Es ist die Unfähigkeit und die Verantwortungslosigkeit der Anderen, die Herbert Kickl ins Kanzleramt bringt.
Die Zweite Republik steht an ihrem Ende und die liberale Demokratie kippt in Richtung Autokratie. Das Land torkelt in Richtung Ungarn oder Slowakei, wo sich, weitgehend ohne große Wahrnehmung, in den vergangenen eineinhalb Jahren der Geist des Autoritären durchsetzte.
Und wie so oft ist es eine Abfolge von Fehlhandlungen von Akteuren, die ihrer historischen Aufgabe nicht gewachsen waren. Statt staatspolitische Verantwortung zu übernehmen und alles zu tun, um Österreich eine Kickl-Regierung zu ersparen, spielten sie „russisches Roulette mit der Republik“ (so Standard-Chef Gerold Riedmann). Ist ja nicht das erste Mal in der Geschichte, dass man in die Katastrophe quasi stolpert. Ich habe an dieser Stelle unmittelbar nach den September-Wahlen geschrieben, dass jetzt alle zusammen ihr „Rendezvous mit der Geschichte haben“ und formuliert „dass man alles tun muss, um eine Regierungsführung der FPÖ zu verhindern“.
Vor der Geschichte versagt
Ich habe das nicht zufällig etwas drängend geschrieben, denn ich kenne ja meine Pappenheimer. Aber sie wurden ihrer Verantwortung nicht gerecht. Sie haben vor der Geschichte versagt.
Die letzten Stunden, Tage und Wochen zeigten eine dramatische Abfolge von Fehlhandlungen. In einem Akt der Kopf- und Verantwortungslosigkeit haben die NEOS die Verhandlungen platzen lassen und damit, wie Peter Pilz so richtig schrieb, „eine Kettenreaktion“ ausgelöst, die am Ende wohl Herbert Kickl ins Kanzleramt bringt. Meine Vermutung ist, dass die NEOS-Wähler das nicht sonderlich belohnen werden. Meine Vermutung ist sogar, dass Beate Meinl-Reisinger und ihre Truppe nicht einmal in vollem Umfang die Auswirkungen ihres Handelns vorhersahen.
Dafür gibt es keine Entschuldigung.
Nehammer, Gefangener der Industriellenvereinigung
Der ÖVP-Wirtschaftsflügel, die Industriellenvereinigung und der Bankensektor wiederum haben Karl Nehammer das Messer in den Rücken gerammt, denn am Ende ging es bei den komplizierten Detailverhandlungen um die Konsolidierung des Budgets längst nicht einmal mehr um Millionärssteuern, Vermögenssteuern oder Erbschaftssteuern, sondern um maßvolle Beiträge durch eine progressive Erhöhung der Konzerngewinnsteuern, um eine höhere Bankenabgabe und um Steuern auf Veräußerungsgewinne der Immobilienkonzerne. Um das aber zu verhindern, haben sie Karl Nehammers Verhandlungsspielraum auf null gestellt und damit faktisch den eigenen Kanzler gestürzt und sind ins Pro-Kickl-Lager übergelaufen.
Das muss man sich einmal vorstellen: die Bankenlobby, Industrievertreter und Immo-Konzerne stürzen einen konservativen Kanzler und werfen sich vor einem irrwitzigen Rechtsextremisten in den Staub, bringen ihn an die Macht. Es klingt wie aus dem Klischeebuch simpelster altmarxistischer Faschismustheorien.
Haben Andi Babler und sein engstes Küchenkabinett mit voller Entschlossenheit – und ja, sagen wir auch: Begeisterung – die Verhandlungen geführt, oder mental mit einer gewissen Reserviertheit, gar mit einer inneren Abwehr? Was die konkreten Maßnahmen betrifft, um die gerungen wurde, waren sie konziliant, alles andere ist auf der Ebene des Atmosphärischen, was man schwer beurteilen kann, wenn man nicht dabei ist. Man kann nicht ausschließen, dass auch ein paar unbewegliche Sektierer im SPÖ-Team einen Teil der Verantwortung am Scheitern haben. Aber klar und Faktum ist: Die NEOS trifft mit ihrem unverantwortlichen Abbruch der Verhandlungen die Hauptschuld. Jener Teil der ÖVP, der am Ende Nehammer das Messer in den Rücken rammte, folgt gleich darauf.
Sie stolpern ins Desaster
In Summe aber ist es ein Versagen der Protagonisten, das einem die Haare raufen lässt: Die Welt ist aus den Fugen, wir leben in der heikelsten Phase der zweiten Republik – und ÖVP, SPÖ und NEOS schaffen es nicht, sich zu einigen. Man stolperte ins Desaster, hatte nicht einmal einen sinistren Plan.
Die NEOS setzten den Dominoeffekt in Gang, die ÖVP stand dann als nächste vom Verhandlungstisch auf, bettelte in der Folge hektisch bei Sebastian Kurz, dass er die Partei übernehmen möge, holte sich spätnachts eine Absage ein und dann noch einmal ein paar Njets von allerlei anderen Lückenbüßern. Schließlich musste man den personifizierten Apparatschik Christian Stocker zum Parteichef ernennen, weil der offenbar nicht bei drei auf den Bäumen war. Der darf jetzt von Kickls Fahndungsliste auf seine Ministerliste wechseln.
Die tiefe politische Krise unseres Landes hat sich lange aufgebaut, gewiss, und die Krise des Staatshaushaltes hat eine Regierungsbildung extrem erschwert, aber schlussendlich haben wir die gegenwärtige Staatskrise nur der Unfähigkeit von Leuten zu verdanken, die irgendwas tun, die kopflos hinwerfen, ohne zu überlegen oder einen Plan zu haben. Es ist wie immer, wenn Demokratien sterben. Es ist ja fast nie so, dass es so sein muss. Sondern dass die demokratischen Akteure schwere Fehler machen.
Jetzt braucht es Widerstand, Opposition und Courage
Die FPÖ kann der ÖVP jetzt komplett die Hosen ausziehen, sofern sie nur die Wünsche der Industriemagnaten, der Banken und des Raiffeisensektors und der Immoblienkonzerne erfüllt. Dann sind sowohl der Bund als auch fünf Bundesländer (!) Blau-Schwarz oder Schwarz-Blau regiert. Ein ultrarechter monolithischer Einheitsblock, der das Land demnächst erdrückt.
Alle anderen haben jetzt die Demokratie zu verteidigen, mit Standfestigkeit und Klugheit alles zu tun, um ein völliges Abdriften in ein autoritäres Kickl-Regime à la Orban zu verhindern. Da ist die demokratische Zivilgesellschaft gefragt, institutionelle Akteure wie die Gewerkschaften, standfeste und unbeirrbare Individuen, die, wo es ihnen möglich ist, die Zugriffe des Autoritären abwehren, die Widerstand leisten, Liberalität und Pluralismus, Rechtsstaat und Multikulturalität verteidigen. Und natürlich gehören dazu die Parteien der künftigen parlamentarischen Opposition, die besser performen müssen, als sie das zuletzt getan haben.
Wir werden eisern und solidarisch zusammenhalten müssen, für das Lieblingshobby linker Milieus – nämlich sich gegenseitig die Köpfe um kleine Differenzen einzuschlagen –, ist jetzt nicht der Augenblick.
Wer nicht begreift, was es geschlagen hat, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen.
Titelbild: Miriam Moné