Der Big Brother ist faul geworden. Heute sagt er zum Little Brother: Spioniere dich doch selbst aus. Das Instrument, mit dem das geschieht, ist das Smartphone mit Internetverbindung und einer verwirrenden Anzahl von Apps.
Vor vielen Jahren war ich in einem Büro zu Besuch, wo mir eine Mitarbeiterin eine Rolle schwarzes Duck-Tape gab. Sie riet mir, damit die Kamera meines Desktop-Computers zuzukleben, denn die Bilder dieser Kamera würden benutzt, um mich auszuspionieren und diese Daten an andere weitergegeben.
Ich sah, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während des ganzen Tages bei Facebook und Google eingeloggt waren. Ich fragte alle, ob sie sich manchmal ausloggen, ihr Passwort ändern und ihre Cookies löschen. »Was sind Cookies?«, wurde ich daraufhin gefragt.
Zwei Gurken und ein Joghurt
Unlängst erst traf ich im Supermarkt jemanden, der an der Kasse angestellt seine Geldbörse zückte und mir lange und breit erklärte, dass er mit Bargeld bezahle, da er bei Kartenzahlung überwacht werde. Man wisse dann, wo und wann und wieviel er ausgegeben habe. Als er bezahlte, fragte ihn der Kassier nach seiner Kundenkarte. Er zog sie aus der Geldbörse und legte sie zum Einscannen vor.
Nun wusste also ein böser Big Brother nicht, wo und wann und wieviel er ausgegeben hatte, dafür wusste aber ein anderer böser Big Brother jetzt nicht nur wo und wann und wieviel er ausgegeben hatte, sondern auch, was er gekauft hatte. Die vermeintlichen Sicherheitsgedanken, die einmal als politisches Kleingeld, ein anderes Mal als globales Großkapital für parteipolitische Rhetorik eingesetzt werden, haben eines gemeinsam: Sie betreffen immer nur ein kleines Segment und blenden das große Bild konsequent aus. Der Little Brother überwacht sich längst selbst. Und wenn er glaubt, der Welt den Kauf von zwei Gurken und einem Joghurt verheimlichen zu können, weil er seine Münzensammlung in den Supermarkt mitnimmt, dann belügt er sich selbst auch noch.
Nicht-Mitmachen ist lästig
Die jüngste Recherche von netzpolitik.org und Bayerischem Rundfunk hat offengelegt, wie leicht Standortdaten und Bewegungsprofile von Millionen Nutzern erhältlich sind. Wieder einmal, muss man sagen. Und wieder einmal wird festgestellt: Wir überwachen uns selbst. Die Frage einer App, ob wir Tracking erlauben oder nicht, ist uns nach deren Installation längst lästig geworden. Wir erlauben alles. Längst hat sich eine Kultur etabliert, in der Menschen, die noch hinterfragen, was sie da tun, oder die sich sogar weigern, manche Dienste oder Apps zu nutzen, zu Außenseitern werden.
Wir wollen schließlich dabei sein, wenn die heißen Debatten auf sozialen Medien laufen: über cancel culture, Bundestrojaner und den Auftritt eines Politikers beim Sommerinterview, der Summen von 8.000 EUR mit Bargeld zahlen können will, was kein Durchschnittsbürger je tut. All diese Diskussionen sind Ablenkungen von einem viel wichtigeren Thema, das viel zu selten diskutiert wird: Die Gedankenlosigkeit, mit der wir massenhaft Daten weitergeben. Das große Bild davon, was in den letzten fünfzehn Jahren Realität geworden ist, wird konsequent ausgeklammert. Es ist unbequem, nicht mitzumachen. Es ist unbequem, die Konsequenzen zu begreifen. Es ist unbequem und vor allem unpopulär ein Vorgehen dagegen politisch zu vertreten.
Nichts zu verbergen
Die normative Kraft des Faktischen hat längst eine Gesellschaft etabliert, in der die Hersteller von Smartphones, Internetprovider und Konzerne, die Apps und vor allem Kundenkarten anbieten, über uns verfügen. Es sind private Firmen, die uns ohne Grund als Kunden zurückweisen könnten. Es sind private Firmen, denen wir massenhaft Daten liefern, die sie weiterverkaufen.
Werden Standortdaten und Bewegungsprofile analysiert, so lässt sich schnell feststellen, wo wir wohnen, arbeiten, Urlaub machen, welche Geschäfte wir frequentieren. Die Argumentation populistischer Parteien gibt uns dafür Antworten vor, die im Grunde verlogen sind: Während manche Themen, wie z.B. die Bargeldzahlung, zu einer Frage des Erhalts unserer Rechte erhoben werden, wird die großflächige Überwachung durch Apps und Kundenkarten kleingeredet. Dann lautet die Antwort salopp: »Warum soll mich das stören? Ich habe ja nichts zu verbergen.« Doch kaum wer wird es gerne haben, wenn Arztbesuche, Krankenhaus- oder Gefängnisaufaufenthalte und vieles mehr für andere (für Arbeitgeber, Konkurrenten, Medien, Behörden oder Detektive) ganz einfach erhältlich sind.
Staatliche Regulierung
Längst wäre es nötig, eine grundsätzliche Debatte darüber zu führen, aufzuklären, wem Daten gehören, wie man sich vor Weitergabe schützt und ein Regelwerk zu schaffen, wie man mit ihnen umgeht und ihre illegale Nutzung ahndet. Längst wäre es nötig, besonders jene Jugendlichen und Kinder zu sensibilisieren, die Smartphones nutzen und kein theoretisches Wissen über Datentransfer, Vernetzung und ihren Gefahren haben. Doch zu lange hat man den Konzernen ein fatales Signal gegeben: dass die Nicht-Beachtung von Spielregel und Gesetzen ohnehin keine Auswirkung hat. Selbst wenn einmal Rechtsbrüche beim Umgang mit Personendaten festgestellt werden, ist das mühsam aufzudecken, das gerichtliche Vorgehen dagegen langwierig, der mediale Effekt einer Verurteilung sehr klein.
Die Frage des Schutzes der Privatsphäre und der Garantie der demokratischen Rechte aller, muss staatlich gelöst werden und kann nur staatlich gelenkt werden. Der Staat muss Regeln setzen, seine Regierungen müssen den Gebrauch regulieren, die Einhaltung der Regeln überwachen, seine Justiz muss Unrecht ahnden.
Schleichende Desavouierung
Doch die staatliche Lenkung hat in unserer Zeit einen schlechten Ruf. Die meisten Medien bringen sie sofort mit linken Fantasien, Sozialismus und Kommunismus in Verbindung. Mit simpler Abwertung diffamieren Boulevardmedien den Schutz der Menschen als Überregulierung. Ihre Geldgeber sind Großkonzerne, die andere Interessen haben. Die Aufklärung darüber, wie Menschen sich selbst zu Sklaven gemacht haben, wird lächerlich gemacht.
Demokratie kann nur garantiert werden, wenn sich jede und jeder Einzelne darauf verlassen kann, dass ihre und seine Grundrechte verteidigt werden. Wer die Demokratie erhalten will, kann Aufgaben des Staates nicht schleichend desavouieren, sie ignorieren und damit Konzernen und Privatfirmen mehr und mehr Macht über die Menschen geben. Es muss die Aufgabe demokratischer Politik sein, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten das Chaos und das Unrecht, das auf dem Gebiet der Big Data längst herrscht, einzudämmen und durch rigide Kontrolle dem Recht wieder jene Position zu geben, das es in der Demokratie hat und haben muss.
Titelbild: Miriam Moné, pixabay, Edit von ZackZack