Freitag, Februar 7, 2025

Randnotizen: Gedanken ohne Denken

Am Ausschwitz-Gedenktag wird offenkundig, wie blass die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen heute nur noch sind. Erinnerungen und Mahnungen haben im Unterhaltungswettbewerb sozialer Medien keine Chance. Faschisten haben leichtes Spiel.  

Heute ist es ein halbes Jahrhundert her, dass das größte Nazi-Vernichtungslager in Auschwitz in Polen von der Roten Armee befreit wurde. Gerade weil die Greuel um etwa eine Million ermordeter Menschen schon so lange her sind, ist der Grundsatz wichtig: Niemals vergessen!

Mit diesen Worten begann der Beitrag des Ö1-Mittagsjournals vom 27. Januar 1995 über die Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreien des Konzentrationslagers Auschwitz. Auch zu diesem Zeitpunkt ist Europa kein Ort des Friedens. Die Belagerung Sarajewos dauerte genau zu jenem Datum seit 1.000 Tagen an. Aus Auschwitz berichtet damals Alfred Schwarz:

Die Gedenkveranstaltung begann zunächst im Lager Auschwitz 1. Kurz vor halb elf bewegte sich die Gruppe von einigen hundert Menschen unter der Führung des polnischen Präsidenten Lech Wałęsa auf das Tor des Lagers zu – mit der denkwürdigen Aufschrift: “Arbeit macht frei”. In einem kurzen Gedenken, dass zunächst den etwa 80.000 polnischen Opfern gewidmet war, sagte der polnische Präsident, eigentlich habe er immer gedacht, der Spruch »Arbeit macht frei« sei ein richtiger Spruch. Nur sei er hier in Auschwitz auf grausame Weise pervertiert worden. Auschwitz sei eine unvorstellbare Leidensstätte gewesen. Österreichs Präsident Klestil erklärte anlässlich der Gedenkveranstaltung, Auschwitz sei ein ewiger Aufschrei der Weltgeschichte. Es gäbe eine lange Liste österreichischer Opfer, aber auch eine lange Liste österreichischer Täter.

Immerhin zeigen die Worte des damaligen Bundespräsidenten Klestil eine Veränderung in der Rhetorik des offiziellen Österreich, die Bundeskanzler Franz Vranitzky im Jahr 1991 begonnen hatte: Das Ende der Selbstdarstellung Österreichs als Opfer des Nationalsozialismus und die Leugnung seiner Mittäterschaft.

Doch auf wie breitem Boden steht die klare Abgrenzung zum historischen Faschismus und seinen Greueltaten, in einer Welt, in der der US-Präsident unverhohlen und unwidersprochen »Massendeportationen« ankündigt, der wahre Präsident hinter ihm – ein Milliardär, der nicht vom Volk gewählt wurde, und zu Trumps Angelobung die Hand zum Hitlergruß ausstreckte – eine neo-faschistische Partei in Deutschland mit viel Geld an die Macht bringen will und in Österreich Abgeordnete der stimmenstärksten Parlamentsfraktion öffentlich SS-Lieder singen?

Ja, das offizielle Österreich tummelt sich auch heute (zum Teil) zu Gedenkveranstaltungen. Der Standard berichtet:

Bundespräsident Alexander Van der Bellen reist am Montag gemeinsam mit der österreichischen Delegation nach Polen und wird an der Befreiungsfeier auf dem Gelände des ehemaligen KZ teilnehmen. Bei der offiziellen Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung lässt sich Schallenberg durch Kanzleramtsministerin Susanne Raab (ÖVP) vertreten, weil zeitgleich der Rat der EU-Außenminister in Brüssel stattfindet.

Aber kann man diesen Gedenktag von den Vorgängen in den gegenwärtigen Gesellschaften trennen? Das Erstarken neo-faschistischer Politik, die Rückkehr der Sprache des Faschismus in die Politik und das Nach-Rechts-Driften vormals bürgerlichen Parteien in vielen Staaten kommen zu einer Zeit, in der die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen verschwinden und sich damit Gedächtnis und Gedenken verändert. Anna Goldenberg im FALTER:

Die Erinnerung an die NS-Zeit befindet sich an einem Wendepunkt, am Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Die mündlichen Überlieferungen einzelner Personen werden durch ihren Nachlass ersetzt, durch Aufzeichnungen und Nacherzählungen. Material gibt es genug. Der Holocaust und die NS-Zeit sind das wohl am besten aufgearbeitete Ereignis der jüngeren Geschichte.

In einer Gesellschaft, die durch Digitalisierung und die damit einhergehende Kommerzialisierung von Bildung und Nachrichten den Konsumenten der Selbstbestimmung überlässt, wird auch das Gedächtnis zu einer Ware, historische Reflexion zu einem Gedenken ohne Denken. Einer solchen Medienlandschaft fehlt die ethische Grundlage; sie überlässt Bildung und Geschichte jenem Scheinwettbewerb, der längst unter der Kontrolle weniger mächtiger Kapitalisten ist.

Die politische und gesellschaftliche Ethik ist im Sinkflug begriffen. Lippenbekenntnisse zur Vergangenheit sind ebenso nur Ware, Nachrichten, die neben anderen Nachrichten stehen. Die stärkste grundsätzliche Wirkung haben noch die Verfassungen der Demokratien. Aber auch sie stehen bereits unter Beschuss.


Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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