Die Mehrheit der Menschen weiß, dass wir umkehren müssten. Wir müssten regulieren, der Wirtschaft zeigen, dass sie nicht alles mit uns machen kann. Aber wir sind mehrheitlich zu faul dazu geworden etwas zu verändern. Demokratie aber ist ständige Veränderung.
Der Busbahnhof von Banská Bystrica liegt unter einer riesigen Shopping Mall. Hier, wo eine verwirrende Menge von Fernbussen die marode Bahn ersetzen, mit der man nach vielfachem Umsteigen und mit Verspätung von einer Kleinstadt in die andere kommt, macht eine Shopping Mall noch Sinn, weil Menschen eben auf Busse warten. Wo sie nicht an Verkehrsknotenpunkten stehen, liegen viele Malls schon brach, es finden sich oft keine Unternehmen mehr, die die riesigen Verkaufsfläche mieten wollen. Denn die meisten Menschen haben die Sinnlichkeit des Kaufen ganz dem sechsten Sinn überlassen: Die shoppen online und können nur erahnen, wie ein Artikel wirklich aussieht, sich anfühlt, riecht. In den meisten Fällen wird er ohnehin zurückgesendet.
Hier aber riecht es. Und hier ist etwas zu sehen. Ein Kid neben mir auf der Bank stopft Pommes in sich hinein. Es riecht nach altem Frittierfett. Ein Pärchen steht neben uns. Sie umarmen sich zwar, aber sie und er schauen dabei auf ihr Smartphone und wischen mit dem Daumen darauf herum. Der Bus hat Verspätung. Ich bekomme gerade einen Luxusartikel geschenkt: Zeit. Ich nehme die Füllfeder und schreibe das alles auf.
Anlass für tausend Ärgernisse
Die schönste Dinge, die es auf der Welt gibt, kosten nichts: Liebe, Freundschaft, Zeit und Nicht-Erreichbar-Sein. Man braucht keinen gut sortierten Fachhandel, keine Shopping Mall und keinen Webshop, um sie zu kaufen. Sie zu kriegen ist aber schwer. Das liegt vor allem daran, dass man sie schätzen muss, wenn man sie hat. Man muss sie erkennen und achten und darf sie nicht wie den Inhalt des bestellten Pakets behandeln, wo das Aufreißen vielleicht nicht Freude macht, der Artikel aber, selbst wenn er einmal behalten wird, irgendwo in der Ecke landet.
Liebe, Freundschaft, Zeit und Nicht-Erreichbar-Sein sind Luxusartikel. Sie sind mehr als goldene Uhren, die man ohnehin nicht mehr braucht, um festzustellen, wie spät es ist. Sie sind mehr Wert als das Auto, mit dem man im Stau steht und in dem man beim Parkplatzsuchen mehr Zeit verbringt, als beim tatsächlichen Fahren. In Auto-Werbungen sieht man immer eine leere Straße, auf der ein einziges Auto fährt und niemals jemanden beim Parkplatzsuchen. Das Auto ist ein atavistischer Fetisch geworden und kein Luxus mehr. Auch Flugreisen, Kreuzfahrten, Urlaubsfotos, Kundenkarten und eine Milliarde sinnloser Apps sind kein Luxus, sondern nur mehr Anlass für tausend Ärgernisse und Überforderung.
Demokratie
Ich habe einen Luxus-Artikel vergessen: die Demokratie. Sie ist uns, wie jeder Artikel durch Gewohnheit selbstverständlich geworden. Wir glauben heute, dass es reicht, wenn die Demokratie in der Verfassung steht, als würde sie dadurch schon leben. Und wir glauben, die Demokratie würde sich mit dem Kapitalismus vertragen; ja, es gibt sogar politische Strömungen, die behaupten, dass der Kapitalismus erst die Demokratie bringt.
Doch wer einmal mit privaten Fluglinien, Reiseanbietern, Mobilfunkanbietern oder anderen in Konflikt gerät, der erfährt am eigenen Leib, dass heute längst nicht mehr der Staat die Staatsbürger subaltern behandelt, sondern private Firmen ihre Kunden. Die Menschen stecken in tausenden Fallen, monatlich bezahlen sie für Abos, die sie irgendwann gedankenlos abgeschlossen und seither nie wieder benutzt haben.
Nein sagen
Die Mehrheit der Menschen weiß, dass wir umkehren müssten. Wir müssten regulieren, der Wirtschaft zeigen, dass sie nicht alles mit uns machen kann, sondern dass sie dem Menschen dienen soll. Wir müssten Nein sagen und verzichten, um Dinge wieder loszuwerden, die uns schaden, die uns zumüllen. Aber wir sind mehrheitlich zu faul dazu geworden etwas zu verändern. Demokratie aber ist ständige Veränderung.
Im Lauf der Geschichte haben Menschen immer wieder gegen die Übel gekämpft, die sie unterdrückt haben. Sie sind gegen den Adel aufgestanden, der es für selbstverständlich hielt, aufgrund von Familienzugehörigkeit über andere zu herrschen und sich von ihnen zu nehmen, was er wollte. Und sie haben der Herrschaft des Adels ein Ende bereitet. Sie sind dagegen aufgestanden, dass sie politisch nicht mitbestimmten durften, dass ihre Arbeits- und Lebensbedingungen nicht festgelegt waren und sie ausgebeutet wurden.
Aufstehen
Heute stehen wir vor einer neuen Notwendigkeit des Aufstands. Das kommt unerwartet, weil wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs davon ausgehen, dass Demokratie, Friede und Wohlstand ohne unser Zutun immerwährend seien. Das kommt unerwartet, weil es uns gut geht und wir alles haben, was wir brauchen. Wir verlieren aber gerade etwas sehr wichtiges: Freiheit.
Die Übermacht des Konsums hat Privatfirmen und Privatpersonen so mächtig und reich werden lassen, dass sie heute über uns bestimmen. Einst haben sie die demokratischen Parteien, die an der Regierung waren, hofiert. Heute sind sie so mächtig, dass sie die Regierungen erpressen: Sie wollen keine Steuern zahlen, sie wollen Sonderbedingungen, die Regeln der Demokratie sind ihnen für das dauernde Wachstum, das ihr Ziel ist, zu eng. Heute sehen wir wie Privatfirmen und Privatpersonen die USA an den Rand eines Bürgerkriegs bringen und bald vielleicht sogar einen Bürgerkrieg auslösen. Sie wollen einen bestimmten Wahlausgang; kommt er nicht, werden sie zu den Waffen greifen, wie sie es schon einmal getan haben.
Manipulationsmedien machen das Rennen
Doch auch in Österreich bestimmen bereits große Konzerne, was politisch zu geschehen hat. Sie haben die Medien dieses Landes in fester Hand. Sie vertreiben unabhängige und kritische Redakteurinnen und Redakteure, die nicht bei der Kasperliade ihrer Propaganda mittun. Es ist sehr mutig, dass Sonja Sagmeister gegen den ORF aufsteht. Es ist gut für die Staatsbürger, die damit erfahren, was wirklich in einem so großen, sogenannten Informationskanal vor sich geht.
Die meisten Menschen wandern ohnehin auch hier ab und ziehen sich in ihr Smartphone zurück. Dort informieren sich die meisten nur in jenen Medien, die das sagen, was sie hören wollen. Eine Redaktion braucht man in der Oligarchie nicht mehr. Die Manipulationsmedien machen das Rennen. Sie alle ziehen und zerren an der Demokratie. Sie ziehen an der Wahrheit und verzerren sie für ihre Propaganda.
In Wahrheit manipulieren sie und überwachen sie uns: Wir selbst geben ihnen dafür alle Daten. Sie wissen, wann wir wo sind, was wir suchen, was wir kaufen, mit wem wir in Kontakt sind. Was sie nicht wissen: Wen wir lieben, womit wir Zeit verbringen, wenn wir nicht erreichbar sind, was ich gerade mit der Füllfeder aufschreibe und dass es auf dem Busbahnhof von Banská Bystrica nach Pommes stinkt. Das ist Luxus.