Kümmert euch um Wirtschaft und Prosperität, dann kümmert sich das Budgetdefizit schon um sich selbst! Ein Weckruf.
Der härteste Brocken bei den Regierungsverhandlungen wird mit Sicherheit das Budget und die längerfristige Sanierung der öffentlichen Haushalte. Da prallen Lobbys aufeinander, aber auch unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien. Und natürlich kommen manche Schlaumeier prompt mit den simplen Rezepturen des Hausverstandes daher.
Der Hausverstand, der etwa meint, man könne ja nur ausgeben, was man eingenommen habe, oder mit dem Gemüt der berühmten schwäbischen Hausfrau, dass man sparsam wirtschaften müsse, wenn man Wohlstand vermehren will.
Heute weiß schon fast jedes Kind, dass ein Staat und ganze Volkswirtschaften etwas anders funktionieren als das Haushaltsbuch der schwäbischen Oma. Aber das schützt nicht davor, dass Ideologen dennoch immer wieder mit ihren Phrasen daherkommen, und es schützt auch nicht vor falschen Reflexen.
Im Gegenteil: Die naheliegenden Reflexe – dass man jetzt sparen müsste – können alles noch viel schlimmer machen.
Österreich ist also fast „pleite“, hört man jetzt, im Budget fehlen über die kommenden Jahre 18 oder gar 24 Milliarden (je nach Rechnung und Schätzung), das Defizit sei horrend, es könnte bei 3,5 Prozent oder gar 4,2 Prozent liegen.
Ohne Zweifel: Die ÖVP hat in den beiden vorangegangenen Regierungsperioden Milliardengeschenke verteilt, ohne an die Gegenfinanzierung zu denken. Jetzt muss repariert werden, was hier kaputt gemacht wurde.
Freilich muss man schon auch einmal fragen: Was genau ist das Problem? Ein Budgetdefizit von 4,2 Prozent klingt natürlich total arg, jeder würde da zustimmen, wenn man aber nur die Frage stellt: „4,2 Prozent wovon eigentlich?“ – dann würden wahrscheinlich schon die meisten Kommentatoren ins Stottern kommen. Die Medienkonsumenten erst recht.
Die Stagnation ist das Problem – nicht das Defizit
Denn das heißt: 4,2 Prozent der Wirtschaftsleistung, also des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Da sollte ja sogleich auffallen, dass es hier zwei Variablen gibt, die unmittelbar aufeinander bezogen sind – nämlich das Defizit der öffentlichen Haushalte und das Wachstum und die Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft. Wäre die Wirtschaftsleistung höher, wäre das Defizit in Prozent sofort niedriger.
Kurzum: 4,2 Prozent Defizit kann also sowohl heißen, dass der Staat zuviel ausgegeben hat, als auch, dass die Wirtschaftsleistung zu gering ist. Tatsächlich stagniert die österreichische Wirtschaft seit 2019, ja, das BIP-Pro-Kopf hat sogar abgenommen (grob gesagt: Die Wirtschaftsleistung und damit der Wohlstand ist in den vergangenen fünf Jahren gleichgeblieben, wir sind aber mehr geworden, was ebenfalls heißt, dass wir im Durchschnitt ärmer geworden sind in der letzten halben Dekade).
Wir sehen also sofort: Das niedrige Wachstum ist das Problem, nicht das Budgetdefizit. Denn dieses ist nicht zuletzt eine Folge des niedrigen Wachstums.
Das ist aber noch nicht das Ende des Liedes. Stagniert die Wirtschaft, ist das Defizit nicht nur in Prozent-Begriffen niedriger. Denn es stagnieren damit ja die Einkommen, etwa der Unternehmen oder der privaten Haushalte, und folglich hat der Staat auch niedrigere Steuereinnahmen. Auf der anderen Seite hat er aber auch automatisch höhere Ausgaben, weil es etwa mehr Arbeitslosigkeit und mehr Insolvenzen gibt. Das Defizit ist dann nicht nur relativ – in Prozent – höher, sondern auch in absoluten Zahlen, also in Milliarden Euro.
Mit Sparen kann man nicht sanieren
Von John Maynard Keynes, dem berühmtesten Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts, stammt der schlagfertige Ratschlag an die Politik: „Kümmert Euch um die Arbeitslosigkeit, dann kümmert sich das Budget schon um sich selbst.“
Soll heißen: Die Politik kann das Budget gar nicht durch Sparpolitik sanieren, sondern nur, indem sie die Wirtschaft in Gang bringt, dafür sorgt, dass es Prosperität und damit weniger Arbeitslosigkeit gibt – und wenn sie das tut, dann werden auch die Budgetprobleme verschwinden.
Wir sind heute natürlich in einer etwas anderen Situation als in den 1930er Jahren, auf die Keynes mit dieser Formulierung abzielte. Aber die grundsätzlichen Zusammenhänge sind gleichgeblieben.
Aus Krisen kann man sich nicht heraussparen, sondern nur herausinvestieren.
Eine Abwärtsspirale nach unten
Denn die Ausgaben, die der Staat streichen kann, um seine Budgets in Ordnung zu bringen, sind auf der anderen Seite Einnahmen, die jemand anderem dann fehlen.
Wo immer etwas gekürzt werden mag, etwa bei Pensionen, bei Förderungen für Investitionen der Unternehmen, bei den Sozialleistungen, bei der Kultur, in der Bildung, in den Schulen und Universitäten – alles das sind Einnahmen, die andere dann nicht haben.
Private Haushalte werden folglich entsprechend weniger konsumieren, Unternehmen entsprechend weniger investieren, was dann sofort zusätzlich das Wachstum bremst, und auch langfristig an Prosperität kostet. Denn die Investitionen, die heute nicht getätigt werden, oder die Ausgaben, die dem Bildungssystem nicht zur Verfügung stehen haben zusätzlich zu den hemmenden Wirkungen für die Konjunktur von heute und morgen auch noch ihre desaströsen Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Aussichten übermorgen.
Deshalb kann der Staat durch Sparpakete keine Budgets in Ordnung bringen. Das zeigt alle Erfahrung. Kürzt er die Ausgaben, produziert er nur niedrigere Einnahmen, und es ist ein Wettlauf nach unten, bei dem nie das erhoffte Ergebnis erzielt werden kann.
Denn jeder Euro, den er spart, ist ein Euro, den ein Konsument nicht ausgeben kann. Die Unternehmen, die deshalb weniger an Konsumeinnahmen haben, werden weniger investieren. Die Firmen, die die Investitionsgüter oder Vorprodukte geliefert hätten, haben weniger Einnahmen, sie müssen vielleicht sogar Teile ihrer Beschäftigten entlassen, die dann auch wieder weniger Einnahmen haben, und noch einmal weniger konsumieren und so weiter. An jeder einzelnen dieser Stationen sinken auch die Steuereinahmen des Staates.
Austerität funktioniert nicht
Sie ahnen also schon: Es wäre eine Kettenreaktion, die sich durch die gesamte Volkswirtschaft frisst, und am Ende ist viel mehr verloren gegangen als eingespart worden ist.
Deshalb gilt: Austerität, also eine knausrige Sparpolitik, funktioniert einfach nicht.
Sie wird stets an dem scheitern, was sie sich vorgenommen hat. Wer durch Sparpolitik Defizite verringern will, wird mit höheren Defiziten und weniger Wohlstand aufwachen.
Was aber freilich nicht heißt, dass der Staat nicht da und dort streichen oder kürzen soll oder ganz generell sparsam wirtschaften. Der Grund ist aber ein anderer: Nämlich, dass jeder einzelne Euro sinnvoller oder weniger sinnvoll ausgegeben werden kann. Ausgaben, die eher keine nützlichen Folgewirkungen haben, sollte man lassen, um die Ressourcen freizubekommen für nützlichere Ausgaben.
Unterstreichen wir das bisher Gesagte noch einmal doppelt und dreifach, denn es heißt im Grunde: die Regierung sollte gegenwärtig eigentlich überhaupt kein Sparpaket schnüren. Sie wird an dem Ziel, damit die Defizite zu reduzieren, nur scheitern, und sie würde auf diesem Weg auch noch viel Unheil anrichten.
Konsolidieren kann man nur im Boom
Wie alles in der Welt ist es sicher nicht ganz so einfach. Die Budgetkonsolidierung durch Ausgabenbegrenzung funktioniert beispielsweise in wirtschaftlichen Krisenzeiten noch schlechter als in Boom-Zeiten. Weshalb es eigentlich sinnvoller wäre, aus dem Ruder gelaufene Budgetdefizite in Wachstumsjahren zu reduzieren, und gerade in Rezessionsjahren die Finger von Kürzungen zu lassen.
Leider aber werden die Budgets von Politikern erstellt, die in Wachstumsphasen nicht sparen werden (weil da der Druck, es zu tun, ein zu kleiner ist), in Krisenzeiten dagegen nicht sparen sollten. Ein vertracktes Dilemma.
Für kleine Länder wie Österreich, die Teil einer großen Binnenökonomie – wie der Eurozone – sind, gibt es noch zu bedenken, dass sie es in gewissem Sinne leichter haben. Sie können sehr wohl Staatsausgaben signifikant reduzieren, ohne unbedingt die Konjunktur abzuwürgen, wenn die großen Handelspartner gerade einen Aufschwung erleben.
In diesem Fall kann man Sparpakete schnüren, die den Inlandskonsum etwas bremsen, da die Verluste möglicherweise durch einen Exportboom ausgeglichen werden. Das hat in Österreich in den 1990er Jahren während der Vranitzky-Ära ziemlich gut funktioniert. Aber heute würde es nicht funktionieren, da gerade die großen EU-Partner, allen voran Deutschland, selbst ökonomisch vor sich hindümpeln.
Und natürlich können Staatsschulden nicht endlos erhöht werden. Sie produzieren auch ansteigende Kosten, da die Zinszahlungen exponentiell steigen können, wenn ein Staat an Bonität verliert.
Die Krise der europäischen Industrie
Eine weitere Verkomplizierung der Sache ist, dass ein hohes Niveau von Staatsausgaben und höhere Defizite – Fachleute sprechen von einer „expansiven Fiskalpolitik“ – sich natürlich nicht automatisch in mehr Prosperität übersetzen.
Heute sind wir in einer wirklich vertrackten Situation, in der mehrere Krisen aufeinander einwirken. Die europäische Industrie steht an einem Wendepunkt. Insolvenzwellen rollen durch das Land. Die Maschinenbauindustrie – und ihre Zulieferer – haben lange gute Geschäfte gemacht, weil sie in die Länder, die sich rasant industrialisierten, die Anlagen exportierten. Diese nachholende Industrialisierung ist in China und anderswo längst geschafft.
Die Autoindustrie hat an den veralteten Technologien festgehalten, auf falsche Segmente – etwa das Luxussegment – gesetzt. Ohnehin gehen in Schlüsselbranchen aufgrund des technologischen Wandels Arbeitsplätze verloren. Selbst wenn die Autoindustrie doch noch die Kurve hinbekommen sollte, dann werden bei Zulieferern, etwa im Motorenbau, viele Jobs verloren gehen. Elektromotoren brauchen einfach nicht so viele komplizierte Komponenten wie Verbrennungsmotoren.
Die Lage ist schlimmer als die Stimmung
Sagte man früher gelegentlich, die Stimmung sei schlechter als die Lage, so formuliert Peter Bofinger, einer der führenden progressiven deutschen Ökonomen und ehemaliger „Wirtschaftsweiser“ heute, „die Lage ist schlechter, als sie zunächst erscheinen mag. Die deutsche Wirtschaft steht vor der größten Herausforderung der Nachkriegszeit“. Das alte industrielle Modell hat sich überlebt.
Es bräuchte jetzt massive Investitionen und eine echte Industriepolitik, die neue Branchen aufbaut. Eine Industriepolitik, die diese neuen Branchen – und auch Teile der alten Branchen – schützt, etwa durch billige Energie. Denn die Energiepreisinflation hat die Produktionskosten hochgetrieben und diese Kostenexplosion hat die Wettbewerbsposition der europäischen Industrie erheblich verschlechtert.
All das kostet aber Geld: Industriepolitik, die die Entwicklung neuer Geschäftsfelder massiv unterstützt, der Bau von Solar- und Windenergie, die Subventionierung von günstiger Energie für die Unternehmen.
Gefragt ist eine schlaue Industriepolitik
Was weg ist, ist weg. Soll heißen: Was in der Krise verloren geht, kommt auch im Boom nicht zurück. Was die Industrie der Zukunft betrifft, also die Flaggschiffe der nächsten Ära, braucht es erstens einen langen Atem. Und zweitens ist die Frage, ob echte staatliche Industriepolitik noch so gut wirkt, insbesondere dann, wenn andere Volkswirtschaften schon große Vorteile erzielt haben.
„Industriepolitik wäre eine gute Idee, aber wir haben leider keine“, bemerkt der US-Wirtschaftswissenschaftler James K. Galbraith. Und zwar auch deshalb, weil Industriepolitik seiner Ansicht nach gar nicht mehr so leicht möglich sei. Der Staat kann nicht planen, welche Produktion in welchen Regionen angesiedelt werden soll.
Ansiedelung von Unternehmen – sei es in der Solarindustrie, sei es bei Halbleitern, sei es in der Batterieproduktion, sei es Intel wie in Deutschland – würde nur dazu führen, dass man teuer etwas produziert, was anderswo günstiger hergestellt wird. Und das ist meist keine kluge ökonomische Strategie. Im Ergebnis würde viel Geld dafür aufgewendet, um Produktionen anzusiedeln, die anderswo schon mit erheblichem Wettbewerbsvorteil hergestellt werden.
Schlag nach bei Mario Draghi!
Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank und italienische Ex-Premier Mario Draghi hat vor einigen Monaten einen Report vorgelegt, der zum Besten und Durchdachtesten gehört, was in jüngster Zeit an wirtschaftspolitischen Konzeptionen erstellt worden ist, in dem er heftige Subventionen für den industriellen Umbau Europas vorschlägt. Die österreichischen Regierungsverhandler täten nicht schlecht daran, ihn zu konsultieren – oder wenigstens seinen Report genau zu studieren.
Wie auch immer, es ist keine triviale Situation. Wenn Regierungen jetzt auch noch Sparpakete auflegen, stürzt der Kontinent endgültig ab, wenn sie eine expansive Schuldenpolitik machen und in den Wohlstand der Zukunft investieren, stellt sich der Erfolg wohl eher nicht über Nacht ein – und ist auch keineswegs garantiert.
Auch psychologische Effekte machen die gegenwärtige Lage noch einmal besonders kompliziert. Aufgrund des Krisenempfindens und der pessimistischen Zukunftserwartungen versuchen Konsumenten ihr Geld zusammenzuhalten. Ökonomen sprechen in dem Zusammenhang vom „Angstsparen“. Auch Konjunkturprogramme, die etwa durch Steuererleichterungen und Transferzahlungen den privaten Konsum ankurbeln sollen, würden in einer solchen Lage verpuffen – die Leute würden dann einfach noch mehr sparen. Österreichs Haushalte sparten 2023 24,4 Milliarden Euro, im Jahr 2018 waren es noch 18 Milliarden. Kaum anzunehmen, dass das „Angstsparen“ 2024 zurückgegangen ist.
Das heißt: Die Haushalte haben weniger verfügbare Einkommen und sparen davon auch noch mehr. Für die Konjunktur ist das reines Gift – und Regierungen haben kurzfristig wenig Möglichkeiten, das zu beeinflussen.
Was folgt aus all dem?
Wenn der Staat – Regierung, Länder, Gemeinden – jetzt noch in diese Krise hineinsparen würden, würde alles noch viel schlimmer und eine Todesspirale nach unten in Gang gesetzt werden. Panikmache, dass das Land „pleite“ wäre, ist hochgefährlich, weil sie zu fatalen Fehlern verleiten kann. Österreich hat ein Defizit, das langfristig nicht tragfähig ist, und eine Staatsschuldenquote von 80 Prozent, ersteres ist unschön, zweiteres noch kein Beinbruch.
Viel größere Probleme sind die strukturellen Schwierigkeiten unseres Wirtschaftsmodells, wie hohe Energiekosten, eine Industrie, die in eine echte Strukturkrise geraten kann und die Klimakrise. In einer solchen Situation ist es notwendig, massiv zu investieren, wohingegen es tödlich wäre, Investitionen und Modernisierung abzuwürgen, indem man die Konjunktur noch mehr killt.
Man weiß das eigentlich längst, dass ein Kaputtsparen der Wirtschaft nicht zu Prosperität führt, sondern eben zu noch mehr wirtschaftlichen Schwierigkeiten und am Ende nicht einmal die Budgets saniert sind. Man weiß das, es sei denn, man glaubt an die Sparideologie so, wie die Christen an die Erlösung durch Schmerzen glauben. Aber dann kann man auch gleich an das Christkind glauben.
Titelbild: Miriam Moné