Freitag, April 18, 2025

Schon wieder nur Hoffnung

Der Kampf um Demokratie und das Aufbegehren gegen autoritäre Staatsführung und wirtschaftlichen Verfall hat nun auch in den türkischen Städten begonnen. Auslöser war die Verhaftung des Oppositionspolitiker und Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu.

Ruth Michaelson and Faisal Ali berichten im Guardian aus Istanbul:

Ein Istanbuler Gericht hat den Bürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu, wegen Korruptionsvorwürfen offiziell verhaftet und ihn an dem Tag, an dem er von seiner Partei für die Präsidentschaftskandidatur nominiert wurde, in Untersuchungshaft genommen, während sich Zehntausende Demonstranten in der Stadt versammelten.

Die Demonstranten, die sich den fünften Abend in Folge in der Nähe des Istanbuler Rathauses versammelten, waren wütend über die Entscheidung, İmamoğlu offiziell zu verhaften, und sahen sich mit der Polizei konfrontiert, die Pfefferspray in die Menge sprühte und Tränengas abfeuerte. In Izmir zeigten Videos, wie die Polizei versuchte, die Proteste mit gepanzerten Wasserwerfern aufzulösen.

Dieser Schlag gegen Recep Tayyip Erdoğans Herausforderer, der nun auch zum Präsidentschaftskandidaten der türkischen Oppositionspartei CHP gewählt wurde und als die größte Hoffnung für eine demokratische Wende in der Türkei gilt, kommt wohl nicht von ungefähr. Doch auch der Widerstand, der sich prompt in allen großen Städten des Landes gegen die offensichtlich politisch motivierte Verhaftung formierte, wurde unterschätzt. Wolf Wittenfeld in der TAZ:

Und die Reaktion ist überwältigend. Lange Schlangen bildeten sich vor den Parteilokalen der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP überall in der Türkei. Just für diesen Sonntag hatte die Partei İmamoğlus die interne Wahl für den Präsidentschaftskandidaten angesetzt und angesichts der aktuellen Entwicklung symbolisch auch für Nichtparteimitglieder geöffnet.

Kaum jemand hatte mit einem solchen Andrang gerechnet. In manchen Stadtteilen Istanbuls bildeten sich kilometerlange Schlangen und regelrechte Verkehrsstaus. Die Stimmung unter den WählerInnen war durchaus kämpferisch. „Das ist ein Putsch von oben“, sagte ein älterer Mann vor dem CHP-Parteilokal im Stadtteil Üsküdar. „Das werden wir nicht hinnehmen.“

Widerstand in Großstädten

Es ist ein Bild unserer Zeit, dass autoritäre Systeme in den Großstädten massiven Widerstand finden und diese mit allen Mitteln zu unterdrücken versuchen. Erschwerend kommt in der Türkei hinzu, dass von einer langjährigen Phase stabiler demokratischer Verhältnisse nicht die Rede sein kann.

Die politische Instabilität und die schlechte wirtschaftliche Lage führten zu einer Demonstration internationaler Solidarität: 1980 gewährte die OECD der Türkei über eine Milliade Dollar Finanzhilfen. Doch schon im selben Jahr erlebte das Land seinen dritten Militärputsch. Das verhängte Kriegsrecht galt bis 1987.

Als mit Tansu Çiller die erste Frau Regierungschefin des Landes wurde, galt Çiller, die in den USA studiert hatte, in der ganzen Welt als Hoffnungsträgerin. Doch die brutale Verfolgung von Kurden, die schlechte Menschrechtslage und massive Korruption zeigten bald, dass diese Hoffnungen unbegründet waren. Als Çiller schließlich mit einer islamistischen Partei koalierte, war ihre Ende gekommen.

Demos als „Straßenterrorismus“ diskreditiert

Und nach den Ereignissen der letzten Stunden, muss man sich fragen: Ist es schon wieder nur Hoffnung? Die Lage bleibt jedenfalls unübersichtlich. Das Wort Terrorismus für Demonstranten und jene, die politisch aufgebehren ist jedenfalls schnell zur Hand. Friederike Böge für die FAZ aus Istanbul:

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Proteste gegen die Festnahme seines Kontrahenten Ekrem İmamoğlu als „Straßenterrorismus“ bezeichnet. Die Türkei werde sich dem nicht „unterwerfen“, sagte er in einer Rede am Freitag. Der Parteichef von İmamoğlus Republikanischer Volkspartei, Özgür Özel, sprach in einem Aufruf zu Massenprotesten von einer der wichtigsten Nächte für die Demokratie in der Geschichte der Republik Türkei. Trotz des Demonstrationsverbots, das auf Ankara und Izmir ausgeweitet wurde, zogen am Freitagnachmittag abermals Tausende Demonstranten, vor allem Studenten, durch die Straßen.

Doch gibt es gerade vom konservativen Westen und aus den USA kaum Wortmeldungen. Ben Hubbard and Safak Timur für die New York Times:

Kritiker von Herrn Erdogan, der die türkische Politik seit mehr als zwei Jahrzehnten dominiert, werfen ihm seit langem vor, die Staatsgewalt zu nutzen, um seine Rivalen zu untergraben. Doch die Verhaftung eines Präsidentschaftskandidaten, um ihn im Rennen zu schwächen, bevor es überhaupt begonnen hat, stellt ihrer Meinung nach eine neue Stufe des Autoritarismus dar.

Einige europäische Staats- und Regierungschefs haben die Verhaftung des Bürgermeisters kritisiert und die türkische Regierung aufgefordert, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Hochrangige US-Beamte haben sich kaum geäußert.

Erdoğan geschont und verhätschelt

Hier liegt wohl das größte Problem: Sowohl als NATO-Staat, als auch jenes Land mit dem man angeblich die wichtigsten „Deals“ in der „Flüchtlingskrise“ geschlossen hat, ist die Türkei und ist Recep Tayyip Erdoğan immer geschont und verhätschelt worden, obwohl die Missstände sichtbar und bekannt waren und sind. Demokratie, Frieden und Menschenrechte scheinen nicht die Priorität der EU und der NATO zu sein.

So steht die Türkei heute vor einem alten Problem. Die Menschen, die dort auf die Straße gehen müssen die gleiche Einsicht gewinnen, die auch Demonstrierende und für Demokratie kämpfenden Menschen in Serbien und in Ungarn gewinnen: dass sie bei einer Veränderung des politischen Systems auf sich selbst angewiesen sind. Das gilt es zu bedenken, wenn heute so viel von gemeinsamer europäischer Verteidigung die Rede ist. Istanbul ist eine hauptsächlich europäische Metropole und ihr Schicksal ist für die Türkei und die Weltpolitik bedeutsam.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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