Europäische Verteidigung muss vor allem eine Verteidigung der Demokratie und ihrer Grundpfeiler sein. Gesetzgebung und unabhängige Justiz sind solche Grundpfeiler. Doch angesichts der Verurteilung von Marine Le Pen sehen wir, wie einflussreich die antidemokratischen Kräfte bereits geworden sind.
Von europäischer Verteidigung ist viel die Rede in den letzten Wochen. Es geht dabei immer um die Anschaffung von Kriegsgerät, selten aber, um die Verteidigung der Demokratie. Es ist bestürzend, dass weder ein bedeutender Teil der Bevölkerung noch ein Großteil der Medien die Gewalten der Demokratie richtig verstehen. Gesetzgebung und Justiz sind ständig unter Beschuss. Die Medien tun nichts, um hier aufzuklären, im Gegenteil: Sie lassen sich instrumentalisieren.
Haarsträubend ist es, was da aufgeführt wurde, nachdem die Verurteilung der französischen Politikerin Marine Le Pen für die Veruntreuung von EU-Geldern und der damit verbundene Verlust des passiven Wahlrechts für fünf Jahre bekannt wurde. Dass die Täterin sich selbst zum Opfer macht, war wohl zu erwarten. Dass Gleichgesinnte wie Viktor Orbán und der gerichtlich verurteilte Straftäter Donald Trump sofort gegen die ihre Arbeit machende Justiz eines souveränen Staates und Bündnispartners wettern, überrascht ebenfalls nicht.
Relativierung der Justiz durch die Medien
Schlimmer ist, dass das Framing von »politischer Justiz« nun in allen Medien auftaucht, als ob ein Urteil in öffentlichen Debatten verhandelbar wäre. Da wurde nach bestehendem Recht ein bestehendes Gesetz angewandt. Sofort aber beginnt man in Medien »Pro und Kontra« dieses »Falls« zu diskutieren. Das ist nichts anderes als die Relativierung eines gültigen Gesetzes, das ein vom Volk gewähltes Parlament beschlossen hat, durch die Medien.
In dieser Relativierung liegt genau jene Demokratiefeindlichkeit gegen die man sich zur Wehr setzen muss. Hier gehen drei Prozesse Hand in Hand. 1. Das Bekämpfen der Rechtsstaatlichkeit durch bestimmte politische Parteien. 2. Die Einmischung anderer Länder in die unabhängige Justiz eines souveränen Staates. 3. Entsachlichung und Boulevardisierung der Pressesprache.
Ein politisches No-Go
Gegen den ersten Punkt wird man wenig tun können. Man kann aber denen entgegnen, die nun die französische Justiz attackieren. Der zweite Punkt wird für die Zukunft der westeuopäischen Demokratien sehr bedeutsam: Das Verhindern von Einflussnahme aus anderen Staaten. Das betrifft zwar auch Wortmeldungen zu den politischen Vorgängen, die ein diplomatisches und politisches No-Go sind, vor allem aber die teils legale, teils illegale Finanzierung rechter und neo-faschistischer Parteien aus anderen Staaten. Eine wehrhafte Demokratie muss alles tun, um illegale Finanzierungen aufzudecken und zu stoppen und den Rahmen für legale Finanzierung durch entsprechende Gesetzgebung so niedrig wie möglich anzusetzen oder Fremdfinanzierung überhaupt verbieten.
Der dritte Punkt ist am allerschwierigsten umzusetzen. Kapitalistischen Medien liegt an ihren Verkäufen, am Wert ihrer Werbeflächen; Skandalisierung, Klicks und Quoten sind ihnen wichtiger als Wahrhaftigkeit. Damit ist der Demokratie kein Dienst getan. Im Gegenteil. Es sickert Tag für Tag in unsere Sprache der Geist jener Rhetorik ein, die die Demokratie bekämpft. Und in vielen Fällen wird die antidemokratische Kampfrhetorik bereits nicht mehr als solche verstanden, sondern ihre Aussagen werden als Tatsachen hingenommen.
Scheindemokratische Umfragen
Ein politisches Urteil – das wäre ein Freispruch für Le Pen gewesen.. Er hätte die Ressentiments der Rechtspopulisten und Neo-Faschisten gegen die EU bestätigt. Doch EU-Gelder sind unsere Gelder und wer sie sich rechtswidrig aneignet, nimmt etwas, das uns gehört. Eine solche Tat zum Kavaliersdelikt oder überhaupt zu einem rechtmäßigen Vorgang zu machen, ist Demokratiefeindlichkeit par excellence.
Ich kann mich erinnern, als angesichts der wieder einmal geforderten »Sicherheitshaft für Asylwerbende« – eines Gesetzes, das in Österreich oft diskutiert, aber nicht ein einziges Mal als Entwurf vorlag, weil es verfassungswidrig wäre – die Kronen Zeitung das Ergebnis einer »Umfrage« unter ihren Lesenden präsentierte. (Keine Ahnung, ob zur Erstellung dieser Umfrage 500 oder 800 Leute angerufen wurden oder ob sie überhaupt angerufen wurden und das Ergebnis der Studie nicht aus einer Feder floss.) Jedenfalls sprachen sich laut dieser »Umfrage« 95 % der Befragten für die »Sicherheitshaft« aus.
Auf dem Weg zur Willkür
Wenn wir diese mediale Technik konsequent auf Gesetzgebung und Justiz anwendeten, dann würden in Zukunft Medien über Urteile »diskutieren« und »abstimmen«. Und wenn sich die richtigen Medien dieser Prozesse annehmen, bin ich sicher, dass ein Asylwerber, der am Brunnenmarkt einen Apfel stiehlt, zum Tode verurteilt, Karl-Heinz Grasser aber von Untreue, illegaler Geschenkannahme und Beweismittelfälschung frei gesprochen wird.
Ja, ein wenig weiter gedacht, kann man Gesetzgebung und Justiz dann überhaupt auflösen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen, alle entsprechenden Ausbildungen und Studien abschaffen und einer in der Boulevardpresse auftretenden Scheinöffentlichkeit alle Macht übergeben. Damit sind wir dann (wieder) an einem Punkt, an dem die willkürliche Inhaftierung von Menschen mit willkürlicher Begründung jederzeit möglich ist. Es gibt unfraglich nun schon in vielen Ländern politische Gruppierungen, die genau dorthin streben und zum Teil bereits an der Spitze der Regierungen dieser Länder stehen. Wir sehen, wie sie international ihre Loyalitäten zum Ausdruck bringen und das klare Schema einer Wir-Gruppe und einer Sie-Gruppe geschaffen haben.
Opfer-Täter-Umkehr
All das rechtfertigt nicht nur das Vorgehen gegen die Machenschaften rechter und neo-faschistischer Parteien, sondern zeigt, dass ein solches im Sinne der Selbstverteidigung der Demokratie notwendig ist. Allerdings hat das Urteil über Marine Le Pen damit gar nichts zu tun. Sie wurde einer Straftat überführt und schuldig gesprochen. Der politische Hintergrund ist eine bloße Behauptung und entspricht der Opfer-Täter-Umkehr, die immer der erste propagandistische Reflex der Faschisten war und der Neo-Faschisten ist.
Die westeuropäischen Demokratien müssen sich aber endlich zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die antidemokratische Einflussnahme und die massive Finanzierung und Unterstützung vor allem durch Quellen in Russland und den USA aufraffen. Und sie werden sich über die Loyalitäten in den Staatenbündnissen, denen sie angehören, Gedanken machen müssen.
Das Aufrüstungsgeschrei ist Ablenkung
Es ist nicht vorstellbar, dass man mit dem heutigen Ungarn überhaupt Verhandlungen für den Beitritt zu EU führen würde, ohne eine Reihe von Maßnahmen zur Demokratisierung zu fordern. Heute beginnen kleine Staaten mit autoritärer Regierung, die Union von innen aufzufressen. Bis jetzt hat man sie nur exkulpiert und zum Teil hofiert, auch wenn sie keinen Hehl aus ihrer demokratiefeindlichen Gesinnung machen.
Was die NATO betrifft, ist dieser Missstand noch eklatanter. Das Um-die-Wette-Schweigen, was die innenpolitischen Vorgänge in der Türkei betrifft, spricht Bände. Europa muss hier Stellung beziehen. Und Europa muss beginnen, sich zu verteidigen – zuallererst, indem es die Demokratie verteidigt. Das Geschrei nach Aufrüstung und Waffenkäufen ist eine bizarre Ablenkung. Noch hat man in Europa nicht verstanden, dass man den USA nicht vertrauen kann und redet sich die Lage schön. Zum Großteil proprietäre US-amerikanische Waffen zu kaufen, die womöglich noch durch den Hersteller remote steuerbar sind, und damit ein Europa zu bewaffnen, in dessen Gremien Demokratiefeinde und Neo-Faschisten immer stärker werden und dieses Waffenarsenal möglicherweise bald übernehmen, ist nicht das, was ein demokratisches, friedliches Europa braucht.