Die Kundgebungen für Demokratie und gegen Korruption in Serbien setzen das Regime unter Druck. Die europäischen Staaten sollten sich klar positionieren. Doch Interessens- und Loyalitätskonflikte scheinen sie daran zu hindern.
Das Ereignis, das die immer stärker werdenden Massenproteste in Serbien ausgelöst hatte, trug sich bereits im November vergangenen Jahres zu. Am 21. November berichtete die deutsche Tagesschau:
Am 1. November war das Vordach des Hauptbahnhofs von Novi Sad eingestürzt. Die Trümmer hatten Dutzende Menschen unter sich begraben. 15 von ihnen starben, zwei weitere Menschen schweben noch immer in Lebensgefahr. […] Das Unglück hatte Serbien erschüttert und in Novi Sad sowie in der Hauptstadt Belgrad Proteste ausgelöst. Heute blockierten Demonstranten den dritten Tag in Folge den Eingang zu einem Gerichtsgebäude in Novi Sad, in dem auch die Staatsanwaltschaft untergebracht ist.
Bald aber war klar, dass der Auslöser der Proteste nur ein Symptom war. Anfang Januar besuchte eine mit mir befreundete Schriftstellerin, die in Belgrad lebt, Wien und berichtete mir ausführlich über die Demonstrationen und ihre Sicht der Dinge. Es ist ganz eindeutig, wofür man in Serbien auf die Straße geht: für Demokratie, für demokratische Kontrolle, gegen Autokratie und Korruption.
Die Regierung wird nervös
Inzwischen ist auch der Staatsführung klar, dass diese Forderungen nicht mehr wegzureden sind. Thomas Roser berichtete für Die Presse aus Belgrad:
Von mehr als 100.000 Demonstranten sollen später die Polizei, von mindestens einer halben Million Menschen unabhängige Analysten sprechen. Gemeinsam mit Arbeitskollegen ist die Anthropologin Miroslava Lukić-Krstanović unterwegs. Nein, einen „D-Day“ oder den von vielen ersehnten Sturz der serbischen Führung erwarte sie nicht, sagt sie lächelnd. Doch den Studenten sei es mit den Sternmärschen quer durch das ganze Land geglückt, selbst die Bevölkerung in der Provinz wachzurütteln: „Den Studenten ist es gelungen, das Wertesystem und die Gesellschaft zu ändern.“
Die Regierung von Aleksandar Vučić scheint nicht zu wackeln, wird aber zumindest zunehmend nervös. Für die Tageszeitung Der Standard berichtet Adelheid Wölfl aus Belgrad und lässt dabei den Politologen Filip Ejdus zu Wort kommen:
In der derzeitigen geopolitischen Situation nütze Vučić auch der Umstand, dass der neue US-Präsident Donald Trump in Europa nach Verbündeten suche, die die EU schwächen wollten. „Dazu gehören der slowakische Premier Robert Fico, der ungarische Premier Viktor Orbán und eben Vučić, der sehr gern bereit ist, dieser Anti-Brüssel-Koalition von Trump beizutreten.“
Alleine gelassen
Der Politikwissenschafter hofft, dass die EU in dieser Situation „aufwacht“ und sowohl die Studierenden als auch die Opposition in Serbien unterstützt. „Aber ich zähle nicht darauf. Wir müssen unseren Kampf selbst führen.“ Der Enthusiasmus für die EU sei ohnehin stark gesunken.
Es ist deutlich herauszuhören: Europa lässt die demokratisch gesinnten Serbinnen und Serben allein – wieder einmal. Es ist nicht verwunderlich, dass die Europäische Union für die Demokratiebewegung in Serbien ein fragwürdiger Partner ist. Jene Staaten, die der EU und der NATO angehören, haben einen handfesten Loyalitätskonflikt, den sie einfach nicht zugeben wollen. Die jüngsten Stellungnahmen von NATO-Generalsekratär Mark Rutte machen klar, dass die europäischen Konservativen und Rechten Donald Trump die Stange halten und Russland mit Samthandschuhen anfassen. Sie werden auch zusehen, wie Autokraten wie Viktor Orbán die Europäische Union torpedieren.
Europa hat die Serben schon einmal allein gelassen. Und was sollen die demokratisch gesinnten Serbinnen und Serben erst von Österreich denken, wenn sie die Bilder sehen, die den früheren Kanzler Karl Nehammer mit Aleksandar Vučić und Viktor Orbán eine sechshändische Faust bilden sehen: Für die angeblichen „Hardliner“ bei einem sogenannten „Migrationsgipfel“ ist der Kampf für Demokratie und gegen Korruption wohl nicht oberste Priorität gewesen.
Vučićs absehbare Propaganda
Anstatt einzulenken verbreitet der angeschlagene Aleksandar Vučić Propaganda. Julian Borger in The Guardian:
A vast demonstration has been gathering in Belgrade, marking the climax of more than four months of student-led protests and the biggest challenge to President Aleksandar Vučić in the 11 years of his increasingly autocratic rule.
Vučić stoked tensions in the run-up to yesterday’s mass protest, suggesting there would be an attempt to overthrow him by force and calling it an „imported revolution” with the involvement of western intelligence agencies, but he provided no evidence for the claims. The demonstrations against government corruption and incompetence have so far been overwhelmingly peaceful.
Während Serbien droht, ein zweites Weißrussland zu werden, bemüht das Regime dort die immer gleiche Propaganda: Den Demonstrierenden wird Gewalt unterstellt und sie werden als Handlanger von Geheimdiensten hingestellt. Indessen werfen Demonstrierende der Regierung vor, Schallwaffen gegen sie eingesetzt zu haben. Es handelt sich um sogenannte LRAD (Long Range Acoustic Devices), die mit enormer Lautstärke Töne von hohen Frequenzen aussenden, die zu Schmerzen, Gehörschäden und Schwindel auslösen. Die Regierung streitet das ab. Die serbische Zeitung Danas berichtete gestern:
Zuvor hatten die Studierenden in der Blockade die Reaktion der Behörden während einer friedlichen Protestaktion scharf verurteilt. Diese hatten angeblich ein Gerät eingesetzt, dessen Wirkung der eines Funkwellensenders entspricht – eine Waffe, die in Serbien nach Artikel 106 des Polizeigesetzes verboten ist.
Verbotene Waffen gegen Demonstranten?
„Das Innenministerium behauptet, dass keine Waffen eingesetzt wurden, doch gleichzeitig leiden Hunderte von Bürgern unter Symptomen wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Herzüberwachungsgeräten, die nicht mehr funktionieren“, erklärten die Studenten in der Blockade.
Das Schicksal der Demokratiebewegung geht uns alle an. Es ist auch unser Schicksal. Während Westeuropa in den 1990er-Jahren das Schwinden der Bedeutung des Nationalstaats betont hat, hat es außenpolitisch die Gründung neuer Nationalstaaten als Folge der Auflösung der UdSSR und Jugoslawiens begrüßt. Ein Widerspruch, der zu denken gibt. Um die Demokratie in diesen Nachfolgestaaten hat man sich nicht gekümmert.
Auch unser Schicksal wird in Serbien entschieden. Die Demonstrationen zeigen, dass es dort einen Kampf um die Demokratie gibt. Das sollte uns wichtiger sein als das momentane Aufrüstungsgeschrei, das die Prioritäten der Europäische Union zurzeit in einem fragwürdigen Licht erscheinen lässt. Wichtig wäre es zuerst, sich deutlich gegen pseudo-demokratische und autokratische Regierungen zu positionieren.