Montag, Januar 20, 2025

Der Verfall des öffentlichen Lebens

Die aktuellen Nachrichten zeugen von der scheinbaren Intimität der Gesellschaft und dem Verfall der Öffentlichkeit. Unser Land muss wieder zu denken und zu debattieren beginnen. Nur dann ist die Demokratie noch zu retten.

René Benko fährt trotz Insolvenz mit seinem Motorboot auf dem Garda-See herum. Gegen FPÖ-Abgeordneten Herbert Kickl wird wegen Falschaussage ermittelt, seine Immunität wurde aufgehoben; gegen andere FPÖ-Mandatare wegen eines möglichen Verstoßes gegen das NS-Verbotsgesetz. Die Kündigung der ORF-Journalistin Sonja Sagmeister – die laut ihren Angaben erfolgte, weil man sie nach ihrer Weigerung, einem ÖVP-Minister im Interview nur Gefälligkeitsfragen zu stellen, nicht mehr sachgemäß als Wirtschaftsredakteurin verwenden wollte – wurde von einem Gericht aufgehoben.

Das ist meine Zusammenfassung der aktuellen Österreich-Nachrichten der letzten Stunden. Zum Glück befinde ich mich gerade in einer sehr distanzierten Phase – distanziert dem übermäßigen Genuss von Nachrichten gegenüber. Alle paar Wochen brauche ich diese Distanz, weil ich mich sonst zuviel aufrege, weil meine Arbeit darunter leidet und weil der Konsum von Nachrichten auch eine Gefahr ins sich birgt. Medien wollen natürlich jeden Tag interessant sein und – je weiter sich die Medienlandschaft boulevardisiert – »Aufreger« bringen, mehr oder weniger wahre, manchmal gänzlich erfundene Geschichten, die aber unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und hier liegt die erwähnte Gefahr: Die skeptische und reflektierte Haltung, die politisches Denken braucht, wird erschüttert. Wir tendieren dazu, einer Verzerrung aufzusitzen.

Scheinbare Intimität

Förderlich ist dieser Verzerrung die scheinbare Intimität und die Betonung der Personalisierung dieser Art von Nachrichten. Besonders im Boulevard wird darauf Wert gelegt, über Personen nur bei voller Namensnennung zu schreiben, möglichst große Fotos von ihnen anzudrucken und ihnen nachzustellen, um viel über sie berichten zu können, das mit der eigentlichen Sache nichts zu tun hat. In einer raffinierten Umkehrung dieser Personalisierung, hilft der Boulevard aber heute auch den Herrschenden, Probleme zu verniedlichen und wegzureden. Da gibt es nie strukturelle Mängel, sondern immer nur ein »schwarzes Schaf«, einen »Bösewicht«, der alleine die »Schuld« an Missständen trägt.

Richard Sennett hat das in »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens« so ausgedrückt: Wir wissen, dass Macht und Herrschaft mit nationalen und internationalen Interessen, mit ethnischen und Klassengegensätzen, mit Konflikten zwischen Regionen und Religionen zu tun haben. Aber wir handeln nicht nach diesem Wissen. […] Der Lokalismus und die lokale Autonomie werden zum politischen Credo, als nähmen Machtverhältnisse umso menschlichere Züge an, je intimer der Raum ist, in dem sie wahrgenommen werden.

Nebel

Mag sein, dass Sennetts Erkenntnisse kaum in das Denken der Bevölkerung eingedrungen sind. In das Handeln der PR-Abteilungen von Parteien und Politikern und die Praxis der Medienmacher haben sie sehr wohl Eingang gefunden. Es ist eine Kraft, die uns wegziehen soll, weg von der Quelle eines Problems, an der wir stehen und über seine Lösung nachdenken – und hin zu einem Nebenschauplatz. – Fast hätte ich nun »Nebelschauplatz« geschrieben, und das wäre nicht so falsch, denn die politische Nebelgranate kennen wir ja nun seit Jahren sehr gut.

Nicht viel anders, aber zumindest scheinbar logischer, argumentieren heute viele sogenannte Qualitätsmedien. Sie legen uns nahe, »realistisch« zu bleiben und nichts »Unmögliches« zu fordern. Das heißt umgekehrt, dass bereits geschehenes Unrecht zur Normalität gemacht, dass Fehlentwicklungen, die die normative Kraft des Faktischen bereits zur Gewohnheit und damit zur »Normalität« gemacht haben, zu einer Realität gehören, die nicht mehr veränderbar ist. Gerade aber die Fähigkeit, sich die Gesellschaft als veränderlich und veränderbar vorzustellen, macht den grundsätzlchen Teil von Politik aus.

Menschliche Züge

Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, in der das Bewundern von Reichen und ihrer Autos und Boote normal ist. Aber es gibt eine andere Welt. Eine Welt, in der man die Wahrheit aussprechen kann: René Benko ist ein Nichts. Er hat nichts und kann nichts, vor allem nicht wirtschaften. Letzteres hat er schon bewiesen. Dass Österreich seit Jahren Reichen- und Millionärsförderung betreibt und damit Geld, das der Gemeinschaft gehört und mit dem die Gemeinschaft auch Sinnvolles anstellen könnte, in das Ausland wegschenkt, wo es in Privatstiftungen landet, ist nicht normal. Es ist undemokratisch. Und es ist veränderbar. So wie die staatliche Förderung von Boulevardmedien kann man es morgen abstellen. Wenn man will.

René Benko wird niemals arm sein. Das weiß auch er genau. Er tanzt nun auch noch auf der Nase seiner Wohltäter, der Steuerzahlenden, herum und er will mit all dem Medienaufmerksamkeit, wo es nichts mehr zu berichten gibt. Der Mann ist uninteressant. Das ständige Berichten über seine Motorbootfahrten zeigt, dass Sennett eben recht hat, wenn er sagt, dass wir heute so tun, als nähmen Machtverhältnisse umso menschlichere Züge an, je intimer der Raum ist, in dem sie wahrgenommen werden. Benkos menschliche Züge zeigen seine Verachtung für die Menschen in diesem Land. Die Öffentlichkeit aber handelt nicht. Sie ist gelähmt.

Gelähmte Öffentlichkeit

Nicht anders ist es im Fall der Journalistin Sonja Sagmeister, einer mutigen Frau, die gerade im Alleingang etwas Wichtiges für unser Land tut. Man kann es nicht hoch genug schätzen. Aber der Mut einer Personen kann nicht die Notwendigkeit einer aktiven Öffentlichkeit ersetzen.

Freilich muss auch hier nichts anderes passieren, als das, was wir längst wissen. Seit den zwei früh abgebrochenen Kanzlerschaften von Sebastian Kurz haben wir es erlebt, dass Ministerinnen und Ministern der ÖVP im ORF nur Gefälligkeitsfragen gestellt wurden. Es ist so evident, dass der, der es leugnet, die Bevölkerung damit ein zweites Mal für dumm hält. Sie ist aber nicht so dumm, dass sie das nicht weiß.

Demokratie braucht Öffentlichkeit

Indem Grüne und FPÖ den türkisen Kandidaten Weißmann zum ORF-Chef gemacht haben, haben sie ihrer Partei geschadet – vor allem aber der Öffentlichkeit in diesem Land. Viele Programme des ORF sind heute nicht mehr anzuschauen und uninteressant. Und ich sage das nicht, weil ich den ORF hasse, sondern im Gegenteil, weil ich ihn liebe. Ich bin mit ihm aufgewachsen, ich habe ihm meine kulturelle und politische Bildung zu einem Teil zu verdanken und ich zahle sehr gerne meine Beiträge, um einen guten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu haben. Wenn mir aber die Sendung »Im Zentrum« – ein Debattierklub für Konservative und Rechtspolitiker – vorgesetzt wird, Nachrichten, die nur aus ÖVP-Spins bestehen und Vera Rußwurm und Harry Prünster, die sogar Wahlwerbung für die ÖVP machen, dann kann ich den ORF nicht lieben und auch nicht brauchen.

In wünsche mir sehr, dass es hier zu Einsicht und Korrekturen kommt und dass man endlich den Stiftungsrat mit parteifreien Persönlichkeiten beschickt und nicht aus seiner Zusammensetzung eine weitere Schlacht der Parteipolitik macht. Der ORF war sicher einmal einer der besten Sender der Welt. Das könnte er auch heute sein. Seine Kulturberichterstattung wäre fantastisch, wenn man die Menschen, die dort arbeiten, machen ließe und ihnen mehr und gute Sendezeit gäbe. Da man sie aber nicht lässt und alle, die nicht so denken, wie man es will, mobbt und kündigt, drückt man ihre Geringschätzung auch noch öffentlich aus. Der Lokalismus, von dem Sennett spricht, muss überwunden werden, wenn wir uns mit unserer Zeit ernsthaft befassen wollen. Die Demokratie braucht eine vitale, kulturelle und politische Öffentlichkeit.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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