Villach, München, Aschaffenburg: Das Gewaltstakkato kann Nationen zum Kippen bringen.
Österreich ist gerade noch einmal davongekommen, Herbert Kickl selbst hat ein Kickl-Regime verhindert, über die USA senkt sich derweil ein neuer eiserner Vorhang der Unfreiheit, von oben herab wird ein regelrechter Staatsstreich durchgeführt. Am kommenden Sonntag wird in Deutschland gewählt, wo es gewiss noch nicht so schlimm kommen wird, aber auch hier sind die öffentlichen Diskurse durch die rechte Sprachverschärfung, durch Desinformation und durch den Sound des Apokalyptischen vergiftet. Eine Sprache breitet sich aus, die den Aufstieg der extremen Rechten einerseits begünstigt, durch deren Aufstieg aber noch einmal radikalisiert wird.
Peter Laudenbach, der bedeutende Theaterkritiker, hat sich diese Sprache in der „Süddeutschen” dieser Tage genauer angesehen und urteilt, durch die Propaganda der radikalen Rechten „entsteht das apokalyptische Bild eines Landes im Zusammenbruch“. Reale Probleme werden ins Phantastische übertrieben, auf reale Schrecken erfundene getürmt. „Es brennt in Deutschland“, behauptet Alice Weidel, die AfD-Chefpropagandistin. „Und diese Regierung aus starrsinnigen Ideologen ist der Brandstifter. Sie ziehen eine Schneise der Verwüstung durch dieses Land.“ Laudenbach merkt an: „Für den in Yale lehrenden Philosophen Jason Stanley kennzeichnen unter anderem zwei strukturelle Merkmale den rechten Autoritarismus: Die Behauptung einer apokalyptischen Endzeit des angeblich zum Untergang verurteilten ‚Systems‘ im Kontrast zu einer mythisch verklärten Vergangenheit. Und die wahnhafte Paranoia, das Abkoppeln der Ideologiekonstruktion von jeder Überprüfung an der Empirie.“
Die Grenzen des Sagbaren werden ausgeweitet
Der vormalige AfD-Frontmann Alexander Gauland hat bekanntlich schon vor Jahren als erklärtes Ziel ausgegeben, „die Grenzen des Sagbaren auszuweiten“. Das ist der AfD in der Tat mit großem Erfolg gelungen. Uns Österreichern muss man das nicht sagen, wird haben seit Jahrzehnten Erfahrung damit, mit dieser Erkenntnis lockt man uns hinter keinem Ofen mehr hervor.
Will man aber akkurat die psychopolitische Lage beschreiben, ist das gar nicht so einfach. Zu fluide ist alles, zu viele Grauzonen, zu viele Rückkopplungseffekte. Diese „Ausweitung des Sagbaren“, etwa, dass jeder Migrant einem Generalverdacht unterstellt wird, ein „Messermann“ oder Ähnliches zu sein, wirkt natürlich auf alle Diskurse und damit in alle Milieus hinein, zugleich aber nicht in alle auf gleiche Weise. Demoskopen, Soziologinnen, Demokratieforscher wissen zu berichten, dass dennoch nur zehn Prozent der Menschen ein verhärtetes und geschlossenes rechtsradikales Weltbild haben, diese zehn Prozent sich aber rasant radikalisieren.
Die breite Mitte ist gar nicht so polarisiert
Ansonsten ist die Gesellschaft deutlich weniger polarisiert, als wir uns das für gewöhnlich vorstellen. Mehr noch: die allermeisten Menschen haben zu den berühmten Triggerthemen unserer Zeit, die die Rechtsextremisten auszubeuten versuchen, durchaus ausgewogene Ansichten. Also etwa: manche überspannten Übertreibungen von „Wokeness“ gehen vielen auf die Nerven, sie sind aber zugleich der Meinung, dass man natürlich niemanden diskreditieren oder stigmatisieren sollte und jede Person nach ihren eigenen Präferenzen glücklich werden darf. Die meisten akzeptieren die Migration und die multikulturellen Realitäten, die Zuwanderung schafft, meinen aber zugleich, dass es Problemgruppen gibt, von denen Gefahr ausgeht und dass generell die erwünschte Integration natürlich auch von der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft abhängt, also einfach auch die schiere Zahl nicht zu bewältigen ist, sei es in überforderten Schulen oder am Wohnungsmarkt.
Rechtsextreme Parteien werden nicht nur von Menschen mit rechtsextremem Weltbild gewählt, sondern auch von diesen anderen. Würden sie nur von ersteren gewählt, wären sie ungefährlich. Gefährlich wird es, wenn ihnen sogar durchaus vernünftige Leute zulaufen.
Geht es nur um Migration?
Viele Analysten meinen ja, die ultrarechten Parteien werden stark, weil sich ein ganzes Panorama rechter und Anti-System-Emotionen ausbreitet, wozu ein Verdruss über die hergebrachte Politik zählt oder auch dieses populistische Grundgefühl des „Wir gegen die da Oben“, dieses ganze Anti-Establishment und Anti-Eliten-Zeug, und generell eine Unbedingtheit heute die Besonnenheit schlägt. Ich selbst gehöre ja auch zu diesen „Analysten“. Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Vielleicht wählt ja der überwältigende Teil der Rechts-Wähler die Parteien nur aus zwei Gründen: erstens, weil man eine Bremsung des Zuzugs wünscht und, zweitens, weil man extrem pessimistisch geworden ist, nicht zuletzt wegen der Inflation. Wer merkt, dass alles teurer wird und man sich das Leben schlechter leisten kann, der stimmt eher für die Anti-Parteien.
Wahrscheinlich ist ja beides „irgendwie wahr“, was heißt, eine Mischung. Aber klar ist wohl auch: Trump hätte bestimmt nie gewonnen, wenn sich Menschen nicht mehr Kontrolle der Einwanderung wünschen würden und wenn sie nicht sauer wären, weil alles teurer wird. Es spricht viel dafür, dass eine Mehrzahl der Trump-Wähler ihren Kandidaten auch für einen Irren gehalten, ihn aber nur den Alternativen vorgezogen haben. Ich überspitze: Es gibt Wähler, die meinten, ja, der Spinner, der die Begrenzung der Zuwanderung verspricht, ist ein Irrer, aber die linken Woken, die sind auch irre. Im Zweifel wähl‘ ich den ersteren Irren.
Kurzum: Vielleicht geht es viel weniger um Weltbilder und viel mehr um zwei relativ simple Themen: Einwanderung und Inflation/Wohlstandsgefährdung.
Villach, Aschaffenburg, München und die Folgen
Es gibt ja übrigens auch genügend Menschen, die ganz ähnlich denken und keine rechtsextremen Parteien wählen, sondern Konservative, Sozialdemokraten, Grüne oder Liberale.
Womit wir natürlich bei den verstörendsten und traurigsten Themen dieser Tage sind, der Abfolge von Anschlägen, Terrorakten, Messerattacken und einfach von Gewalttaten der letzten Wochen. In Deutschland etwa in Aschaffenburg, München und anderswo, in Österreich zuletzt in Villach, wo ein Asylberechtigter, der sich zum Islamisten radikalisiert hat, einen Jugendlichen erstochen und mehrere Passanten schwer verletzt hat. Solche Taten, noch dazu in einer solchen Abfolge, versetzen selbstverständlich nahezu alle Menschen in Angst. Nun kann man immer gerne darauf hinweisen, dass die Angst auch durch die sensationalistische mediale Berichterstattung geschürt wird, auch darauf, dass es in der vergangenen Woche mehrere Messerattacken in Deutschland gegeben hat, mit einem Toten, mit Polizeischüssen, von denen wir alle kaum etwas erfahren haben, weil sie von Einheimischen begangenen wurden, wir also durch einen medialen Bias dazu gebracht werden, Immigranten als besonders gefährlich anzusehen.
Und natürlich ist es ekelhaft, wenn sich Herbert Kickl und seine Leute über jeden Anschlag erkennbar freuen und sofort ihr politisches Spiel damit machen, weil ihnen jede Untat Wähler zutreibt.
Die überforderten Systeme
Aber es hilft ja nichts, denn die Mordtaten, Anschläge und die Gewaltkriminalität sind ja dennoch real. Die allermeisten Menschen können schon unterscheiden zwischen Migranten, die versuchen, sich hier ein gutes Leben aufzubauen, Familien, die für ihre Kinder eine ordentliche Bildung wollen, und einer relativ kleinen Gruppe von aussichtslosen jungen Männern, die aber dennoch groß genug ist, sodass von ihr Gefahr ausgeht. Und die meisten Menschen fragen sich: Können wir dem überhaupt noch Herr werden? Die Institutionen – Schule, Arbeitsmarktservice, Bildungssystem, psychosoziale Betreuung, das Asylsystem usw. – sind an den Grenzen ihrer Kapazitäten, da kann man sich schon wünschen, dass sie auch mit Problemgruppen umgehen, aber jeder weiß natürlich, das wird nur eher schlecht als recht glücken.
Auch die üblichen Schuldzuweisungen im politischen Diskurs sind, seien wir einmal ehrlich, ziemlich hohl. Nehmen wir nur den Fall Aschaffenburg, der ist symptomatisch. Die einen prangern das Scheitern der therapeutischen Betreuung für offenbar traumatisierte, psychotische Täter an, die anderen geben der rot-grünen Bundesregierung die Schuld (weil das Bundesamt für Asyl und Flüchtlingsweisen schlampte), die anderen geben der rechten bayrischen Regierung zu Schuld (weil es auch dort Innenministerium und Polizei verkackt haben und Fristen verstreichen haben lassen), aber im Grunde ist das ja alles billigste Polemik. Wenn die Bundesbehörde einen Akt zwei Monate liegen lässt und die Landesbehörde ein paar Wochen braucht, um eine bloße Meldung nach Berlin zu schicken und wenn ein psychisch auffälliger Asylbewerber keine Therapie bekommt, dann liegt das nicht daran, dass irgendjemand „unfähig“ oder „arbeitsunwillig“ ist, sondern weil einfach die Systeme überfordert sind. Und, ja, der Täter war „polizeibekannt“, aber vor allem wegen Raufhändel im Asylbewerberheim und ein paar Verwaltungsübertretungen, aber nichts davon war so arg, dass man so jemand polizeilich unter die Lupe nimmt. Hinterher ist man klüger, aber das ist leicht.
Die ewige Gesetzesverschärferei
Besonders lustig ist es dann, wenn sofort schärfere Gesetze gefordert werden, was natürlich überhaupt keine Lösung ist: denn das Problem liegt ja daran, dass die vorhandenen Gesetze nicht vollzogen werden, weil dafür die Kapazitäten fehlen (und manchmal auch, weil sie unpraktikabel sind).
All das wissen aber die Bürgerinnen und Bürger auch, und selbst wenn sie es nicht im Detail wissen, wissen sie es so ungefähr. Was aber eben zu einem Gefühl der Hilflosigkeit führt, weil man ein Problempanorama erlebt, aber zugleich auch das Vertrauen verloren hat, dass es sich irgendwie lösen lässt.
Es liegt freilich auf der Hand, dass ein Stakkato an Schreckensmeldungen die Akzeptanz von Zuwanderung kollabieren lässt und auch zur Stereotypisierung der schon Zugewanderten führt, auch jener, die das überhaupt nicht verdient haben. Wir wollen ja nicht vergessen, dass nicht nur der „Held“ von Villach, der Schlimmeres verhindert hat, auch ein Syrer war (so wie der Täter selbst), dass die Todesopfer von München eine Frau und ihre zweijährige Tochter mit Zuwanderungsbiografie waren und zwei der Opfer von Aschaffenburg ein – getöteter – marokkanischer Bub und ein – schwerverletztes – syrisches Kindergartenmädchen war. Dessen syrischer Vater sagt jetzt in Interviews: „Warum war der Täter nicht längst abgeschoben?“
Das Bedürfnis nach Sicherheit
Es liegt aber auch weiter auf der Hand, dass das Stakkato an Schreckensmeldungen nicht nur die Akzeptanz der Zugewanderten untergräbt und das allgemeine Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zersetzt, sondern im Extremfall eben auch die Akzeptanz der liberalen, pluralistischen Demokratie.
Und, klar, es gibt die ideologisierten, völkischen „Ausländerfeinde“. Aber es gibt natürlich auch sehr viele andere – sehr viel mehr –, die keine völkischen Ausländerfeinde sind, und dennoch die Empfindung haben, dass wir den Zuzug drosseln müssen, weil die Kapazitäten zur Integration schon an ihren Grenzen sind. Letztlich ist das ja sogar aus der Perspektive der Zuwandernden plausibel: viele kommen ja hier her, weil sie sich ein Leben in einer funktionstüchtigen Demokratie und einem Rechtsstaat wünschen und zudem ein bisschen Wohlstand im Leben, und haben ja nichts davon, wenn das Land danach keine funktionstüchtige Demokratie mehr ist.
Im Klartext: Letztendlich beschleicht heute auch viele Besonnene ein Gefühl der Hilflosigkeit, dass nämlich die Probleme zu komplex, die verschiedenen Sachverhalte für Politik auch oft unverfügbar sind (also letztlich nicht steuerbar), sodass man ohnehin nichts tun kann. Aber natürlich ist das nicht wahr. Integration belohnen, positive Anreize schaffen, zugleich Delinquenz bestrafen, die Ideologie des Islamismus bekämpfen, die Regeln des Rechtsstaats verteidigen, sie aber eben auch vollziehen. Außerdem die vielen tollen Deradikalisierungs-Spezialisten und Sozialarbeiter unterstützen, sich zugleich auf das Wissen und die Kompetenz großartiger Leute aus den Immigrantencommunities stützen, in der polizeilichen und geheimdienstlichen Terrorismusbekämpfung effektiver werden, die Radikalisierungsmaschinen wie TikTok, X und Co regulieren oder abschalten…
Die Liste dessen, was besser gemacht oder ganz anders gemacht werden könnte, ist lang. Und klar, manche Probleme lassen sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen, es braucht schon auch Zeit. In den Nullerjahren galten junge Tschetschenen als „Problemcommunity“, aber mittlerweile ist hier sehr viel signifikant anders. Und, auch klar, man wird nicht jeden Anschlag und jede Gewaltkriminalität verhindern können. Das erwartet sowieso niemand. Aber ein Grundgefühl an Sicherheit wird mit Recht erwartet. Und wo sie nicht gewährleistet werden kann, werden Monster geboren.
Titelbild: Miriam Moné