Warum ist es eigentlich positiv, wenn jemand stets „konsequent“ seine Ziele verfolgt? Ein Plädoyer für die Geschmeidigkeit.
Als vor einigen Wochen eine Reihe prominenter österreichischer Journalistinnen und Autoren auf aufsehenerregende Weise ihre Aktivitäten auf Elon Musks Plattform X (sorry, ich sag gewohnheitsmäßig immer noch Twitter) einstellten und gemeinsam auf die neue Plattform Bluesky übersiedelten, gab es die erwartbare rechte Nörgelei, es gab sogar regelrechtes Rumgeheule, und manchmal kam auch folgender Vorwurf:
Es sei „inkonsequent“, den Twitter-Account nur auf passiv zu stellen, vielleicht weiter im Geheimen mitzulesen, aber den Account nicht vollständig zu löschen.
Meine intuitive Antwort darauf war, dass das Leben ja sowieso nichts ist, durch das man mit Konsequenz gut durchkommt.
Aber was ist das eigentlich für eine seltsame Anforderung, dass man immer „konsequent“ sein müsse?
Das ist eine knifflige Frage, alleine darum, weil mit Begriffen hantiert wird, die ja eindeutig moralisch aufgeladen sind. „Konsequent sein“ hat wie selbstverständlich einen positiven Beiklang. „Inkonsequenz“ ist dagegen intuitiv mit etwas Negativem assoziiert.
Die Welt ist voller Zielkonflikte
Und gerade solche scheinbaren „Selbstverständlichkeiten“ sollten uns besonders alarmieren, denn etwas, was schon durch die Wahl von sehr negativen oder sehr positiven Attributen ganz offenbar von vornherein, ohne Nachdenken, klar ist, wird gewohnheitsmäßig von kritischer Befragung verschont. In solchen Fällen können sich dann falsche Annahmen besonders leicht halten.
Unsere Welt, das Leben, aber auch insbesondere die moderne Welt sind doch etwas, wo man meist mit Konsequenz und scheinbaren Eindeutigkeiten nicht weit kommt. Jetzt mal abgesehen vom obigen Beispiel. Die Welt ist meist nicht manichäisch oder ganz bipolar, also so, dass völlig klar ist, was richtig und was falsch ist. Genauer gesagt, es ist nicht nur unklar (was ja auch heißen könnte, dass es richtig und falsch zwar gibt, aber es nicht immer klar erkennbar ist), es ist sogar so, dass das Richtige ein bisschen falsch sein kann und das Falsche ein bisschen richtig und wir deshalb stets einem Tohuwabohu gegenüberstehen.
Ökonomen, Soziologen, Politiker sprechen dann gerne von Zielkonflikten. Zielkonflikte sind in der modernen Welt die Regel, weshalb man mit „Konsequenz“ selten weit kommt. Ein Zielkonflikt zeichnet sich dadurch aus, dass man mehrere Ziele erreichen will, sie sich aber gegenseitig widersprechen. Deshalb muss man sie gut ausbalancieren, was nichts anderes heißt, als auf schlaue Weise inkonsequent zu sein.
Das Leben ist ein Balanceakt
Es fängt ja im privatesten Leben an. Man will etwa seine Kinder umhätscheln und in absoluter Sicherheit wissen, man will aber auch, dass sie flügge werden. Also lässt man die Kleinen alleine in den Park, vielleicht schon wenn sie fünf Jahre alt sind. Man bekommt beim ersten Mal vielleicht einen halben Herzinfarkt, aus Angst, sie könnten von einem Auto überfahren werden, aber man weiß zugleich, dass es notwendig ist, sie nach und nach in ein autonomeres Leben zu entlassen. Die allermeisten Menschen schaffen es am Ende ganz gut, diesen Zielkonflikt auszubalancieren.
Immer wieder stehen wir vor der Aufgabe der „Quadratur des Kreises“, vielleicht sogar täglich.
Ein Unternehmer will möglicherweise ganz viel Kohle als Gewinn einsacken, er würde seinen Beschäftigten am liebsten nur Hungerlöhne bezahlen, er weiß aber möglicherweise auch, dass er ordentliche Gehälter bezahlen muss, um seine Leute zu halten. Für ihn selbst sind seine Beschäftigte nur Kostenfaktoren, die Beschäftigten aller anderen Unternehmen sind für ihn aber Konsumenten. Er hat daher einen Nutzen davon, wenn die anderen Unternehmer ihren Beschäftigten gute Löhne bezahlen. Betrachtet man diesen Zielkonflikt systemischer, dann haben alle Unternehmer zusammen einerseits das Interesse, dass die Löhne niedrig sind, als auch, dass sie möglichst hoch sind. Was natürlich nicht gut zusammen geht. Anders gesagt: Die Löhne dürfen nicht so hoch sein, dass die Produktionskosten explodieren, aber sie müssen hoch genug sein, dass die Konsumnachfrage floriert. Auch ein Zielkonflikt, der ausbalanciert werden muss. Wir haben in Gestalt der Sozialpartnerschaft sogar eine institutionelle Form für die Balancierung dieses Zielkonfliktes gefunden.
Auf schlaue Weise inkonsequent!
Oder nehmen wir einen Politiker, der sehr links ist, und die Welt und die Gesellschaft entsprechend seiner Werte verändern will. Wir würden annehmen, dass der dann eine sehr linke Wahlpropaganda macht. Andererseits: Wenn er so links auftritt, dass er keine Mehrheiten zustande bringt, weil Wähler und Wählerinnen abgeschreckt werden, die nicht ganz so links sind wie er – dann wird er überhaupt keines seiner Ziele erreichen. Er wird sich vielleicht dafür entscheiden, moderater aufzutreten, damit er bei Wahlen eine Mehrheit gewinnt und dann zumindest einen Teil seiner Ziele verwirklichen kann. Ist das dann wirklich „inkonsequent“? Wäre es „konsequent“, auf verlorenem Posten zu bleiben? Natürlich nicht. Davon hätte niemand etwas. Höchstens könnte der Politiker weiter mit dem Charakterattribut herumlaufen, „kompromisslos“ oder „unbeugsam“ zu sein, was womöglich ein angenehmes Gefühl und schönes Selbstbild ist, aber niemandem etwas bringt.
Doch der Kompliziertheiten noch nicht genug, ist das noch lange nicht das Ende vom Lied: Möglicherweise wird dieser Politiker, wenn er sich nur zu sehr mäßigt, schlußendlich mit leeren Händen dastehen und seine Glaubwürdigkeit verloren haben. Es ist also immer ein komplexer Balanceakt, einem Seiltänzer unter dem Dach der Manege ähnlich. Nur ohne Netz.
„Immer radikal, niemals konsequent“
Ganz persönlich gefällt mir Walter Benjamins Apercu seit Jahrzehnten, der, auf sich selbst gemünzt, meinte, er sei „immer radikal, niemals konsequent“.
Die gemeinsame Systematik hinter all diesen anekdotischen Beispielen ist natürlich, dass jedes Handeln vielleicht ein, zwei, drei intendierte Folgen hat und zugleich drei, vier oder fünf unintendierte Nebenfolgen. Meist weiß man nicht genau, wie sich das addieren oder summieren wird, oft weiß man sogar vorher nicht einmal über die nicht-intendierten Nebenfolgen Bescheid.
Überwiegen Nutzen oder Schaden? Leider weiß man das im vorhinein oft nicht, wie die Bilanz dann am Ende aussehen wird. Um bei unserem Twitter-Beispiel zu bleiben. Geht man von Twitter weg, gibt man Reichweite auf, aber Reichweite in einer sehr feindlichen Umgebung. Tut man es gemeinsam mit einem großen Tusch baut man vielleicht Reichweite auf einem Portal auf, das nicht von Haus aus schon sehr parteiisch agiert. Werden in der Bilanz aus Vor- und Nachteilen die Vorteile überwiegen oder die Nachteile? Wer weiß das schon genau im Voraus. Am besten man behält eine labile Balance und bleibt beweglich.
Aber wie schon angedeutet, ich erzähle Ihnen diese Geschichte nicht, weil ich dieses Twitter-Gezänk so bedeutend finde (tatsächlich ist es eigentlich eine recht uninteressante Sache), sondern weil ich vielmehr diesen Mythos des Konsequenten für sehr fragwürdig halte.
Konsequente Leute: Obsessiv, nervig, dogmatisch
Natürlich spricht sehr viel dafür, in allen Handlungen seinen Werten treu zu bleiben – aber es spricht auch viel dafür, in den Handlungen flexibel und beweglich zu bleiben, wenn man etwa viele Menschen für die eigenen Werte gewinnen will. Konsequent, aber isoliert zu sein, ist bekanntlich keine besonders ratsame Strategie.
Der Kult der Konsequenz ist umso bemerkenswerter, da wir aus dem realen Leben wissen, dass übertrieben „konsequente“ Leute häufig sehr unangenehme Zeitgenossen sein können. Oft texten sie einem obsessiv zu, sind dogmatisch, gehen allen auf die Nerven und sind streitsüchtig, sobald jemand nicht alle Details ihrer Überzeugungen teilt. Leute, die in die Fänge von Sekten geraten, sind beispielsweise oft sehr „konsequent“. Wer stets konsequent ist, neigt ja oft dazu, die Welt in Gut und Schlecht einzuteilen. Dieser Manichäismus hilft, eine unübersichtliche Welt für sich selbst übersichtlich zu halten. Vielleicht ist der Kult der Konsequenz gar nicht so sehr verschiedenen von den Verschwörungstheorien, die ja auch vor allem den Vorteil haben, die große Unübersichtlichkeit möglichst zu vereinfachen. In den Verschwörungstheorien gibt es die Bösen, die Verschwörer, und die armen Opfer (die große Mehrheit), und alles was geschieht folgt einem fiesen Plan der Bösen, den man nur nicht am ersten Blick erkennt. Ihr Vorteil ist also: Man weiß immer ganz klar, woran man ist. Und wenn einem etwas widerfährt, gibt es wenigstens einen Täter, den man beschuldigen kann. Außerdem gehört man zu den Eingeweihten, die die Verschwörung durchschauen.
Konsequenz ist oft nur ein anderes Wort für Rigidität, fehlendes Gespür für Ambivalenzen und mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Herausforderungen des Realen.
Hütet Euch vor den „Unbeirrbaren“
Deswegen geht Konsequenz so leicht nach hinten los. Auch die Woke-Sekte ist ja nicht deshalb oft so kontraproduktiv, weil sie falsche Ziele verfolgt. Denn die Ziele sind meist absolut unterstützungswürdig, etwa, dass niemand diskriminiert werden soll, dass auch jene, deren Verwundungen man bisher unaufmerksam ignorierte, Beachtung finden sollen; dass jene, die bisher eher kaum zu Wort kamen, auch gehört und angemessen repräsentiert werden sollen. Das Problem sind ja nicht die Ziele, sondern der konfrontative Stil, die Rigidität, die manichäische Aufteilung der Welt in Opfer, Gute (die totalen Allys) und die Täter und damit ein politischer Stil, der isoliert und nur die Gegner stärkt. Auch hier führt Konsequenz nur dazu, dass man die eigenen Ziele nicht erreicht, dass man sehr oft sogar jenen schadet, denen man zu nutzen vorgibt. Statt kleine, allmähliche Fortschritte zu erreichen, wird den Reaktionären ihre Sache leicht macht.
Eigentlich ist es, betrachtet man die Dinge von allen Seiten, recht erstaunlich, dass die „Konsequenz“ heute noch in so gutem Licht dasteht. Schließlich haben sich alle Totalitarismen immer einem Kult der Konsequenz verschrieben, weshalb in autoritär-ideologischen Regimes ja auch „Unbeugsamkeit“, „unerbittlich“, „eiserne Konsequenz“ zum Wortschatz gehörten, mit denen allerlei Grausamkeiten gerechtfertigt wurden. „Erbarmungslosigkeit“ und „Entschlossenheit“ gehörte ja beispielsweise zu den Lieblingsbegriffen von Lenin, der spätere Personenkult hat ihn mit Charakterattributen wie „energisch“ und „unbeirrbar“ verbunden.
Im Grunde gibt es wahrscheinlich verdammt wenige Beispiele in der Geschichte, in denen rigide Konsequenz irgendwelche erfreulichen Folgen gezeitigt hat.