Eine der Eigenarten der Mitte-Links-Parteien ist: Sie haben einerseits zu viele Botschaften – und zugleich zu wenige.
Es liegt vor unser aller Augen ziemlich klar, warum Kamala Harris gegen Donald Trump verloren hat, und weshalb ganz generell gerade rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien überall auf der Welt Wahlerfolge feiern. Die gesellschaftliche Gereiztheit gehört zum Strauß dieser Gründe und Ursachen, die Abstiegsängste und Verwundungserfahrungen Unterprivilegierter zählen ebenso dazu, zudem das Empfinden, dass es bei uns ökonomisch den Bach runter geht. Die einen, die sagen „It’s the Economy, Stupid“, haben recht, aber genauso haben sie auch unrecht, denn kulturelle Fragen spielen ebenso eine Rolle und die Schwäche der progressiven Parteien, eine klare, gewinnende Botschaft zu senden.
Weder können US-Demokraten, europäische Sozialdemokraten und andere den herrschenden Unmut auf ihre Mühlen lenken – dazu sind sie zu „etabliert“ oder zu vernünftig, selbst wenn sie nicht regieren –, aber auch mit einem stabilitätsorientierten Sicherheitsversprechen können sie nicht punkten, denn dafür gehören Wandel und Fortschritt doch zu sehr zu ihrer DNA. Auch das Wokeness-Thema spielt hinein, wenn etwa viele potentielle Mitte-Links-Wähler das Gefühl haben, in den progressiven Milieus grassiere der Wahnsinn .
Nur das Schlimmste verhindern?
Und natürlich ist die „Verteidigungs-Falle“ nicht unerheblich, also die Falle, in der man sitzt, wenn man den Eindruck erweckt, nur den Status Quo gegen Angriffe der Autoritären zu verteidigen. Die Botschaft „Das Schlimmste verhindern“ ist einfach nicht attraktiv.
Ich habe seit dem Trump-Wahlsieg gefühlt hunderte Analysen und Thesen-Texte gelesen. Natürlich hat kaum einer Gedanken berührt, die man noch nie gehört hat, aber dennoch waren viele auch spektakulär gut. Viele rückten Aspekte ins Zentrum, die für die USA genauso gelten wie für unsere Gesellschaften, andere wiederum eher US-Spezifika, wie den Umstand, dass Trump trotz seines Rassismus bemerkenswert gut bei schwarzen Männern abgeschnitten hat und unter Latino-Männern sogar die Mehrheit gewann. Aber so ein Spezifikum ist das auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass die FPÖ heute selbst unter Migranten relativ viele Anhänger hat und neuerdings sogar von muslimischen Einwanderern gewählt wird.
Viele Einwanderer, die sich durch harte Arbeit etwas geschaffen haben, finden die Parolen gegen die jüngsten Einwandererwellen („Kriminelle, Junge, Banden…“) gar nicht so rassistisch, sondern eher: im Ton überzogen, in der Sache ja nicht falsch.
Einwanderer, die Rassisten wählen
Das ist unter Latinos in New Jersey so – und unter türkischstämmigen Geschäftsleuten in Wien Favoriten nicht extrem anders. Und die Mitte-Links-Parteien können dieses Empfinden nicht einmal adressieren, denn wenn sie es versuchen – etwa mit der Botschaft, dass die fleißigen Einwanderer zu uns gehören, aber wir mit einer kleinen Gruppe aggressiver Straßenkids durchaus ein Problem haben –, dann würden sie sofort einen Streit mit ihrem linken Flügel riskieren. Abgesehen davon, dass man mit keinem Argument durchkommt, das mehr als zwei Sätze braucht. Somit kann man kaum komplexere Botschaften vermitteln.
Neben den vielen Analysen wie diesen, die auf Dilemmata hinwiesen, wie sie fast alle progressiven Parteien der westlichen Welt kennen, begegnete mir auch eine längere Betrachtung in der New York Review of Books, die das Augenmerk auf einen der wesentlichsten Gründe legt. Die Rechten haben nicht nur klare, simple Geschichten zu erzählen (etwa „Wir, die Anwälte der einfachen Leute, gegen die Eliten“), sie geben gewissermaßen auch ein ganz einhelliges Bild ab. Das aber gelingt den progressiven Parteien selten, auch, weil sie eine Allianz aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen schmieden müssen, weil sie einerseits gegen den Status Quo sind und mit Botschaften des „Wandels“ operieren, und sie andererseits oft die Regierungspolitik verkörpern. Diese Unklarheit machen sie dann mit ganz vielen gescheiten, durchaus unterstützenswürdigen Forderungen wett.
Oder besser: Sie versuchen es. Aber es gelingt nie, weil es ein hoffnungsloses Unterfangen ist.
Zu viele Botschaften – und zugleich zu wenige
„Man könnte argumentieren, dass Harris sowohl zu viele Botschaften verkündete – Abtreibungsrechte, Schutz der Demokratie, industrielle Wiederbelebung, Unterstützung für die Ukraine und die NATO, Preise für verschreibungspflichtige Medikamente, Wohnungsbau, gleichzeitige Loyalität gegenüber Israel und Mitgefühl für das Leid der Palästinenser, die Schaffung einer ‚Chancengesellschaft‘ – als auch zu wenige“, formulierte Autor und NYR-Redakteur Fintan O‘Toole. Zu viele gute Pläne und Vorschläge, die außerdem bisweilen den Nachteil haben, dass sie sich widersprechen, als auch „zu wenige“, in folgendem Sinn: Es fehlt an dem einen, Gewinnenden und Unverwechselbaren, wofür man steht.
Es ist wie unendlich viele Puzzleteile, die sich aber zu keinem Gesamtbild fügen wollen, zu keinem „Image“. Jedenfalls zu keinem guten.
Steht man für die liberalen Mittelschichten, denen die plurale Demokratie ein Anliegen ist, für die jungen Menschenrechtsaktivisten, denen der Respekt vor allen Minderheiten wichtig ist, für die Arbeitnehmer, denen stabile Prosperität wichtig ist, oder für die vom Abstieg bedrohte Arbeiterklasse, die wütend ist, weil sie sich nicht ausreichend anerkannt fühlt?
Für alles zusammen? Das ist natürlich eine lobenswerte Absicht, aber erweist sich als verdammt schwierig. Nicht zuletzt, weil man für jede dieser Gruppen nicht nur eine unterschiedliche Sprache braucht, sondern auch unterschiedliche Körpersprache und Gestik. Man repräsentiert ja Milieus auch durch Habitus, aber der Habitus dieser Bevölkerungssegmente ist extrem unterschiedlich.
Für die US-Demokraten, so Fintan O‘Toole, „besteht die Aufgabe darin, eine Story und eine Bewegung zu schaffen, die eine Alternative bieten kann, die klar und kohärent genug ist“, um einen Gegenpol zu Trump, Musk und der wütend-radikalen MAGA-Bewegung zu bilden.
„Inflation“ als Chiffre für Härten, Ungerechtigkeit und Ohnmacht
Forderungen, Politikkonzepte und sachliche Kritik reichen dafür jedenfalls nicht aus. Denn alles ist heute auf irgendeine Weise auch Kultur, und wahrscheinlich war es nie anders. Jede einzelne Forderung, jede Kritik, jede Idee muss sich in eine Geschichte einfügen. Nehmen wir doch nur die rechten Populisten. Wenn die, nur als Beispiel, die Entwicklung der Energiepreise anprangern, dann fügt sich das immer auch in ihre größere Erzählung ein, die etwa lautet: „Sie haben Euch betrogen.“ Man kann dieses Storytelling „Erzählung“ nennen oder „Weltbild“ oder wie das zuletzt so modern geworden ist, dass man das Wort schon nicht mehr hören kann: „Narrativ.“ Im Grunde egal, es ist leicht verständlich: Eine Kritik, die nur allein dasteht, steht für nichts. Erst wenn sie sich in eine klare, kohärente Grundbotschaft fügt, wird sie wirksam sein.
Deswegen ist auch „die Inflation“ so ein Thema, das eine große Rolle spielt. Die Biden-Regierung – und damit auch Kamala Harris – hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass die Inflation schnell unter Kontrolle gebracht wurde, dass die Regierung die Gewerkschaften unterstützt hat, dass gerade Arbeiter im Niedriglohnsektor gute Lohnzuwächse verzeichnen konnten, dass die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie schon lange nicht mehr, und dass daher die höheren Preise gar kein so großes Problem seien, wenn dem gestiegene Einkommen gegenüberstehen. Aber abgesehen davon, dass das für ausreichend viele Menschen nicht stimmt, ist das ökonomische Argument gar nicht das Zentrale am scheinbar ökonomischen Argument. Die Menschen erleben: Alles ist teurer geworden und bleibt auch teuer. Dass die Inflation zurückgeht – also der weitere Preisauftrieb zu Ende gegangen ist – macht ja das höhere Preisniveau nicht rückgängig.
„Inflation“ ist in gewissem Sinne nur ein Code. „Insbesondere die Inflation dient als Chiffre für ein viel breiteres Spektrum von Wahrnehmungen, nicht nur für unmittelbare Not, sondern auch für Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit“, so Fintan O‘Toole. „Inflation“ ist in weiterem Sinne ein Indiz für alle Härten, denen sich „normale Amerikaner“ heute ausgesetzt sehen.
Dass es „letztlich primär um Ökonomie“ geht ist also wahr und falsch zugleich. Natürlich sind verdüsterte ökonomische Aussichten und materielles Unsicherheitsgefühl negative Wahlmotive, so wie ein Aufschwung und Wohlstandsgewinne ein positives Wahlmotiv sind. Aber ein mindestens so großes Problem ist das „kulturelle Dilemma“, das darin besteht, dass die progressiven Parteien keine klare, zusammenhängende Geschichte zu erzählen haben. Sie kommen gerne mit einer langen Einkaufsliste wichtiger Forderungen daher, was das Problem aber noch verschärft – weil es viel zu viele sind und die Wähler sie sofort vergessen, kaum dass sie geäußert wurden.
Wer sich an den Wahlkampf in Österreich erinnert, wird da vieles wiedererkennen.
Titelbild: Miriam Moné