„Manchmal streifte mich der Mantel der Geschichte. Aber in Erinnerung bleiben vor allem die schrulligen Geschichten.“ – Robert Misik über seine geschichtsträchtigsten Momente
Unlängst hing ich nach einem langen Tag am Flughafen Berlin-Brandenburg rum, und Willy Brandt hing da auch rum, nämlich an der Wand von der gerühmten Bar, für die wir hier nicht Werbung machen wollen, und es war der Brandt von den vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos, die noch ein wenig nach Nachkriegszeit aussahen.
Und weil ich müde war und auch wenig zu tun hatte – an den Durchgangsorten der mobilen Gesellschaft sind wir ja immer zur Immobilität, also zum Nichtstun verurteilt –, kam ich ins Erinnern.
Ich erinnerte mich daran, wie ich Willy Brandt als junger Journalist interviewt habe, und dann dachte ich mir, dass das jetzt echt schon ewig her ist, auch wenn es mir ganz anders vorkommt, und dass es mir schwerfällt, meine ungebrochene, leider ausschließlich gefühlte Jugendlichkeit mit dem Zeitzeugentum zusammenzubringen, das mich mit Fotos aus der Nachkriegszeit verbindet, jetzt, wo wir womöglich langsam in die Vorkriegszeit übergehen.
Interview unter Polizeiaufsicht? Nicht mit mir!
Und ich dachte weiter nach und erinnerte mich daran, dass es auch eine sehr lustige Begegnung war im Frühjahr 1989 mit Willy Brandt. Es war bei einer großen Konferenz aller Sozialistenführer in Wien, ich war damals echt erst zwei oder drei Wochen Journalist und die österreichische „Staatspolizei“ – wie damals Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfer noch hießen – kannte mich bisher nur als linksradikalen Radaubruder von friedlicheren und auch unfriedlicheren Demos und Aktionen.
Der diensthabende Stapo-Chef war plötzlich sehr nervös und gab seinen Leuten den Befehl, sich zu dritt an meine Fersen zu heften, was zugegebenermaßen eine etwas unangenehme Situation war, weil plötzlich war ich unter den vielen großen Staatenlenkern der bestbewachte, was definitiv nicht meiner Bedeutung entsprach. Außerdem konnte ich Willy Brandt ja schwerlich mit Staatspolizei-Eskorte interviewen. Also ging ich zum Herrn Oberst und erzählte ihm, als wären wir die besten Freunde, von den jüngsten Wendungen meines Lebens, worauf ich die Bewacher los war. „Herr Oberst, wie geht es ihnen denn? Lang nicht gsehn! Ich bin jetzt bei der Arbeiterzeitung.“ Der Oberst schaute sauer, so von der Art: Was, das linksradikale Arschloch darf das?
Als ich dann ein paar Jahre später beim Begräbnis von Willy Brandt war, begegnete ich dort Peter Kreisky, der meinte, er müsse jetzt noch zum Leichenschmaus, das werde sicher langweilig, ich solle doch mitkommen. So geriet ich ins Totenmahl von Willys engeren Weggefährten. An unserem Tisch saß ein dicker, älterer Herr, er stellte sich vor mit „ich heiße Kluncker“. Da ich schon damals ein Geschichte-Nerd war, war ich wahrscheinlich der Einzige am Tisch, der wusste, dass Willy Brandt seinerzeit einmal das böse Wortspiel mit dem Namen dieses durchsetzungsstarken Gewerkschafters machte: „Schafft mir bitte irgendwer diesen Kluncker vom Hals?“ Jetzt saß er da beim Leichenschmaus. Ich lachte still in mich hinein.
Wie ich Alexander Dubcek fast niederrannte
Daran also erinnerte ich mich, als der Willy da am Flughafen herumhing und beim Erinnern kam mir in den Kopf, dass viele journalistische Arbeiten nicht nur mit direkten Erinnerungen an die historischen oder auch weniger historischen Momente verbunden sind, sondern auch mit lustigen, abseitigen Anekdoten, in die man halt auch so stolpert. Die kleinen Geschichten in der großen Geschichte.
Etwa, wie in der tschechischen Revolution 1989 Abend für Abend am Wenzelsplatz demonstriert wurde. Vaclav Havel sprach jeden Abend vom Balkon eines Zeitungshauses. Nachher ging es in die Revolutionszentrale, in den Keller der Laterna Magica, eines berühmten Theaters. Täglich schwirrten Gerüchte umher, etwa, es werde jetzt bald einmal Alexander Dubcek sprechen, der legendäre Anführer des Prager Frühlings, der seit 1968 faktisch in Hausarrest saß. Dubcek wird sprechen! Wenn Dubcek spricht, der große Anführer des Prager Frühlings, der seither nicht wieder öffentlich aufgetaucht war, dann werde das den Sieg der Revolution bedeuten. Ja, so empfand man damals allgemein. Heute spricht Dubcek sicher, hieß es. Nächsten Tag dann: Aber heute spricht er ganz bestimmt ganz sicher. Bloß, die Tage vergingen, und Dubcek sprach nicht.
Natürlich wollte ich nie etwas versäumen, aber irgendwann einmal musste ich unbedingt aufs Klo, ich konnte es einfach nicht mehr zurückhalten. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, lief ich von Havels Balkon, von dem er gerade sprach, in höllischem Tempo das Treppenhaus hinunter, nahm immer drei Stufen auf einmal, denn dort ist das Klo, wusste ich. Dabei rannte ich in einen alten Mann, im letzten Moment konnte ich abbremsen, nicht auszudenken, was passieren hätte können, hätte ich ihn das Treppenhaus runtergerempelt. Ich schaute auf, erkannte das Gesicht. Das war ja Dubcek. Mir war gleich klar: Er wird jetzt reden, also hat die Revolution gesiegt. Zum Glück hatte ich ihn nicht die Stufen runter getreten.
Später traf man sich in der Laterna Magica, Havel und Dubcek gaben eine Pressekonferenz, es wurde allerlei nostalgisches Zeug geredet über den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Irgendwer flüsterte Havel etwas ins Ohr. Havel berichtete daraufhin, „das tschechoslowakische Fernsehen gab gerade bekannt, dass das Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei geschlossen zurück getreten ist“. Alle jubelten. Spät in der Nacht wollte auch noch der Sprecher der KP eine Pressekonferenz geben, und zwar im Hotel Intercontinental. Die wurde aber von Stunde zu Stunde verschoben, bis in die frühen Morgenstunden. Ich trank derweil im Zimmer von Barbara Coudenhove-Kalergi ihre Minibar leer. Schließlich musste man ja die Wartezeit überbrücken. Journalismus ist oft eine elende Warterei, müssen sie wissen. Gut, dass die Minibar voll dieser kleinen Wodkaflaschen war.
Wie ich die Tschechen bezauberte
Als dann um drei Uhr nachts die Pressekonferenz begann, laberte der Sprecher nur langweiliges Bürokratenzeug. Ich meldete mich, um eine Frage zu stellen, aber der Wodka hatte mich etwas enthemmt, und so ging die Frage eher in eine kleine Brandrede über und in die Frage, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben, uns wegen dieses sinnlosen Geredes die ganze Nacht wach zu halten, und dass sie sich endlich vom Acker machen sollen, it’s over mit dem elenden Spätstalinismus.
Nächsten Tag war ich müde und auch ein wenig verkatert, aber die Tschechen waren alle sehr fröhlich gestimmt. Sie lächelten mir zu, der Verkäufer beim Kiosk behandelte mich wie seinen besten Freund, auf der Straße lachten mich die Leute an. Ich dachte mir wenig dabei, rechnete es dem Umstand zu, dass Jahre der Depression von dem Land mit einem Mal abfallen. Im Hotel klopfte mir der Liftboy auf die Schulter. Auch er war ungewohnt zutraulich. „Großartige Rede heute Nacht im Fernsehen“, sagte er dann. Jetzt verstand ich, warum alle Tschechen heute so freundlich zu mir waren.
Ich weiß ja nicht, ob es allen Journalisten so geht, aber ich trete mir bei meiner Arbeit immer wieder so lustige Anekdoten ein, aber ich denke doch, dass das nicht mir alleine widerfährt, und vielleicht sollte man die Berichterstattung mehr auf die schrulligen Schwänke konzentrieren, das gäbe ihr gleich mehr an Menschlichkeit. Vielleicht erzähle ich Ihnen bei Gelegenheit, wie ich beim Pogrom in Rostock-Lichtenhagen einen Nazi mit seiner eigenen Deutschland-Fahne würgte – und warum das eher keine so schlaue Idee war. Oder wie ich Yanis Varoufakis ausredete, seine linke Basisbewegung Eudora zu nennen – „Yanis, so heißen bei uns in Deutschland Waschmaschinen“ –, weshalb die DIEM 25 genannt wurde, was sie aber auch nicht viel erfolgreicher machte. Im Grunde hätte er sie auch Eudora nennen können oder Zanussi Jetsystem. Dass ich einmal illegal mit dem Taxi über den Checkpoint-Charlie fuhr, und die DDR-Stasi mich aus Angst gewähren ließ, ist auch eine lustige Geschichte – vor allem, weil ich es nur tat, um endlich mal wieder einen Big-Mac beim Macci am Kurfürstendamm zu essen. Muss ich Ihnen auch mal erzählen.
Liebe Grüße, Ihr Mäuschen!
Alexander Dubcek bin ich später dann noch einmal begegnet, ich glaube er war damals Parlamentspräsident und ich kann mich nur mehr erinnern, dass es ein prunkvolles Dinner in imperialer Atmosphäre auf irgendeiner Burg war, entweder in Prag oder in Bratislava. Heinz Fischer hat mich damals mitgenommen, ich war aber zum Glück noch rebellisch und nonkonformistisch genug, um mich für meine Unkenntnisse bürgerlicher und höfischer Etikette nicht zu schämen. Ich erklärte, dass ich keine Ahnung habe, in welcher Reihenfolge ich die acht oder zehn Gabeln, Messer und Löffelchen zu benützen habe. Ein freundlicher Sitznachbar erklärte mir das dann alles.
Danach erzählte er mir, dass mein Name „Misik“ in der Slowakei sehr verbreitet sei und „kleines Mäuschen“ bedeutet. Dass Alexander Dubcek in Bratislava den Großteil seines Lebens in der „Misikova“-Straße wohnte, habe ich leider erst viele Jahre später erfahren.
Diese Eindrücke werden nie verblassen, denn die Geschichte war in ihnen besonders lebendig. Auch heute habe ich oft das Gefühl, kurz vor einem historischen Wendepunkt in Europa zu stehen. Das gibt unseren Schritten Gewicht – und die Verantwortung, das Richtige zu tun. Nichts fühlt sich besser an.
Titelbild: ZackZack