In einem Moment völliger Verantwortungslosigkeit hat Beate Meinl-Reisinger die finale Kettenreaktion ausgelöst. Jetzt kippt Österreich.
„Wir verzichten auf die Vermögenssteuer und auf die Erbschaftssteuer. So weit gehen wir, damit die ÖVP nicht zu Kickl geht und Österreich kippt.“ Als mir das einer der Chefverhandler der SPÖ vor wenigen Tagen am Telefon sagte, bat er mich um absolute Verschwiegenheit.
„Wir probieren es noch mit einer Bankenabgabe. Die haben über 30 Milliarden Gewinne gemacht. Es geht doch nicht, dass nur Arbeitnehmer und Pensionisten für die ÖVP-Schulden zahlen.“ Aber ÖVP und Neos waren nicht bereit, der SPÖ auch nur einen Millimeter entgegenzukommen. Der Verhandler war ratlos: „Mit der Bankenabgabe beißen wir bei beiden auf Stahlbeton. Das gibt es doch nicht!“
Am Donnerstagabend ging es nur noch um das. Von Einwanderung bis Bildung war alles abgehakt. Beate Meinl-Reisinger hätte mit einem großen Bildungsressort zeigen können, was die Neos draufhaben. Doch am Freitag wusste sie schon sehr früh, dass die neoliberalen Hardliner unter ihren wenigen Mitgliedern bereits gegen alles, was nach „Sozi“ roch, mobilisiert hatten. Meinl-Reisinger war eine Getriebene der eigenen „Basis“, als sie die Nerven verlor und die Kettenreaktion auslöste.
Raiffeisen-Fangschuss
Einen Tag später war die Situation für Karl Nehammer unhaltbar. Aus den fünf Bundesländern, in denen die FPÖ bereits das Kommando übernommen hatte, kamen die Querschüsse. Die finalen Fangschüsse kamen von Bauernbund, Wirtschaftsbund und Raiffeisen. Der Bankenkonzern, der mit Putin- und Benko-Geschäften am Abgrund steht, verweigert jede Abgabe. Banken sanieren nicht, sie werden saniert. Diese Regel des großen Geldes bleibt für ÖVP und Neos unumstößlich.
Es ist nicht klar, ob Meinl-Reisinger wusste, was sie tat. Vielleicht hatte sie am Freitagmorgen einen totalen Blackout. Vielleicht wusste sie im Gegensatz zu Nehammer bereits, dass der Kanzler am Ende war. Ihre Rede war jedenfalls längst vorbereitet. Aber das alles entschuldigt nicht das Auslösen einer Kettenreaktion, die folgen musste. Die Gründe für sie findet man bei Sebastian Kurz und seinem Regime.
Türkise FPÖ verliert
Ab 2017 hat Sebastian Kurz die ÖVP nicht nur türkis angestrichen. Er hat von Ausländern bis Leitkultur aus der christlich-sozialen Europapartei ÖVP eine Staats- und Industriellenpartei mit freiheitlichem Programm gemacht. Die Arbeitsteilung lautete: Die FPÖ erledigt das Geschäft auf der Straße, die ÖVP steuert und erntet.
Ibiza und die Ermittlungen der WKStA haben das ebenso gestört wie Herbert Kickl, der mehr wollte, als ihm die ÖVP zugestanden hatte.
Karl Nehammer hat an der Kurz-Linie nichts geändert. Mit Gerald Fleischmann hatte er sich den Kurz-Mediensteuermann an Bord geholt. Aber Nehammer war als Kurz-Imitator zu schwach, auch für den Boulevard, dessen Köpfe inzwischen selbst die WKStA am Hals hatten.
Als die Nationalratswahl im September 2024 näher rückte, war klar, dass die FPÖ als freiheitliches Original gegen die Kurz-Kopie gewinnen würde. Ohne Kurz funktionierte sein Projekt nicht mehr.
Kanzler statt Nummer eins
Nach der Wahl machte Karl Nehammer seiner Partei sein letztes Angebot: „Ich habe die Wahl verloren, aber ich rette euch den Kanzler“. Damit begannen mit der SPÖ Verhandlungen über eine Regierung, die kaum eine gemeinsame Basis hatte. Die FPÖ machte es sich als „natürlicher“ Partner der ÖVP am Rande bequem, weil alles nur noch eine Frage der Zeit schien.
Trotzdem hätte Nehammer eine kleine Chance gehabt. Mit einer Bankenabgabe zum Stopfen des Budgetlochs, einem schonenden Übergang in ein höheres Pensionsantrittsalter, der Stärkung von Bildung und Gesundheit und der Abschaffung der schlimmsten Bundesländer-Budgetverschwendungen hätte es einen schmalen gemeinsamen Pfad gegeben.
Doch die Neos zeigten, dass auf sie genauso wenig Verlass wie auf die FDP in Deutschland war. Damit war das Projekt „letzter Kanzler der ÖVP“ tot.
Kickl kommt
Jetzt kommt Kickl und mit ihm der Rechtsblock. Der Dominostein „Österreich“ fällt. Wladimir Putin und Donald Trump können gemütlich zusehen, wie sich Österreich in die Familie von Ungarn, Israel, Italien, Niederlande, Argentinien und den USA gesellt.
In der Krise der ÖVP sah Sebastian Kurz möglicherweise eine letzte Chance vor seiner drohenden zweiten Anklage und Verurteilung. Vielleicht war die Rest-ÖVP schon so verzweifelt, dass sie sich auf das finale Abenteuer mit dem – nicht rechtskräftig – verurteilten Altkanzler eingelassen hätten. Vielleicht ist sie aber auch dafür schon zu schwach und kapituliert. Für die Industriellen und Banker, die jetzt das Kommando übernommen haben, scheint es inzwischen egal, ob ihr Rechtsblock blaue oder türkise, unbescholtene oder vorbestrafte Köpfe hat.
Für viele in der ÖVP hat Kurz ohnehin nur noch die Funktion einer anti-Wahl-Perchte: Mit ihm im Fenster hoffte man, die FPÖ von Neuwahlen abzuhalten, weil Kickl bei einer Kurz-Kandidatur keine Garantie auf einen Erdrutschsieg hätte. Aber Kurz scheint bereits abgesagt zu haben. Er selbst glaubt wohl nicht mehr an seine Auferstehung, zumindest in der ÖVP.
Jetzt haben es Wirtschaft, Bauern und Banken geschafft: Die ÖVP ist erstmals kopflos und so billig wie noch nie.
Und: wie weiter?
Wie kommen wir da wieder heraus? Wie weiter? Das frage ich mich genauso wie Hunderttausende, die nicht wollen, dass Österreich fällt. Aber jetzt stehen wir einmal mitten im Scherbenhaufen. Irgendwann geht es um die Frage, mit wem ein Neubeginn gegen FPÖ und ÖVP möglich ist. Doch davor geht es ums Aufräumen und damit um Konsequenzen:
- um den Rücktritt von Beate Meinl-Reisinger, die mit ihrer Panikreaktion den Zusammenbruch der letzten Linie vor der FPÖ verursacht hat;
- um die Klärung, wer in der SPÖ von allen unterstützt die Führung in einer neuen Opposition übernimmt;
- um die Neuaufstellung der Grünen ohne das Mitläuferpersonal aus der Ära „Nehammer“;
- und möglicherweise um eine neue Kraft, die als einzige die FPÖ alt aussehen lassen kann.
Karl Nehammer hat als einer der Wenigen in den letzten Wochen zumindest Haltung bewiesen. Aber politisch hat das nichts mehr bewirkt.
p.s.: Ich bin nicht stolz darauf, dass alles, was ich im Juli 2024 in meinem Buch „Ostblock – Putin, Kickl und ihre ÖVP“ befürchtet habe, eingetreten ist. Doch das Schlimmste kommt erst.
p.p.s.: Das schnell zusammengeschusterte Kurz-Porträt in der gestrigen ZiB zeigt, dass jetzt auch im ORF Panik ausgebrochen ist.
Kommentar ergänzt um 9.45 Uhr