Das geringere Übel ist für zukunftsweisende Politik zu wenig. Ob das bedeutet, auch zu Koalitionen Nein zu sagen, ist eine schwerwiegende Entscheidung. Diskutiert sollte sie aber werden.
Ich erinnere mich gut an den November 1992. Bill Clinton gewann die Präsidentschaftswahl in den USA und ich saß ein paar Tage nach den Wahlen in einer Runde von Menschen, die sich als 68er und frühe Aktivisten der Ökologie-Bewegung sahen. Lange hatten sie es abgelehnt, in US-Wahlkämpfen einen der Präsidentschaftskandidaten zu favorisieren. Sie waren alle Kritiker des Zweiparteiensystems in den USA. Manche von ihnen hatten sich noch in den 1980ern für die Nicht-Wähler in den USA ausgesprochen.
1992 änderte sich diese Stimmung. Klar wollte man nach acht Jahren Ronald Reagan und vier Jahren George Bush, der ja zuvor Reagans Vizepräsident gewesen war, eine Veränderung. Auch in den USA wollte eine Mehrheit diese Veränderung. Doch diese Veränderung war weitreichender. Ich hörte plötzlich Menschen, die diesen Standpunkt noch ein paar Jahre zuvor heftig kritisiert hätten, sagen: »Es kann nicht schaden.«
Rechts überholen
Heute wissen wir leider ganz genau, dass just Bill Clinton als Präsident Marktliberalisierungen umgesetzt hat, die sehr weitreichend waren. In diesem Punkt agierte er nicht nur, wie man es eigentlich von den Republikanern erwartet hätte, sondern überholt sie quasi rechts.
Und nicht nur Bill Clinton agierte so. Auch in westeuropäischen Ländern gab es sozialdemokratische oder sozialistische Regierungen, oder von Sozialdemokraten oder Sozialisten geführte Regierungen, die Privatisierungen und Marktöffnungen propagierten und durchführten, die für ihre Parteien noch zwanzig Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. Das Argument für all diese Regierungen war, dass sie die erstarkenden Rechtsparteien vom Regieren fern hielten. Das Argument war das geringere Übel.
Nicht mit dem Label des Sozialismus
Nun ist aber auch ein geringeres Übel ein Übel. Selbstverständlich muss man in Koalitionen Zugeständnisse machen, kann sein Programm nur teilweise umsetzen und kann bestimmte Forderungen aus dem Wahlkampf nicht umsetzen. Das kann aber nicht bedeuten, dass man dieses Programm völlig aufgibt. Ein Rechtsruck kann sich eben nicht nur rechts, sondern auch links abspielen. Und gerade in den 1990er-Jahren hat sich in den angeblich linken Parteien vielerorts ein eklatanter Rechtsruck abgespielt.
Auch gilt die Ausrede auf eine Koalition mit konservativen Parteien, in der Zugeständnisse eben dazugehören, nicht für die USA und Großbritannien. In den USA gibt es schon seit Jahrzehnten keine linke Partei mehr, die Aussichten auf Wahlsiege hätte. Dort hat sich die Pulverisierung der Sozialisten schon vor neunzig Jahren abgespielt. Der Schriftsteller Upton Sinclair, der wohl der aussichtsreichste nicht-republikanische Kandidat für das Amt des Governors of California war, hat 1934 sogar die Sozialistische Partei der USA verlassen, um für die Demokraten ins Rennen zu gehen. Doch die Presse und auch die damals mächtigen Studio-Bosse der Hollywood-Studios bekämpften ihn mit allen Mitteln. Sein politisches Engagement bleib ein Achtungserfolg. In seinem Buch I, Candidate for Governor spricht er aus, was heute weltweit common sense ist: Dass Politik der Gleichheit und Armutsbekämpfung nötig ist, aber mit dem Label des Sozialismus nicht durchsetzbar ist; und dass man diese Politik nur über strategischen Populismus durchsetzen kann. Das war im Jahr 1935.
Das allergrößte Übel
Heute stehen wir in Europa vor diesem Problem. Wohl haben manche der linken Parteien nach ihren Irrfahrten zu ihrem Programm zurückgefunden. Die SPÖ unter Andreas Babler ist ein Beispiel dafür. Es ist schon als ein kleines Wunder zu erachten, dass man hier ein eindeutig sozialdemokratisches Programm im Wahlkampf gehört hat und dass auch die klare Zuwendung zu einem ökologischen Programm, die etwa die Wiener SPÖ noch vor sich hat, gemacht wurde. Ein Wahlerfolg geht sich damit aber nicht aus. Und nun steht die SPÖ vor einer Koalition mit einer oder gar zwei konservativen Parteien, die mit schauderhaft populistischen Sprüchen wie Keine neuen Steuern um sich werfen.
Das geringere Übel heißt in Österreich: Ein Regierung ohne FPÖ. Soweit waren wir ja schon einmal. Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz haben sich dann für das größere Übel entschieden. Das allergrößte Übel daran war der Schaden, den sie in der eigenen Partei angerichtet haben: ein programmatischer Rechtsruck, der nicht mehr revidiert wird.
Realitätsverweigerung
Das geringere Übel reicht politisch nicht aus. Es ist eine negative Strategie. Und Regierungspolitik braucht immer eine positive Strategie, das Aussprechen von Zielen, die letztlich umgesetzt werden oder deren Umsetzung zumindest begonnen wird. Mit Parteien, die Das Festhalten am Verbrenner und Keine neuen Steuern propagieren, kann man aber nicht reformieren, da diese Sprüche die Reformunwilligkeit der Politik offen aussprechen. Realitätsverweigerung ist heute Mainstream.
Dazu kommt, dass der Rechtsruck der Medien heute ganz offen vor sich geht. Was wir heute in den USA sehen, war 2016 so noch nicht offen sichtbar. Heute ist offen davon die Rede, die Demokratie zu überwinden. Eine Ansage, die noch vor Jahren undenkbar war. Eine Regierung des geringeren Übels wird die rechten Ideen immer als zu radikal einstufen, aber sich tendenziell von ihnen beeinflussen lassen. Seit fünfundvierzig Jahren geben die rechten Ideen die Tendenzen in der Politik vor.
Fraktionierung und Boulevard
Die Linken – wenn es sie überhaupt gibt – sind heute schon durch teilweise obskure Splitterparteien fraktioniert. Auch das ist eine Tendenz, die die Medien mit all ihrer Macht verstärken. Dornauer, Fußi, Doskozil, aber auch Wagenknecht – sie alle gehen der kapitalistischen Verführung von Personenkult und Boulevardisierung auf den Leim, anstatt sachpolitische Arbeit in Gremien zu machen und auch innerparteilich Demokratie zu leben. Wer zur Kronen Zeitung geht, um die Sozialdemokratie zu kritisieren, ist kein Sozialdemokrat. Und die SPÖ muss sich überlegen, endlich Verwarnungen auszusprechen und bei ihrer Nicht-Einhaltung Parteiausschlussverfahren zu beginnen.
Das geringere Übel wird das kommende Übel nicht verhindern. Wenn die USA in den nächsten vier Jahren weltweit das Vorbild dafür werden, dass es keine Ökologie-Politik und keine Politik für soziale Gleichheit braucht, wird sich dieser Effekt weltweit auswirken. Eine Umkehr ist nur mit einem tatsächlichen Paradigmenwechsel möglich. Ob das bedeutet, auch zu Koalitionen Nein zu sagen, ist eine schwerwiegende Entscheidung. Diskutiert sollte sie aber werden. Das geringere Übel ist für zukunftsweisende Politik, die ernsthaft die Probleme der Menschheit angeht, jedenfalls zu wenig.