Samstag, Oktober 12, 2024

Irland, Spanien, Polen: Wahl-Erster ist nicht gleich Regierungsamt

Bedeutet ein erster Platz bei Wahlen automatisch einen Platz in der Regierung? Ein Blick nach Europa widerspricht: In jedem vierten, vergleichbaren EU-Land haben sich aktuell andere Mehrheiten gefunden – sowohl aus rechten wie linken Parteien.

Glaubt man den Umfragen, wird die FPÖ am Sonntag als erstplatzierte Partei ins Ziel gehen. Meinungsforscher sehen die Freiheitlichen seit Ende 2022 konstant vorne, allerdings schmilzt ihr Vorsprung seit Wochen, zuletzt stagniert sie bei etwa 27 Prozent.

Geht es nach Herbert Kickl, würde ihm das Amt des Regierungschefs bei einem ersten Platz zustehen: “Als Erster stelle ich den Kanzleranspruch!”, sagte er etwa beim Krone-Sommergespräch vor einigen Wochen. Kickls Argumentation: “Wenn wir diese Wahl gewinnen, mit einem deutlichen Abstand, dann ist das ja ein Signal, dass diese Veränderung der Politik, diese Hinwendung zur Bevölkerung, gewollt ist. Dann werden sich alle anderen Parteien die Frage stellen müssen, wollen sie das akzeptieren und ihren Kurs anpassen oder wollen sie den Wählern sagen das ist uns wurscht.” Eine interessante Begründung: Zwar wird die FPÖ wohl mit Sicherheit ein großes Plus einfahren und sich die Stimmen aus der Zeit vor Ibiza zurückholen – doch warum sollte es gesetzt sein, dass sich dann alle Parteien (im Namen ihrer Wähler) allein nach der FPÖ ausrichten müssen?

ZackZack hat recherchiert, wie sich die Regierungsbildungen in anderen europäischen Ländern zuletzt gestalteten. Und hier zeigt sich: Ein Regierungsamt hat man mit dem ersten Platz nicht automatisch gepachtet. In fast jedem vierten EU-Land, das mit Österreichs Modus vergleichbar ist, landete der Erstplatzierte nach Wahlen und anschließenden Verhandlungen nicht in der Regierung, weil sich andere Mehrheiten zusammenfanden. Betroffen sind hier sowohl linke als auch rechte Konstellationen.

Vorweg eine Klärung des Wahlsystems: In Österreich gilt das sogenannte Verhältniswahlrecht – das heißt, grob gesagt, Mandate werden unter den antretenden Parteien anteilsmäßig verteilt; Voraussetzung ist eine gewisse Mindestanzahl an Stimmen in den verschiedenen Wahlkreisen. Die andere Variante ist das Mehrheitswahlrecht: Hier erlangt die siegreiche Partei alle Mandate des jeweiligen Wahlkreises, oft gibt es davor noch eine Stichwahl. Letzteres gilt etwa für Frankreich; einige Staaten wie Italien, Litauen oder Griechenland haben eine Mischvariante. Überwiegend herrscht in der EU aber die Verhältniswahl, dem 22 Länder zuzuordnen sind. In fünf davon gelangten die erstgereihten Parteien nach Verhandlungen zuletzt nicht in Regierungsfunktion.

Erstplatzierte in mehreren Ländern nicht in Regierung

Quelle: ZackZack-Recherche/Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung
  • Irland: Bei der letzten Wahl zum Dáil Éireann, dem irischen Parlament, ging 2020 die linksgerichtete Sinn Fein als Wahlsieger hervor – sie erhielt ein sattes Plus von 10,7 Prozent und landete bei 24,5 Prozent an erster Stelle. Die Sinn Fein, historisch eng mit der IRA verbunden, fand aber keinen Regierungspartner. Es bildete sich eine Koalition aus liberaler Fianna Fáil, die als Zweiter bei 22,2 Prozent (-2,1) landete, sowie der konservativen Fine Gael, die 20,9 Prozent (-4,6) erreichte. Auch die Grünen unterstützten diese bürgerliche Koalition.
  • Spanien: Die letzte spanische Parlamentswahl fand im Juli 2023 statt. Erstplatziert war die konservative Partido Popular, die 33 Prozent erreichte (+12). Sie strebte eine Koalition mit der weit rechts stehenden VOX-Partei an, die nach einem Minus von 2,7 Prozent allerdings nur 12 Prozent erreichte. Am Ende fehlten den rechten Parteien weitere Partner und entscheidende Mandate. So bildete sich stattdessen eine progressive Koalition unter der Führung der Sozialdemokraten, die mit einem Plus von 3,7 Prozent rund 31,7 Prozent und die zweitmeisten Stimmen erreichte. Regierungschef Pedro Sanchez blieb im Amt.
  • Polen: Acht Jahre lang war die nationalistische PiS-Partei an der Macht, ehe die Parlamentswahlen zum polnischen Sejm 2023 eine Wende brachten: Die PiS rutschte auf 35,4 Prozent herab – damit blieb sie zwar stimmenstärkste Partei, doch niemand wollte mit ihr regieren. Es bildete sich eine proeuropäische Koalition unter der Führung von Donald Tusks liberal-konservativen Wahlbündnis, das 30,7 Prozent (+3,3) und Platz Zwei erreichte; weitere Parteien der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialliberalen gehören der aktuellen Regierung an.

  • Belgien: Traditionell stehen in Belgien viele Parteien am Wahlzettel, was für knifflige Koalitionsverhandlungen sorgt. Nach der letzten Parlamentswahl 2019 ging die rechtskonservative, EU-skeptische Nieuw-Vlaamse Alliantie mit 16 Prozent und Verlusten als Erstes ins Ziel, gefolgt von der rechtspopulistischen Partei Vlaams Belang mit 12 Prozent. Beide schafften es jedoch nicht in eine Regierung – nach langen Verhandlungen bildeten Christdemokraten und liberale Parteien eine Regierung, der ab 2020 auch sozialdemokratische Parteien und die Grünen angehörten. Heuer im Juli gab es wieder Wahlen mit ähnlicher Reihung; die Verhandlungen laufen, doch erneut scheitern die weit rechts stehenden Parteien an Koalitionspartnern.

  • Rumänien: Die linkspopulistische PSD gewann bei der Parlamentswahl 2020 mit knapp 29 Prozent die Wahlen, konnte sich aber in Verhandlungen kein Regierungsamt sichern. Es bildete sich stattdessen eine Koalition aus drei konservativen bzw. liberalen Parteien, die Platz zwei, drei und fünf belegten.

Schwedens starke Sozialdemokraten in Opposition

Österreich hatte lange die Tradition, dass es sehr wenige, aber große Parteien gab – Koalitionsvarianten waren daher einfach gestrickt. In vielen Ländern Europas ist das Parteiensystem dagegen schon länger pluralistischer, was auch zur Bildung sogenannter Wahllisten bzw. Blöcken führte. So waren in Schweden die Sozialdemokraten bei der Wahl 2022 als einzelne Partei mit 30 Prozent mit Abstand die bestplatzierte Einzelpartei; ein Zusammenschluss aus vielen rechten Parteien gab jedoch diesen die Regierungsmehrheit, die auch von den nationalistischen Schwedendemokraten gestützt wird.

Blickt man in die jüngere Vergangenheit, finden sich noch mehr Beispiele für Regierungen abseits der Erstplatzierten. In Tschechien wurden die Parlamentswahlen 2010 zwar von den Sozialdemokraten gewonnen, es bildete sich jedoch eine Dreierkoalition aus konservativen Parteien. Ein Jahr später führten wiederum die slowenischen Wahlen dazu, dass sich unter der Führung von Janez Janša eine Koalition aus Nationalkonservativen bildete, obwohl die linksliberale Pozitivna Slovenija großer Wahlgewinner war.

Und freilich ist auch Österrech eine Koalition jenseits des Erstplatzierten nicht fremd: 1999 siegte die SPÖ mit über 33 Prozent, es kam aber zu Schwarz-Blau – FPÖ und ÖVP hatten beide 26,91 Prozent, mit etwas mehr absoluten Stimmen für die Freiheitlichen.

Kickl beschimpfte andere Parteien als “Einheitspartei” und “Swingerclub” – nach der Wahl ist er auf sie angewiesen

Betrachtet man Europas Regierungen zeigt sich außerdem: Rechtspopulisten und Nationalisten schaffen am ehesten in Ländern den Sprung an die Regierungsspitze, in denen ein Mehrheitswahlrecht herrscht. Auf diesem Wege konnte etwa Silvio Berlusconi in Italien lange regieren, nun tut dies Giorgia Meloni mit ihren rechtspopulisischen Fratelli d’Italia. Auch in Ungarn gilt eine eigene Art des Mehrheitswahlrechtes, das Viktor Orban und seine Fidesz begünstigt und von dieser auch immer wieder reformiert wurde.

Österreich hat jedoch ein klassisches, reines Verhältniswahlrecht. So mag es zwar kommen, dass die FPÖ (nach derzeitigen Umfragen) bei etwa 27 Prozent liegen wird, damit aber noch lange keine Mehrheit erreicht hat. Kickl wäre in jedem Fall auf Partner angewiesen. In den vergangenen Jahren hat er diese permanent vor seinem Publikum als “Einheitspartei” bezeichnet und sie sogar als “Swingerclub” geschimpft, weil sich die restlichen Parteien in der Vergangenheit immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammenfanden. Man darf gespannt sein, wie stark die Kickl-FPÖ nach der Wahl an die Türen dieses Clubs klopfen wird.

Autor

  • Thomas Hoisl

    Ist seit April 2024 bei ZackZack. Arbeitete zuvor u.a. für "profil". Widmet sich oft Sicherheitsthemen oder Korruptionsfällen.

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