Vor genau vier Jahren wurde Wien von einem jihadistischen Terroranschlag erschüttert. Was hat sich seit damals im extremistischen Milieu getan? ZackZack sprach dazu mit Moussa Al-Hassan Diaw vom Verein Derad. Er spart dabei nicht mit scharfen Tönen gegenüber der Politik.
Seit 2015 ist der Verein Derad die bekannteste Adresse, wenn es um Deradikalisierungsarbeit in Österreich geht. Die rund ein Dutzend Mitarbeiter des Vereins werden in der Regel auf Weisung der Gerichte tätig. Nach Verhaftungen oder Verurteilungen extremistischer Personen zieht man sie neben der klassischen Bewährungshilfe hinzu. Während sich letztere um Fragen wie Job und Ausbildung kümmert, arbeitet Derad an den extremistischen Narrativen und Ideologien, denen die Betroffenen anhängen. Zumeist passiert dies in wöchentlichen Gesprächssitzungen – hinter Gittern oder auch auf Bewährung.
Über die Jahre betreute der Verein dadurch rund 700 Personen, derzeit sind es etwa 100 Klientinnen und Klienten. Der große Teil davon kommt aus dem islamistischen Spektrum, aber auch Rechts-und Linksextreme sowie sogenannte Staatsverweigerer sind darunter. Zum vierten Jahrestag des Wiener Terroranschlages traf ZackZack den Leiter von Derad, Moussa Al-Hassan Diaw, zum Gespräch.
ZackZack: So ziemlich jeder, der sich am 2. November 2020 in Wien aufgehalten hat, kann sich wohl noch an diesen Abend erinnern. Wie haben Sie die Geschehnisse damals erlebt?
Moussa Al-Hassan Diaw: Am Abend des Anschlages haben wir die ersten Nachrichten von einigen unserer Klienten über Telegram bekommen. Die konnten uns bereits als Erstes sagen, wer der Angreifer ist, dass man ihn genau erkennt. Wir wussten dann, dass einer unserer Mitarbeiter ihn betreute. Mit unserer Kontaktperson vom damaligen LVT Wien haben wir bis in die Früh Kontakt gehalten und immer wieder Informationen weitergegeben und geteilt.
Der Attentäter Kujtim F. war bei Derad in Betreuung. Hat man die Warnzeichen nicht bemerkt?
Unser Kollege hat genau dokumentiert, dass diese Person weiterhin radikalisiert ist, sonst hätte sie die Deradikalisierung für beendet erklärt und auch dem Gericht so mitgeteilt. Es gilt der Grundsatz, den wir schon oft in Interviews gesagt haben: solange jemand nicht deradikalisiert ist und weiterhin an eine extremistische Ideologie glaubt, ist er auch bereit, solche Dinge in die Tat umzusetzen. Was uns fehlte, waren Informationen über den versuchten Munitionskauf. Diese Informationen hatte das BVT, aber wir nicht. Es gab keinerlei Austausch bei solchen Fällen. Das hat sich bis heute kaum geändert.
Der damalige Innenminister – und heutige Bundeskanzler – hat in einer ersten Reaktion die Deradikalisierungsarbeit damals heftig kritisiert. Wie empfanden Sie diese Aussagen?
Derad war schockiert und hoch verärgert. Es wurde versucht, die Schuld dem Justizministerium und unserem Verein zuzuschieben. Der damalige Innenminister Nehammer wollte die Versäumnisse des BVT, welches den Täter beobachtete und Informationen über den versuchten Munitionskauf hatte, dem Justizministerium und Derad als Fehler anheften. Auf eine Entschuldigung der Vorwürfe warten wir bis heute. Im Übrigen hat das damals zu massiven Angriffen auf uns geführt und zeitweise sogar zu Polizeischutz.
Sie haben damals gesagt, es mangelt an Austausch mit dem Verfassungsschutz, vor allem dem BVT. Hat sich das in der DSN gebessert?
Nein, die Zusammenarbeit mit dem BVT bzw. der DSN wurde leider sogar noch schlechter. Bis ins Jahr 2018 war das übrigens anders, da gab es auch mit dem Innenministerium, dem BVT, einen Austausch. Was aber damals und heute gut funktioniert, ist die Zusammenarbeit mit dem LVT Wien, das ja mittlerweile LSE heißt. Hier wurde der Kontakt verbessert und ausgebaut.
Woran machen Sie denn die Unterschiede zwischen dem Wiener Verfassungsschutz und der übergeordneten Behörde auf Bundesebene fest?
Meinem Eindruck nach arbeiten beim LSE Wien erfahrene Beamte, die die Szene durch den persönlichen Austausch im Rahmen der Prävention, aber auch durch Ermittlungen, bestens kennen. Einer der Beamten kannte sogar die Akteure der 1990iger Jahre aus der Sahaba Moschee noch. Sie arbeiten im Feld. Auf Bundesebene hatten wir hingegen mehr mit Quereinsteigern zu tun, die bei unseren Seminaren für Beamte immer wieder beiwohnten, aber an die Erfahrungen der Kollegen in Wien nicht rankamen. Pauschalisieren kann man natürlich nicht, aber im Bund wirken die Akteure teilweise karriere- und machtbewusster und verfügen vor allem über gute politische Beziehungen.
Das Umfeld des Wien-Attentäters bekam teils hohe Haftstrafen, viele wurden zumindest kurzzeitig festgenommen. Hat es durch das Vorgehen der Behörden eine Zerschlagung bzw. eine Abschreckung in der Szene gegeben?
Teilweise ja, aber generell hat es nichts an dem Phänomen geändert. Die heutigen 13, 14-jährigen KlientInnen wissen nicht was ihnen blüht. Sie kennen nur das Bild des Attentäters und sehen ihn teilweise sogar als Helden. Auch einige seiner Freunde aus dem 23. Bezirk sind weiter radikalisiert und teilweise aggressiv und haben alles versucht, um die Termine bei Derad nicht wahrzunehmen.
Nun ist heuer im August der mutmaßliche Taylor Swift-Terrorplot aufgeflogen, der 19-jährige Hauptverdächtige ist inzwischen bei Ihnen in Betreuung. Können Sie etwas zu seiner Radikalisierung sagen und wie diese passiert ist?
Die Radikalisierung erfolgte in seinem persönlichen Freundeskreis. Gemeinsam unter anderen jungen Leuten, die auch befragt worden sind oder in Untersuchungshaft sitzen. Eine andere Person ist auf freiem Fuß und kennt dessen Umfeld, wodurch wir zusätzlich Einsichten gewinnen konnten. Eine Rolle spielten auch Telegramkanäle, die teilweise bis heute bestehen. Mehr kann ich dazu nicht sagen, da das ein laufendes Verfahren ist.
Der Hauptverdächtige ahmte den Wien-Attentäter offenbar nach, jedenfalls optisch. Wie äußert er sich zu ihm?
Er hat sich dazu geäußert, allerdings dürfen wir wegen dem laufenden Verfahren nichts dazu sagen.
Man hat den Eindruck, dass das Thema Jihadismus wieder stärker geworden ist. Sehen Sie das in Ihrer Arbeit auch so?
Ja, es gibt immer mehr Personen, die sich dahingehend radikalisieren. Und es sind besonders junge Menschen. Diese Jugendlichen kennen sich alle untereinander. Wir stellen fest, dass sie alle irgendwie entweder persönlich vernetzt sind oder über verschiedene Internetplattformen miteinander verbunden sind. Über Telegram, WhatsApp, Instagram und TikTok. Dort teilen sie bestimmte Inhalte, Fotos, Videos oder unterhalten sich in Chatgruppen, vor allem im deutschsprachigen Raum. Einige Klienten geben uns immer wieder Einsicht und zeigen uns ihr Handy. Zuletzt hat uns eine Minderjährige ihre fast 60 Telegramkanäle und Gruppen gezeigt.
Was sieht man dort?
Köpfungsvideos, Ermordungen, verschiedene Gewaltszenen und terroristische Propaganda. Aber auch Chats wo über das Familienleben, über Ehe und dergleichen gesprochen wird. Überhaupt ist das momentan wieder ein Trend, dass 13-15-jährige Mädchen 15-18-jährige Burschen “heiraten”, oder was sie jedenfalls als Ehe bezeichnen. Da werden irgendwelche Eheverträge gemacht, in denen sie ihre Szenenamen verwenden. Die Eltern sind meistens nicht darüber informiert oder nehmen das als Freundschaft wahr. Dahinter steckt aber eine starke sektenähnliche Bindung in terroristischen Netzwerken.
Wo bleiben in diesem Treiben die Eltern?
Die Eltern bleiben meist rat- und hilflos zurück. Von manchen Stellen werden sie auch beruhigt und es wird ihnen gesagt, das würde sich sicher bald legen und sei nur eine Phase. Die Eltern, meist die Mütter, kämpfen um die Kinder aber die Terrorsekten-Netzwerke sind stärker. Zudem lügen die Kinder ihre Eltern an und schaffen es, vieles zu verschleiern. Gerade im Online-Kontext ist das ja einfach möglich. Oft setzt sich das nach der Verurteilung fort. Wir persönlich mimen gegenüber den Klienten nicht den verständnisvollen Freund, sondern gehen da auf eine inhaltliche Konfrontationen und beschönigen nichts.
Wie Sie schon sagten, klingt vieles davon mehr nach Sekte als nach Religion. Welche Rolle haben heutzutage radikale “analoge” Imame und Moscheen?
Die gibt es schon noch, wobei das mehr Gebetsräume sind, als richtige Moscheen. Bekannt sind uns dazu etwa drei Einrichtungen in Wien. Vor allem eine Einrichtung im achten Wiener Bezirk wird immer wieder auffällig. Jugendliche schildern uns, dort in ihre radikal-politische Weltanschauung eingeführt worden zu sein. Man rät dort auch vom Besuch anderer Moscheen ab, besonders das Islamische Zentrum Wien in Floridsdorf wird gehasst. Daneben existierten Videos auf Instagram und TikTok, in denen gewarnt wurde, die “Moschee der Heuchler” zu besuchen. Der Grund ist die positive Haltung gegenüber der Demokratie. Frauen und Männer sind dort auch unter Umständen im selben Raum bzw. gehen gemeinsam durch den Haupteingang, wie beim Tag der offenen Moschee.
Inwiefern ist islamistische bzw. jihadistische Radikalisierung ein migrantisches Problem?
Ja, das ist es sehr wohl auch. Es geht um Identität und eine identitätsstiftende Ideologie, die zudem verspricht, sich über andere Menschen erheben zu können und über sie zu triumphieren. Aber inzwischen gibt es auch viele autochthone Österreicher, die Teil dieser Terror-Sekten werden. Es geht eben am Ende nicht um Herkunft sondern um eine globale Ideologie, Hass auf den Westen, Juden, eben um transnationalen Terrorismus. Von Sozialromantikern mit der rosaroten Brille will das oft nicht gesehen werden. Es sind nicht nur Pubertätsprobleme, die sich bald legen.
Was ist der ideale Weg einer gelungenen Deradikalisierung? Wie kann diese gelingen?
Eine Deradikalisierung kann erfolgreich verlaufen, wenn die betroffenen Personen bereit sind, sich auf Inhalte einzulassen, die ihrer bisherigen extremistischen Ideologie entgegenstehen. Das ist ein mühsamer Reflexionsprozess. Man muss alternative Perspektiven annehmen, die im Gegensatz zu den Ansichten stehen, die man durch persönliche Gespräche, Vernetzung mit Gleichgesinnten, den Konsum von Videos oder Audio-Dateien und persönlichen Kontakten erworben hat. Die Konfrontation mit Gegenargumenten und alternativen Ansichten kann helfen, die bisherige Überzeugung als propagandistische Vereinfachung zu erkennen und somit den Weg für eine vollständige Abwendung von der Ideologie zu erreichen.
Es gibt jedoch auch Personen, die am Ende ihrer dreijährigen Bewährungszeit keine Verpflichtung mehr haben, an Terminen zur Deradikalisierung teilzunehmen. In einigen Fällen haben sie in dieser Zeit gezeigt, dass sie zu keiner ideologischen Abkehr bereit sind. Häufig stehen sie weiterhin unter dem Einfluss bestimmter Personen und sind in soziale Netzwerke eingebunden, die erheblichen Druck auf sie ausüben oder ihnen mit sozialer Isolation drohen, sollten sie sich distanzieren. Solche Bindungen können eine erfolgreiche Deradikalisierung erheblich erschweren, da die betroffenen Personen in einem Umfeld verbleiben, das ihre extremistischen Überzeugungen und Verhaltensweisen weiter unterstützt und stabilisiert.
Aber Erfolgsgeschichten gibt es?
Natürlich. Bei der Mehrheit der Personen gelingt entweder die Deradikalisierung oder zumindest eine Distanzierung. Die, bei denen eine Deradikalisierung gelungen ist, sind uns häufig danach noch persönlich verbunden. Das sind Personen, die manchmal sogar unsere Arbeit unterstützen, indem sie als authentische Zeugen ihrer Deradikalisierung bei Gesprächen mit radikalisierten Klienten anwesend sind und uns eben bei dieser Arbeit unterstützen.
Sie beklagten in früheren Interviews zu wenig Mittel für Ihre Arbeit. Wie sieht die Situation aktuell aus? Was wünschen Sie sich?
Finanziell bleibt die Lage prekär. Wir arbeiten auf Honorarbasis und auf Basis eines Rahmenvertrages mit dem Justizministerium. Da wurde uns 2019 schon versprochen, dass dieser in einen unbefristeten Vertrag umgewandelt wird – der natürlich trotzdem innerhalb einer Frist gekündigt werden kann. Stattdessen bekamen wir weiterhin nur befristete Verträge. Personen, die uns das einst zugesagt haben, sind mittlerweile nicht mehr im Ministerium und die neuen Ansprechpartner erleichtern unsere Arbeit nicht. In einigen Monaten läuft der aktuelle Vertrag wieder ab, wir stehen also alles andere als auf sicheren Beinen. Daneben gibt es auch keine Rechtsgrundlage dafür, dass die Arbeit mit den Klienten auf Bewährung bezahlt wird.
Die scheidende Justizministerin hätte das alles in der Regierungsperiode lösen können, es ist aber nicht passiert. Aber es gibt auch Positives: Mit der Wiener Kinder- und Jugendhilfe gibt es seit Kurzem eine vertragliche Vereinbarung und Föderung, damit wir nicht mehr nur ehrenamtlich arbeiten müssen. Hierbei geht es um Präventionsprojekte.
Titelbild: HERBERT PFARRHOFER / APA / picturedesk.com