Alle sind dafür, dass „transparent“ und „evidenzbasiert“ regiert wird. Das führt aber oft zu handlungsunfähigen Staaten.
Wenn die Rede auf den Staat kommt, ist es oft der Moment für die ganz starken Thesen. Für Thomas Hobbes war der Staat der Leviathan, das vielgliedrige Ungeheuer, das durch seine autoritäre Macht die Unordnung, die Anarchie und den Kampf aller gegen alle mit harter Hand stoppt. Für Radikalliberale und Libertäre ist jeder Staat, wenn er über den absoluten Minimalstaat hinausgeht, eine totalitäre Krake, die die Bürger versklavt, eine Krake, welche Staatsziele formuliert und durch Gesellschaftspolitik dem freien Einzelnen vorschreiben will, wie er zu leben hat. Für orthodoxe Marxisten ist er Zwangsinstitution der herrschenden Klasse, letztlich das bewaffnete Organ der Klassenherrschaft, eine Vorstellung, die häufig dazu führt, die Fähigkeiten dieses Staates zu überschätzen, wie überhaupt der „Klassenherrschaft“ eine Planmäßigkeit unterstellt wird, die sich in der Realität selten aufspüren lässt. Der „imperialistische Staat“ ist aus dieser Sicht in der Lage, die ganze Welt untertan zu machen, noch in die entferntesten Peripherien hineinzuregieren.
Kaum jemand hat ihn so richtig lieb, den Staat. Weshalb sich alle so ihre Gedanken machen, wie man den Klassenstaat zerschlagen kann (die Marxisten), ihn überhaupt gänzlich loswerden kann (die Anarchisten), ihn so verschlanken kann, dass er zu einem ausgemergelten Hungerleider wird (die Neoliberalen), oder ihn zumindest soweit mit Regeln bändigen kann, dass seine Repräsentanten auf keine blöden Ideen kommen (alle gemäßigten Rechts- bis Linksliberalen).
Dabei widerspricht das alles recht häufig der Wirklichkeit des Staates, der ja meist überfordert ist, sehr häufig auch ängstlich, und der sich eher öfter als seltener als handlungsunfähig oder übervorsichtig erweist. Als ein Staat, der scheitert. Oft auch wegen der Versuche, ihn zu bändigen.
Übervorsichtige Entscheidungsträger
Eine Forderung, auf die sich sowieso alle immer einigen können, ist, dass der Staat „transparent“ sein, dass Korruption bekämpft werden soll und dass staatliches Handeln genau „evaluiert“ sein soll, also die Wirkungen staatlicher Maßnahmen gemessen und erfasst werden sollen, um dann herauszufinden, ob sie gut oder schlecht sind. „Evidenzbasiert“ soll es ja sein. Alles absolut richtige Forderungen. Wer wäre schon gegen Transparenz und Evidenz?
Meine Lebenserfahrung und meine gelegentliche Nähe zu Entscheidungsträgern hat mich mittlerweile zu einem halben Gegner von Transparenz und Evaluierung gemacht.
Wenn du mit Regierenden oder deren Helfern zusammensitzt, dir ein paar gute Maßnahmen oder Handlungen ausdenkst, dann kommt meist sehr bald der Einwand: Ui, wenn wir das so machen, haben wir den Rechnungshof an der Backe. Oder: Ui, wenn wir das so machen bekommen wir eine parlamentarische Anfrage von der FPÖ.
Regierende würden natürlich gerne nützliche Maßnahmen setzen, aber noch viel mehr Angst haben sie vor parlamentarischen Anfragen der FPÖ – und da lassen sie die Handlungen lieber sein.
Wenn ich dann sage: Wen bitte schön interessiert eine parlamentarische Anfrage der FPÖ, dann schauen sie mich an wie einen Außerirdischen.
Lösungen? Brauchen leider jahrelangen Papierkram
Ich erinnere mich, dass einmal ein Bezirksvorsteher und ein tolles Architekten- und Ingenieursbüro eine klasse Idee hatten. Eine schöne, aber auch keine große Sache. Dafür hätte es etwas Wirtschaftsförderung gebraucht, keine gigantischen Summen. Heute wagt natürlich kein Stadtrat mehr, solche Summen selbst freizugeben. Dafür gibt es transparente Abläufe, in denen auch die Erfolgsaussichten genau geprüft werden, wegen der Evidenz und Evaluierung. Man muss dann einen riesigen Papierkram erledigen, bei dem es meist so ist: Könnte man alle Fragen schon beantworten, bräuchte man das Projekt nicht mehr – der Sinn der Förderung wäre ja, dass man dann ein Jahr arbeitet und dann schlauer wird, nicht, dass man vorher schon alles weiß. Und wenn man das einmal erlebt hat, denkt man sich: Mit diesem System wollen wir die Ökotransformation in den nächsten zehn Jahren schaffen? Leider, liebe Enkel, wir werden Euch eine unbewohnbare Welt hinterlassen, weil der Papierkram zu arg war.
Ich wünsche mir heute manchmal mutigere, selbstbestimmte Naturen, die gelegentlich eine spannende Entscheidung treffen, ohne sich vor dem Rechnungshof zu fürchten.
Ich erinnere mich auch gerne daran, als Christian Kern Bundeskanzler war und einige Termine in seiner Rolle als SPÖ-Parteichef in der Tiroler Peripherie hatte und dann einige in seiner Rolle als Bundeskanzler, etwa beim Forum Alpbach. Unsere Transparenzregeln zur Bekämpfung von Korruption und illegaler Parteienfinanzierung sehen ja lobenswerterweise vor, dass Finanzmittel des Bundeskanzlersamtes nicht für Aufgaben von Parteien missbraucht werden dürfen. Sehr richtig natürlich! Aber sie ahnen schon, was das in der Realität bedeutet: Es waren dann zwei Autos Richtung Westen unterwegs. Das eine brachte den Parteichef zu seinen Parteiterminen, und wenn er dann zu den Kanzlerterminen musste, stieg er um. Das ist in Sachen Korruptionsbekämpfung ganz toll, ökonomisch und ökologisch natürlich vertrottelt. So Leute wie ich schauen dann erstaunt und sagen: „Ja, seid ihr den alle verrückt geworden?“
Gute Regeln, absurde Ergebnisse
Auch Werner Kogler, bis vorgestern Vizekanzler, war einmal, wenn ich mich recht erinnere, mit dem Dienstwagen in der Steiermark in seiner Staatsrolle unterwegs, und musste dann zu einem Parteitermin. Er mietete sich dafür dann ein Leihauto und lenkte selbst. Sehr lobenswert. Ob das sehr zeiteffizient in Hinblick auf den sehr durchgetakteten Terminplan eines Spitzenpolitikers ist, sei dahingestellt. Wenn wir diese Exempel als Beispiele für Grundsätzlicheres nehmen, dann müssen wir festhalten: Es sind ja keine falschen Regeln, die falsche Ergebnisse bringen, sondern es sind die richtigen Absichten, die in unerwünschte Ergebnisse ausarten.
Wer ein gewisses Zeitzeugenalter erreicht hat, kann sich noch daran erinnern, wie in den neunziger Jahren das „New Public Management“ zum großen Hype wurde, von dem nichts als große Phrasen übriggeblieben sind.
Wer sich national und international mit Politik beschäftigt, kann unendlich viele solche Anekdoten erzählen, die allesamt auch etwas über das Scheitern von Staaten erzählen, die vom Geist beseelt sind, dass die strenge Bindung von Amtsträgern an Regeln und die Transparenz dieser Regeln staatliches Handeln besser machen würden.
Unlängst saß ich mit einem jungen, radikalen Wissenschaftler beim Abendessen und wir tauschten Schnurren aus der Welt scheiternder Staaten aus. Nun ist die westliche, demokratische Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten zur richtigen Auffassung gekommen, dass Außenpolitik nicht nur Diplomatie zwischen Staatsmännern und staatlichen Amtsträgern ist, sondern dass sie demokratische Zivilgesellschaften unterstützen muss. Natürlich darf das aber nicht heißen, dass ein deutscher Botschafter in Afghanistan rumsitzt, einen prall gefüllten Geldkoffer hat und die Kohle verteilt. Das wäre nicht transparent und würde den Botschafter zu Korruption verleiten. Das Geld muss an die Zivilgesellschaft gehen, was dann schon zum Wettlauf um die Frage führt, wer denn eigentlich „Zivilgesellschaft“ ist. Ist ein Gewerkschafter, der auch im Parlament sitzt, noch „Zivilgesellschaft“, oder ist er schon „Staat“? Weil Zivilgesellschaft irgendwie freundlicher als Staat klingt, will heute jeder Zivilgesellschaft sein. Weil es klare Regeln braucht, hat dann jeder Diplomat seine Checkliste an Zivilgesellschaft, die er unbedingt unterstützen muss. Also Feminismus, Frauen, Gleichstellung, oder Demokratie und Teilhabe, oder Menschenrechte und so weiter. Er muss dann verzweifelt NGOs suchen, die in seine Checkliste passen. Findet er keine in schneller Zeit, ist das meist auch nicht schlimm, denn angesichts der Aussicht auf westliche Gelder wird sich sicher eine NGO gründen, die passt, auch wenn sie vielleicht in dem konkreten Land gar nicht benötigt wird. Umgekehrt gibt es oft großartige Initiativen, die ganz wichtig für das konkrete Land sind, die leider nur den Nachteil haben, nicht in westliche Checklisten zu passen. Der arme Botschafter wird sie enttäuschen müssen.
„Imperialisten“ mit Excel-Dateien
Das ist dann der Punkt, bei dem mich der Verdacht beschleicht: Wäre es nicht doch besser, der Botschafter hätte einen fetten Geldkoffer und kann mit den Mitteln machen, was er für richtig hält? Vorausgesetzt der Botschafter ist ein fähiger Typ, der für seine Sache brennt, wäre das Ergebnis wohl ein besseres.
Jenseits der Anekdotik kann man über diese Fragen des „transparenten“, „effizienten“ und „evidenzbasierten“ Regierens auch einige systematische Überlegungen anstellen. Es ist eine leicht verständliche Eigenart von lange existierenden Systemen, dass sie komplexer werden. Sie bearbeiten Probleme, entwickeln eine gewisse Komplexität, daraus entstehen neue Probleme, es kommen auch mit der Zeit neue Aufgaben hinzu, und Systeme aller Art neigen dann natürlich dazu, auf komplexe Systeme Schichten neuer Komplexität zu türmen. Ist ein System komplex, aber ineffizient, werden irgendwelche Juristen dann neue Regeln etablieren, die das System noch komplexer machen. Zunächst landet man in einem Irrgarten, in dem sich nur mehr die Juristen auskennen, was gut für die Geschäfte der Juristen ist, und in weiterer Folge in einem Irrgarten, in dem sich nicht einmal mehr die Juristen auskennen, was aber nicht unbedingt schlecht für den Geschäftsgang der Juristen ist.
So funktioniert also der moderne Leviathan.
Manchmal stelle ich mir vor, dass in Kabul irgendein trauriger Botschafter herumsitzt und versucht, grüne Häckchen in Excel-Dateien mit NGOs zu tippen, während in den Hauptstädten irgendwelche kommunistischen Studenten in Uni-Seminaren sitzen und große Reden vom „imperialistischen Staat“ schwingen, ohne zu wissen, dass der reale Staat mit ihrem Phantasiestaat überhaupt nichts zu tun hat. Oder Regierungsverhandler von den NEOS, die bei jeder Thematik wenig Beiträge zur sachlichen Seite der Angelegenheit leisten, aber immer nur „Transparenz“ und „Evaluierung“ einfordern.
Titelbild: Miriam Moné