokratie negativ sieht. Die negative Beurteilung der Existenz verschiedener Standpunkte und die Gleichsetzung von politischer Diskussion mit »Streit« und »Hickhack« sind demokratiefeindlich. Sie untergraben den Pluralismus und seine politische Funktion.
Während Medien rechtspopulistischen Parteien vorwerfen, auf diese Weise Propaganda statt Politik zu machen, übernehmen sie selbst deren Sprache und reden vom »Wahlkampfthema Migration« und von der »Ausländerfrage«. Sie legen Links- und Mitteparteien nahe, sich ebenfalls zur »Ausländerfrage« zu positionieren, also das Verhalten der Rechtspopulisten zu kopieren. Im Gegenteil: Wir brauchen verschiedene Parteien. Wir brauchen Parteien, die weder die Sprache und Inhalte der anderen noch ihre Programme und schon gar nicht ihre Methoden übernehmen.
Sekundäre Bewegungen
Das kapitalistische Modell sagt: Viel mehr Menschen trinken Cola als Grapefruitsaft, also müssen wir Grapefruitsaft herstellen, der nach Cola schmeckt und wie Cola aussieht. Der Rechtsruck von Links- und Mitteparteien ist nur zu verhindern, wenn sie zu ihren Programmen stehen, zu ihren Vorstellungen, die Gesellschaft nach bestimmten Gesichtspunkten zu gestalten und ihre Vision einer Gesellschaft (zumindest teilweise) umzusetzen. Eine ideologisch gefestigte Bewegung kann ihre Vision einer idealen Gesellschaft nicht davon abhängig machen, ob sie 50 %, 25 % oder nur 5 % Zustimmung bei Wahlen bekommt; denn dann wäre sie selbst nicht von ihrer Vision überzeugt und damit auch nicht überzeugend.
Rechtspopulismus und Neo-Faschismus kampagnisieren ohne Programm und ohne eine Vision der Gesellschaft. Das ist einfach. Mit Politik hat es aber nichts zu tun. Ihre Anführer sind Schreihälse, die mit den 15 eingeschmuggelten Probanden Andersdenkende in die Knie zwingen. Mutig sind jene, die sich gegen Konformität aussprechen. Rechtspopulismus und Neo-Faschismus sind sekundäre Bewegungen. Sie sind Krankheiten der Demokratie. Sie brauchen zunächst eine funktionierende Gesellschaft, in der sie das Recht und den allgemeinen Konsens attackieren können. Sie erhalten Zulauf aus Protest und wollen selbst in den Gremien sitzen, die sie abschaffen wollen. Wenn sie aber an der Macht sind, zerstören sie die Gesellschaft und den Staat, den sie beherrschen.
Titelbild: Miriam Moné