Freitag, April 18, 2025

Das Gras, in das er beißen wird

Karl-Heinz-Grasser ist tief gefallen. Doch er ist kein einzelner politischer Sündenfall. Seine Methoden haben Schule gemacht – und die Medien haben zu oft mitgespielt. Daniel Wisser über die größten Blender der Zweiten Republik.

Der einzig sinnvolle Grund, sich mit Karl-Heinz Grasser noch zu beschäftigen, ist, einen Einblick in die Entwicklung unserer demokratischen Kultur und vor allem der immer fragwürdigeren Rolle der Massenmedien im demokratischen Prozess zu gewinnen. Es ist in den letzten Tagen viel über seine Person geschrieben worden. Ich möchte den Blick auf etwas lenken, das meiner Ansicht nach in unserem Land breit diskutiert werden müsste: Die Verzerrung politischer Verhältnisse durch Personenkult in den Medien.

Es geht um das, was Sennett »das übermäßige Interesse an Personen auf Kosten der gesellschaftlichen Beziehungen« nennt. Diese Verzerrung ist Gift für die Demokratie. Möglicherweise klingt die Grasser-Geschichte aus heutiger Sicht läppisch. Nichts könnte alarmierender sein als dieser Gedanke. Er zeigt nämlich, dass die Methoden, mit denen Grasser »Politik gemacht hat«, heute schlauer, brutaler und erfolgreicher angewendet werden als noch vor 20 Jahren. Und in Österreich ist ihr bisheriger trauriger Höhepunkt der Durchmarsch des berufslosen und kompetenzlosen Sebastian Kurz vom Geilomobil bis ins Kanzleramt, der nur durch Medienversagen und das Fehlen einer öffentlichen Debatte so vor sich gehen konnte.

Die Propaganda vom »Schuldenberg«

Grasser wurde in einer seltsamen Situation Finanzminister: Die seit 1986 von Jörg Haider geführte FPÖ ging 1999 mit Thomas Prinzhorn als Spitzenkandidat in die Wahlen, wurde Zweiter, überließ der drittplatzierten ÖVP den Kanzler und machte Susanne Riess-Passer (heute: Riess-Hahn) zur Vizekanzlerin. Der Verzicht auf den Kanzlerposten bedingte, dass die FPÖ das wichtigste Ressort für sich beanspruchte: das Finanzministerium.

Dort wurde Grasser der erste kompetenzlose Finanzminister der Zweiten Republik. Er wurde zunächst im Sinne jener Propaganda tätig, die Kanzler Schüssel im ganzen Land verbreitete. Nachdem Schüssel seit 1989 Regierungen der SPÖ und ÖVP angehört und ihre Entscheidungen im einstimmigen Ministerrat mitgetragen hatte, behauptete er plötzlich, »die Roten« hätten »einen Schuldenberg« hinterlassen. Schüssel stellte Grasser einen Staatssekretär an die Seite: Alfred Finz. Finz sagte am 16. Oktober 2000 im Interview mit profil: »Wir haben nun einmal einen Riesen-Schuldenberg abzubauen, den uns die roten Finanzminister hinterlassen haben.«

Nulldefizit

Karl-Heinz Grasser begann seine Arbeit am Nulldefizit. »Ein guter Tag beginnt mit einem sanierten Budget«. Mit diesem Satz paraphrasierte er die Werbung der Tageszeitung KURIER: »Ein guter Tag beginnt mit der besseren Zeitung«. Ähnlich sollte später etwa der Slogan »Sagt der Hausverstand« der Marke BILLA bis zum Erbrechen von Politikern übernommen werden; besonders von jenen, die immer wieder vom Boulevard gepusht werden und sogar mit den Inhabern von Boulevardzeitungen geschäftlich kooperieren.

Jedenfalls: Aus dem versprochenen Nulldefizit wurde nichts. Hans Rauscher schreibt am 25. März  2025 in der Tageszeitung Der Standard: »Zu den harten Facts gehört, dass Grasser kein guter Finanzminister war. Das von ihm gefeierte Nulldefizit war ein durch Goldverkäufe der Nationalbank erzielter Einmaleffekt, die Abgabenrate stieg sogar.«

Der letzte Freund

Schon 2002 redete Schüssel sein eigenes Ziel klein und begründete das mit dem damaligen Hochwasser im Monat August. Grasser, der sich in der Regierung anfangs aus Budgetgründen gegen den Eurofighter-Kauf ausgesprochen hatte, fiel auch hier um. Das Ende der seltsamsten Regierung Österreichs, des Kabinetts Schüssel II, war auch das Ende von Grasser als Finanzminister. Zum Defizit: Bei einem Schuldenstand von 141 Milliarden hatte Grasser im Jahr 2000 sein Amt übernommen. Bei seinem Ausscheiden 2007 hinterließ er Schulden in der Höhe von 185 Milliarden. (Da war diese Summe für die ÖVP aber kein »Schuldenberg« mehr.)

Das Beunruhigende an der österreichischen Politik ist aber, dass Fakten und Inhalte nur einen kleinen Teil der politischen Diskussion ausmachen. Der große Teil besteht aus Human-Interest-Storys, depolitisierter Kolportage, die aufgrund der handelnden Personen als Politikberichterstattung verkauft wird. Grasser, der mit seiner Hochzeit für Schlagzeilen sorgte, Fanpost auf Staatskosten verschickte und nicht mehr als Politiker, sondern als Celebrity auftrat, hatte nur mehr einen letzten Freund: die Boulevardzeitungen.

Moralischer Flachwurzler

Beinahe wäre Grasser – zumindest war das der Wille des scheidenden Kanzlers Schüssel – ÖVP-Vizekanzler in der großen Koalition von 2007 geworden. Doch der ÖVP-Vorstand war dagegen, Schüssel ging. Politisch war Grasser am Ende. In der FPÖ galt er längst als persona non grata; schon 2003 hatte sein Ziehvater Jörg Haider ihn als »moralischen Flachwurzler« bezeichnet. Im Zusammenhang mit vielen Verfahren rund und fragwürdige Geschäfte tauchte sein Name immer wieder auf. Und nun folgt, womit sich leider Freunde und Gegner im Übermaß beschäftigen, jene Schmiere, deren Entstehen nur als Versagen der Medien gewertet werden kann.

Grasser greift nun zur ältesten und banalsten Taktik, Aufmerksamkeit zu erzeugen: er fingiert Feinde. Die Bühne für seinen abgeschmacktesten Auftritt bietet ihm eine Sendung des ORF, in der es angeblich um Politik geht. Grasser sitzt zwischen Moderatorin Ingrid Thurnher und dem Politologen Peter Filzmair. Von den Boulevardzeitungen immer noch gefeiert, scheint doch kaum jemand seine Stimme für ihn erheben wollen. Also tut er es selbst.

Es ist wirklich traurig

In dieser Sendung liest Karl-Heinz Grasser einen Brief vor, den er angeblich von einem weiblichen Fan bekommen hat. Ob er diesen Brief selbst verfasst hat oder ob er echt ist, tut nichts zur Sache. Vor teils erstauntem, teils lachendem und teils zustimmend nickendem Publikum zitiert er die Fanpost: »Sie sind für diese abscheuliche Neid-Gesellschaft zu jung als Finanzminister gewesen, zu intelligent, zu gut ausgebildet, aus zu gutem wohlhabenden Haus, zu schön [Gelächter im Publikum] – und was für alles der Punkt auf dem I ist, auch noch mit einer schönen und reichen Frau verheiratet. So viel Glück darf ein einzelner Mensch einfach nicht haben. Da muss man etwas dagegen tun. Es ist wirklich traurig.«

Schablone für Kurz

Es kommt nicht von ungefähr, dass ich Sebastian Kurz immer wieder in diesem Kontext nenne. Wer sich noch an die Briefe erinnert, die Kurz angeblich alle paar Wochen von Kindern bekommen hatte, und die sofort veröffentlicht wurden, sieht hier exakt dasselbe Muster:

  • Die Peinlichkeit Intimität zu benutzen

    Grasser benutzt sie, um Authenzität zu suggerieren. Er erzählt, wie er erscheinen möchte und unternimmt die Beurteilung seiner Person gleich selbst.

    • Die Umkehrung der Verhältnisse

    Ganz gemäß Sebastian Kurz’ frühem Diktum, man solle »kein Reichen-Bashing« betreiben, werden hier Vermögenverhältnisse auf reaktionäre Weise umgedreht: Die Reichen sind arm. Schönheit ist Unglück. Erfolg ist ein Fluch. Glück ist eine Last. Es ist der Zynismus der Oligarchie, der heute in den USA in einer Offenheit grassiert, die uns Angst macht und Angst machen soll.

    • Angriff auf die Justiz

    Anklagen und Verfahren, die laufen, sind nicht dazu da, Unrecht aufzuklären und Recht zu sprechen; die Justiz ist der Angriff der abscheulichen Neid-Gesellschaft auf den zu schönen Grasser.

    • Die Benutzung des Volks

    Die Stimme aus dem Volk, als die uns Grasser die angebliche Briefeschreiberin verkaufen will, unterliegt nicht dem Schutz, der ihm als öffentlicher angeblich nicht zuteil wird. Er benutzt sie.

    • Die fingierte Stimme des Volkes

    Und das ist auch der letzte und wichtigste Punkt: Wie in den Boulevardmedien wird hier die »Stimme des Volkes« fingiert, um mit dieser Fiktion Manipulation zu betreiben.

    Das Gras

    Was von Karl-Heinz Grasser bleibt? Als Finanziminister und somit Sach-Politiker: Nichts. Als Quelle für kabarettistische Belustigung: einige legendäre Sprüche. In der politischen Ethik: die Gewissheit, dass in der beginnenden Oligarchie unmoralisches Handeln, ja selbst gerichtlich verurteiltes Unrecht nicht mehr eingestanden wird.

    Karl-Heinz Grasser kann, um es mit Nestroy zu sagen, »das Gras schon wachsen hören, in das er beißen wird«. Ich fürchte, das Gras wird noch grasser werden.


    Titelbild: Miriam Moné

    Autor

    • Daniel Wisser

      Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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