Montag, Januar 20, 2025

Eine Welt, die sich taub stellt

Wahrend sich Pierer, Musk und Co. ihren nächsten Schachzug überlegen, warten andere auf ihre Gehälter oder erfrieren im Krieg. Die Welt spricht zu wenig darüber.

Wie die Salzburger Nachrichten berichten, wurde vor der KTM-Zentrale in Mattighofen ein großes Plakat mit folgendem Wortlauf affichiert: Frohe Weihnachten. Stefan. Wünschen dir deine Angestellten, die dich zum Milliardär gemacht haben und denen du nicht einmal mehr ihren Lohn und ihr Weihnachtsgeld bezahlst.

Ich meine, dieses Plakat könnte ein schönes Sinnbild für 2024 werden: Die Milliardäre dieser Welt, die ja auch Regierungsmacher sind und dezidiert Wahlempfehlungen für Rechtsparteien aussprechen, bekamen auch in diesem Jahr das meiste Geld und die meiste Aufmerksamkeit. Im Fall dieses Plakats weiß man nicht von wem. Hermann Fröschl und Hilde Mayer in den Salzburger Nachrichten:

Urheber ist unbekannt, viele Spekulationen vor Ort. Linkspartei Wandel dementiert eigene Urheberschaft, schließt aber nicht aus, dass bei KTM beschäftigter Sympathisant dahinterstecken könnte. Erfreulich: Dezember-Gehälter wurden jetzt an die Beschäftigten überwiesen.

Fahndung nach Arbeitnehmervertretern

Nach Arbeitnehmervertretern muss man also inzwischen fahnden. Auch das vielleicht ein Sinnbild für das vergangene Jahr. Die mächtigen Männer dieser Welt, die die Freunde der Oligarchen und Milliardäre sind, sitzen fest im Sattel. Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Von Himmel fallen andere. Wie APA und dpa berichten, wurde der Absturz einer aserbaidschanischen Passagiermaschine am 25. Dezember, der 38 Todesopfer forderte, gewaltsam ausgelöst:

„Es ist klar, dass die endgültige Version erst nach Auswertung der Blackboxes bekannt wird“, sagte er [Präsident Ilham Aliyev]. Aber schon jetzt ergäben die Fakten ein Bild. Demnach verlor das Flugzeug im Raum von Grosny über der russischen Teilrepublik Tschetschenien die Steuerungsfähigkeit, weil seine elektronischen Systeme vom Boden aus gestört worden seien. „Das ist die erste Beschädigung, die dem Flugzeug zugefügt wurde.“ Danach habe direktes Feuer die Maschine getroffen.

Am Boden der Realität

Ob man in die Luft schaut oder am Boden bleibt: Das Elend auf dieser Welt beherrscht die Schlagzeilen nicht. Die bestürzende humanitäre Lage in Gaza ist in vielen Medien kaum zu finden und wenn sie zu finden ist, steht sie hinter Berichten über Benjamin Netanjahus Prostataoperation und Elon Musks Aufruf, die AfD zu wählen. Denn das sorgt für Clicks. In der taz finde ich einen Artikel über Gaza von Julia Neumann:

Nachts wird es derzeit 9 Grad kalt, 90 Prozent der Menschen in Gaza sind laut den Vereinten Nationen Vertriebene. Es mangelt an Unterkünften, viele schlafen in Zelten oder unter freiem Himmel. „Die Kälte macht es fast unmöglich zu schlafen“, sagt Omar, ein Vertriebener im Nuseirat-Geflüchtetencamp in Gaza, dem UN-Hilfswerk ­UNRWA. Lieferungen von Decken oder Matratzen seien seit Monaten durch fehlende Genehmigungen Israels blockiert, meldet UNRWA. Israelische Behörden blockierten weiter die meisten Hilfseinsätze, sagte auch das UN-Amt für Nothilfe OCHA am Donnerstag.

Sich taub stellen

Kinder erfrieren in Gaza. Das letzte Krankenhaus dort wurde zerstört. Europa scheint andere Sorgen zu haben. Maria Sterkl am 27. Dezember in Der Standard:

Es besteht kein Zweifel, wer das alles ausgelöst hat: die Hamas und andere bewaffnete Gruppen, als sie israelische Zivilisten massakrierten und verschleppten und Israels Städte mit einem Raketenhagel überzogen. So begann dieser Krieg. Ebenso wenig kann jedoch geleugnet werden, dass er viel zu viele zivile Opfer gefordert hat – und darunter viel zu viele tote Kinder.

Sie starben nicht nur bei militärisch notwendigen Angriffen im Krieg gegen die Hamas, sondern auch infolge der flächendeckenden Unterversorgung mit allem, was es zum Überleben braucht: Nahrung, Wasser, ein Dach über dem Kopf und medizinische Versorgung. Hier muss auch Israel in die Pflicht genommen werden. Die Hilfsorganisationen fordern eindringlich dazu auf. Europa sollte sich nicht taub stellen.

Das ist ein wichtiges und wahres Wort und ich erlaube mir, es als Titel für diesen Artikel zu entlehnen. Die ganze Welt sollte sich nicht taub stellen. Warum nur leben wir trotz unseres Wohlstands in einer Zeit derartiger Gefühlkälte und Handlungsstarre? Warum wählen wir in allen Ländern eine oligarchenfinanzierte Rechtspartei nach der anderen und machen einen Deppen nach dem anderen zum Staatschef?

Ein Vermittler und Kämpfer für Frieden

Wo bleiben die Bemühungen, eine Öffentlichkeit zu schaffen, die sich mit den Kriegen und dem Elend dieser Welt auseinandersetzt und endlich einmal damit beginnt, sich diesem Wahnsinn entgegenzustellen, statt in Konsum und Passivität zu versinken. Einer, der sich zu seiner Zeit um Friedensstiftung bemüht hat, ist gestern verstorben. James Earl Carter junior, bekannt als Jimmy Carter, wurde 100 Jahre alt.

Carter hat sich nicht nur für den Frieden zwischen Israel und den Palästinensern eingesetzt, er hatte auch ambitionierte Programme zur Armutsbekämpfung und dem Ausbau des Gesundheitswesens. Ambitionen, die die demokratische Partei von heute in dieser Klarheit leider vermissen lässt. Darüberhinaus – und das scheint mir wesentlich – dachte Carter global. Matthias Rüb in seinem Nachruf in der FAZ:

Außerdem war Carter […] immer wieder als informeller Vermittler amtierender Präsidenten im Einsatz – in Nordkorea und auf dem Balkan, in Haiti und auf Kuba, in China und im Sudan. Er setzte sich rastlos für die weltweite Einhaltung der Menschenrechte ein. Er kämpfte für die Überwindung von extremer Armut und für die Ausrottung von Krankheiten wie der vom sogenannten Guineawurm übertragenen Dracontiasis in Entwicklungsländern, vor allem in Afrika.

Doch vergessen wir nicht, wie Carters Präsidentschaft endete: Er stellte sich am 4. November 1980 der Wiederwahl und erlitt eine bittere Niederlage. Sein Herausforderer Ronald Reagan gewann die Wahl deutlich und wurde 1981 40. Präsident der Vereinigten Staaten. Und damals begann jene Entwicklung, die die Welt bis heute beherrscht: Die Gier des Kapitalismus nach schnellen Profiten und eine Welt, die sich bei entsetzlichen humanitären Misständen, taub stellt; die sich taub stellt, wenn Kinder erfrieren. Fast 45 Jahre nach dem Ende von Carters Präsidentschaft kann niemand sagen, dass diese Welt sich verändert hätte. Im Gegenteil.


Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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