Hannes Werthner ist Begründer der weltweiten Strömung des Digitalen Humanismus. Der ehemalige TU-Professor und Dekan eklärt im Interview, warum Zivilgesellschaft und Politik Einfluss auf die technologische Entwicklung nehmen sollten.
Herr Werthner, wann haben Sie das letzte Mal einen ganzen Tag lang kein Handy oder keinen Computer verwendet?
Hanner Werthner: Am Sonntag.
Tatsächlich, so kürzlich erst?
Ja, Ich glaube aber, dass das sehr ungewöhnlich ist. Das ist nur deshalb so gewesen, weil ich halb im Bett gelegen bin, weil es mir nicht ganz so gut gegangen ist.
Die Frage hat natürlich den Hintergrund, dass man mittlerweile fast gezwungen ist, an der digitalen Welt teilzunehmen. Mit welchen Folgen?
Die „digitale Welt“ ist von der „realen“ nicht mehr zu unterscheiden. Die Grenzen sind verschwimmend. Gleiches gilt auch für die „virtuelle Welt“. Der virtuelle Raum ist ein öffentlicher – noch öffentlicher als unser physischer Raum. Die Dienste im virtuellen Raum und das Internet und seine Dienste haben sich zu öffentlichen Gütern entwickelt, wo man gezwungen ist, mitzumachen.
Das geht von der täglichen Versorgung, über die politische Partizipation bis zur öffentlichen Diskussion. Während der physisch-öffentliche Raum scheinbar von nationalen Regierungen und herkömmlichen Medien dominiert wird, ist der öffentlich-digitale in der Hand von Online-Plattformen wie Google und Facebook. Die bestimmen die Struktur und beeinflussen damit den Inhalt des öffentlichen Diskurses.
Die Machtkonzentration großer Technologiekonzerne ist einer der Hintergründe des Digitalen Humanismus, der von Ihnen begründet wurde. Um besser verstehen zu können was der Digitale Humanismus ist, muss man zuerst klären, was für Sie Humanismus bedeutet – und in weiterer Folge Digitaler Humanismus.
Ich trenne da nicht zwischen Humanismus und Digitalem Humanismus. Wir haben uns angeschaut wie sich die Welt auf Basis der digitalen Technologien entwickelt und welchen Einfluss wir auf die Gestaltung des Lebens haben.
Wichtig ist mir, dass es keinen Determinismus gibt, also dass nicht alles vorbestimmt ist, weder in ökonomischer, noch in technischer Hinsicht. Die Entwicklung der digitalen Welt ist auch nicht gottgegeben. Außer dem Menschen gibt es kein determinierendes Wesen. Hier kommt der Humanismus ins Spiel, der sagt: Wir sind die Agenten unseres Lebens. Wir – und nicht Konzerne und Technologien – sollten bestimmen, wie die Welt um uns aussieht und gestaltet werden sollte. Der Mensch hat die Freiheit und Verantwortung zu entscheiden. Diese Verantwortung nimmt ihm auch niemand ab.
Außerdem ist der Digitale Humanismus nicht gegen die Natur gerichtet. Es geht dabei um Nachhaltigkeit. Ein Aspekt ist ein kritischer Blick auf den Ressourcenverbrauch von modernen Technologien. Insofern ist der Digitale Humanismus ein Rahmenwerk um das Verhältnis zwischen Mensch, Gesellschaft, Natur und Technologie zu verstehen, sich einzumischen und dieses Verhältnis unseren Werten entsprechend zu gestalten.
Gab es bei Ihnen einen besonderen Erweckungsmoment, wo Sie sich gedacht haben: Wir müssen jetzt etwas tun – woraus dann der Digitale Humanismus entstanden ist?
Das ist eine lange und verwobene Geschichte, die mit meiner Studentenzeit beginnt. In der AKW-Bewegung hat die Auseinandersetzung mit Technologie schon angefangen. Ich hab‘ dann bereits in meiner Zeit als Assistent an der Uni Wien Seminare zu Informatik und Gesellschaft und Informatik und Frauen gemacht. Diese Themen haben mich begleitet.
Später war ich Dekan an der Fakultät für Informatik und hab‘ dann ein internationales Beratungsteam ins Leben gerufen. Daraus hat sich zunehmend die Frage ergeben „Was ist die Informatik und was machen wir da eigentlich?“ In diesem Team haben wir über unsere Verantwortung als Informatiker diskutiert. Im Jahr 2019 habe ich einen Workshop zum Digitalen Humanismus organisiert – noch in meiner Zeit als Dekan. Damals haben sich viele Leute mit diesem Thema auseinandergesetzt – ausgehend von der Informatik. Auch Philosophinnen, Juristen, Soziologinnen und Historiker.
Kommt die Verantwortung in den Machtzentren der Technologieentwicklung heute zu kurz?
Ja, die Frage ist aber: „Was können wir tun?“ Das kann nur auf einer politischen oder organisierten Ebene gelingen. Man kann beispielsweise die Gesetzgebung auf europäischer Ebene beeinflussen – das ist beim Digital Service Act, beim Digital Market Act und bei der KI-Gesetzgebung auch passiert.
Es gibt also eine Gestaltungsmöglichkeit durch den Menschen. Die Frage, die auf der Tagesordnung steht: Wie gehen wir mit der zentralen Macht großer Konzerne um? Das ist eine globale Frage, bei der Europa in einer schlechten Position ist.
Derzeit gewinnt man den Eindruck, dass die Machtkonzentration von globalen Technologiekonzernen vor allem aus den USA noch weiter zunimmt – Stichwort Künstliche Intelligenz. Ist diese Entwicklung gefährlich für Gesellschaft und Demokratie?
Das kann gefährlich werden. Deswegen machen wir Digitale Humanisten uns bemerkbar. Wir wollen Licht auf die Schattenseiten werfen. Aber wir wollen auch gestalten, nicht nur analysieren und diskutieren. Der Digitale Humanismus ist für die menschen- und naturgerechte Gestaltung von Technologien und gleichzeitig eine Bewegung, die sich gegen demokratiegefährdende Tendenzen einsetzt.
Welche Tendenzen sind denn besonders demokratiegefährdend? Können Sie da ein Beispiel nennen?
Dass man durch Filterblasen und Echokammern in Sozialen Medien bestimmte Meinungen forcieren und andere Meinungen abschwächen kann.
Ich will aber Soziale Medien nicht verteufeln. Diese bieten auch die Chance, sich an der Demokratie zu beteiligen, beispielsweise durch Bürgerinitiativen. Es geht darum, wie Technologien, wie Soziale Medien gestaltet sind und wer über diese Gestaltung bestimmt.
Immer öfter hört man, Menschen sind auch nur komplexe Maschinen. Andere sind der Ansicht, Maschinen funktionieren immer mehr wie der Mensch. Was sagt der Digitale Humanismus dazu?
Das eine ist die mechanistische Sichtweise, das andere die animistische.
Bei der mechanistischen wird der Mensch zu einem Teilchen eines riesigen Uhrwerks. Da gibt es keine Freiheit mehr. Da ist alles deterministisch vorgegeben. Der Digitale Humanismus sagt genau das Gegenteil: Der Mensch ist Agent seines Lebens und nicht Teil eines Uhrwerks.
Die animistische Sichtweise schreibt der Maschine menschliche Züge zu. Das wird auch im Design und Verkauf von Produkten sichtbar, wenn Roboter große Glubschaugen bekommen. Es sind aber immer Menschen, die Maschinen diese menschlichen Züge zuschreiben. Alles, was Maschinen bisher können, ist nicht vergleichbar mit menschlicher Intelligenz. Sie simulieren Teile der menschlichen Intelligenz.
Der Mensch ist keine Maschine, die Maschine ist kein Mensch. Das heißt aber nicht, dass Maschinen nicht schon jetzt Leistungen erbringen können, die unsere übersteigen. Das sieht man zum Beispiel bei Diagnosetools oder bei der Rechenkapazität.
Manche Menschen sind der Meinung, dass Maschinen eines Tages alle menschlichen Fähigkeiten übersteigen werden. Da kommt dann immer wieder die Frage auf, wie wir uns vor diesen Maschinen schützen können. Angenommen, eine Maschine hat die Aufgabe, das Leben auf der Erde zu sichern. Dann kann es sein, dass die Maschine zu dem Schluss kommt: „Schuld an allem Übel ist der Mensch“. Dann ist der logische Schluss davon: „Töten wir den Menschen! Weil dann überlebt die restliche Natur.“
Was sagen Sie als Digitaler Humanist dazu?
Der Mensch ist für mich das Kriterium des Lebens in einer sozial gerechten Welt – Technik soll dem dienen und nicht umgekehrt.
Heißt das, dass der Mensch gänzlich Mensch bleiben soll und nicht mit der Maschine verschmelzen soll?
Bereits jetzt gibt es Verbesserungen technischer Natur am Menschen – beispielsweise Prothesen. Da bin ich nicht dagegen, solange menschliches Leben dadurch verbessert wird.
Wann wird es kritisch?
Wenn die Maschine über den Menschen entscheidet oder menschliche Entscheidungen ersetzt. Auch Journalisten müssen sich die Frage stellen, wie Künstliche Intelligenz ihren Arbeitsplatz verändern wird. Wenn Journalisten APA-Meldungen eins zu eins abdrucken, werden sie schneller ersetzbar sein.
Elon Musk und Co. sprechen im Zusammenhang mit technologischer Entwicklung gerne über Effizienz. Stellen diese Milliardäre die falschen Fragen?
Ich würde die Tech-Pioniere und -milliardäre nicht in einen Topf werfen. Es besteht ein Unterschied zwischen Bill Gates und Elon Musk. Musk ist Anhänger einer bestimmten autoritären Ideologie, Gates nicht.
Effizienz heißt: Den meisten Output mit dem wenigsten Input zu erreichen. Effiziente Systeme haben kaum Raum für Puffer und Resilienz in Krisensituationen. Dies sah man während der Corona-Epidemie. Deshalb bin ich ein Gegner dieses Effizienzbegriffes. Dieser zielt nur auf kurzfristige Gewinne mit möglichst geringen Investitionen ab.
Interessanterweise ist das Internet kein effizientes, sondern ein resilientes System. Es ermöglicht von allen Knoten mehrere Wege von A nach B, nicht nur einen einzigen. Damit ist es stabiler. Die Ursache dafür ist, dass es seinen Ursprung beim Militär hat.
Italien gilt als Zentrum des klassischen Humanismus. Ist das Zentrum des Digitalen Humanismus Wien?
Ja.
Warum wissen wir dann in Österreich und Wien so wenig darüber?
Weil das Thema hier bislang weitgehend ignoriert wird, und weil wir es wahrscheinlich auch nicht gut kommunziert haben. Aber: Die Stadt Wien bekennt sich zum Digitalen Humanismus. Und unsere zwei Bücher, “Introduction to Digital Humanism” und “Perspectives on Digital Humanism” wurden bislang über eine Million Mal heruntergeladen.
Hannes Werthner war Professor für Informatik an der TU Wien und von 2016 bis 2019 Dekan an der Fakultät für Informatik. Im Dezember erscheint sein Buch auf Deutsch zum Digitalen Humanismus.
Link zum Buch Introduction to Digital Humanism
Link zum Buch Perspectives of Digital Humanism
Titelbild: Hannes Werthner bei den Wiener Vorlesungen, Credits: Stadt Wien, https://www.youtube.com/watch?v=ey2Y4UuXG8Y