Mittwoch, Dezember 11, 2024

Gesicht geben, Gesicht nehmen

Die Welle, die Madame Pelicot ausgelöst hat, rollt. Durch sie wurden die Täter in all ihrer Erbärmlichkeit und Feigheit, in all ihrem verirrten Machismo entblößt und der Öffentlichkeit vorgeführt. Währenddessen wurde die Wiener Ausstellung, die konkrete Geschichten jener Frauen zeigte, die häusliche Gewalt erleiden mussten, zerstört.

Gewalt gegen Frauen, vor allem sexuelle, hat mit der überlebensgroßen Heldin Gisele Pelicot ein Gesicht bekommen, das sie großmütig, großzügig und unerschrocken all den anderen Frauen, denen sexuelle Gewalt angetan wurde leiht, damit sie sich nicht nur nicht schämen müssen, sondern damit, wie sie sagt, die Scham die Seiten wechselt. Dieser Satz wird das Schicksal vieler noch Jahre nach dem unfassbaren Pelicot-Prozess weiter prägen. Die Welle, die Madame Pelicot ausgelöst hat, rollt. Durch sie wurden die Täter in all ihrer Erbärmlichkeit und Feigheit, in all ihrem verirrten Machismo und Unwürdigkeit entblößt und der Öffentlichkeit vorgeführt – so, wie auch die Videos vorgeführt wurden, die sie bei ihren Verbrechen zeigen, weil Gisele Pelicot es so wollte.

Stolz statt Scham

Auch ihren Namen will sie nicht ablegen. Ihre Kinder, ihre Enkel tragen diesen Namen, sagte sie. Und sie wolle nicht, dass sie sich des Namens schämen müssten. Ganz im Gegenteil. Sie können alle unendlich stolz auf diesen Namen sein, denn er steht für eine unglaublich starke, wenn auch schwer verwundete Kämpferin für die Gerechtigkeit. Eine Frau, die mit allen Preisen dieser Welt für ihre Leistung und ihren Mut bedacht werden müsste, eine Frau, die, ihr Gesicht wahrend, zur Ikone einer neuen Frauenbewegung wurde. Das ist die eine Seite.

Zerstörte Kunst als Mahnmal

Die andere Seite ist, wenn im Schutze der Anonymität eine Ausstellung, die der Gewalt an Frauen gewidmet ist, keine elf Tage nach Eröffnung zerstört wird. Die Fotos: Eingerissen, eingetreten. Die dazugehörenden Texte: unleserlich gemacht. Wenn Löcher in den Exponaten klaffen, die Alltagsgegenstände und Orte jener Frauen zeigen, die von ihren Partnern oder Verwandten Gewalt erfuhren, so zeugt das von einem lächerlichen Versuch, ihre Geschichten und ihre Worte aus der Welt zu schaffen, sie verstummen zu lassen.  So unerträglich scheint es für manche, wenn das, was ist, nicht nur in Zahlen und Tabellen und Polizeiberichten gezeigt wird, sondern konkret, und damit näher geht, emotional besser nachvollziehbar wird – und dadurch erschreckender. Eigentlich ist das, was mit den Exponaten passiert ist, eine beeindruckende Weiterentwicklung, work in progress, man sollte diese geschundenen Kunstinstallationen permanent dort, wo sie zerstört wurden, belassen. Gewalt gegen Frauen. Primär und sekundär.

Und die Fakten, die kalten und abstrakten Fakten? Die bleiben bisher leider auch eine permanente Installation. Seit zehn Jahren ungefähr gleich, so lange wurde da nämlich genauer hingesehen.

35,7 Prozent aller Frauen in Österreich sind zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit Opfer von Gewalt geworden oder damit bedroht worden (laut jener Studie, die anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen in Brüssel verkündet worden ist). Parallel dazu bezifferten die Österreichischen Frauenhäuser die Zahl der Femizide 2024 mit 27. Das sind 27 zu viel.

Autor

  • Julya Rabinowich

    Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.

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