Wir Internet-Zombies: Was die Pathologien unserer Zeit mit Social Media & Co. zu tun haben.
An eher schlechten Tagen läuft es bei mir so: Ich wache auf und als erstes greife ich zum Smartphone, das neben mir liegt. Ich checke die Mails, dann Bluesky, dann Facebook und zuletzt Instagram, dann wieder retour. Ich bleibe bei diesem oder jenem verlinkten Text hängen, dann beim nächsten. Ich lese, was ich eigentlich nicht zu lesen vorhatte. Häufig schaue ich Unsinn. Dazwischen ärgere ich mich über das eine oder andere „provokante“, „meinungsstarke“ oder „edgy“ Posting, wobei es wenig Unterschied macht, ob ich die geäußerte Meinung ablehne oder sogar weitgehend teile, denn selbst die, denen ich grundsätzlich zustimme, sind im Internet sehr oft nervig. Meistens deshalb, weil die Meinung besonders krass, polarisierend oder im Schwarz-Weiß-Schema geäußert werden muss, damit ein schönes Wir-gegen-die-Anderen entsteht, mit Fanbases und verfeindeten Gruppen, die sich öffentlich kloppen und das Schlimmste heißen.
Der Mensch mit leicht anderer Ansicht muss bekanntlich stets als ein moralisch verachtenswertes Subjekt dargestellt werden, drunter macht man es heutzutage nicht.
Was so auf WhatsApp reingekommen ist, muss auch noch kontrolliert werden. Manchmal ist dann bereits eine Stunde vergangen, ich bin noch immer im Bett und schon wieder tief erschöpft. An diesen schlechten Tagen geht es dann so weiter, man greift zwischendurch zum Smartphone, schon empört man sich, ärgert sich, nimmt tausend Dinge für einen Augenblick wahr, um dann schon zum nächsten Ding zu scrollen. Manchmal ist man auch nur Opfer einer banalen selbstverschuldeten Reizüberflutung.
Widerfährt einem eine kleine Widrigkeit, bekämpft man sie, indem man sich durch den flüchtigen Medienkonsum von ihr ablenkt, womit man natürlich nur eine Widrigkeit auf eine andere türmt. Dazwischen erlebt man vielleicht noch das eine oder andere normale, alltägliche (Offline-)Ärgernis, auf das man gereizter reagiert, als man es sonst würde. Wenn dann der Tag zu Ende ist, hat man Gehirnmatsch, ist völlig gerädert, schlecht gelaunt, hat nichts Relevantes getan oder geleistet und ist auf sich selbst genauso böse wie auf die Welt und ein Internet-Zombie. Man ist müde, und dennoch schlaflos.
Erwachsene gegen Social Media besser gewappnet
Ein wenig überzeichne ich, denn einerseits neige ich wohl zu partiellem Suchtverhalten, andererseits bin ich mir der toxischen Seiten der neuen Technologien bewusst, lege das Teufelszeug willensstark weg, greife zum „Spiegel“, zur „Zeit“ oder zur „Süddeutschen“, bin mit dem Kulturgut Buch aufgewachsen, dem ich immer noch die Treue halte. Berufsmäßig bin ich sogar gezwungen, mir Konzentrationszeiten zu schaffen. Außerdem bin ich erwachsen, was auch bedeutet, dass mein Gehirn in recht gewohnten Bahnen und ausgetretenen Pfaden arbeitet, weshalb kuriose Synapsenverwicklungen wohl nur im Extremfall vorkommen. Ich habe meine stabilen Werthaltungen und wohl auch eine relativ fertige Ich-Identität, wobei in dem Fall „fertig“ nicht kaputt heißt, sondern „ausgereift“.
Zugegeben, zwischen „fertig“ in dem einen und „fertig“ in dem anderen Sinne kann manchmal nur ein schmaler Grat liegen.
In diesen Tagen reden ja alle über die Miniserie „Adolescence“, die vor wenigen Wochen in vier Folgen auf „Netflix“ ausgespielt wurde. Vor allem in Großbritannien hatte sie sofort Millionen Zuseher, rüttelte das Land auf und wurde schließlich sogar vom Premierminister und anderen im Parlament diskutiert. Weltweit dürfte die Zuseherschar derweil auf hunderte Millionen angeschwollen sein.
Interessant ist, dass die Leute – also das Publikum – die Serie mit unterschiedlichen Augen sehen, was alleine schon für die dramaturgische und künstlerische Qualität spricht. Die einen sehen in der Geschichte des 13-jährigen Jamie Miller, der eine Schulkollegin ersticht, vor allem das Thema von Frauenverachtung, Misogynie, Rape-Culture („Vergewaltigungskultur“) und Männergewalt und nehmen als zentralen Aspekt die „Incel“-Ideologie frustrierter, aggressiver Männer wahr.
Andere sehen vor allem eine orientierungslose Jugend, die mit den verrücktesten Identitätsangeboten bombardiert wird, und der Gehirnwäsche von Social Media sowie der dort agierenden Fanatiker hilflos ausgeliefert ist. Kinder, die driften, mobben, gemobbt werden, psychischer Gewalt ausgesetzt sind, sprachlos sind und hoffnungslos überfordert. Eine Jugend ohne Halt. Wahrscheinlich sehen andere noch etwas anderes. Täter, die Opfer sind, Außenseiter, die zu Schlägern und Mördern werden, die gar kein Selbstbild entwickeln und wenn, dann nur ein Negatives. Selbsthass bis Unterkante Oberlippe, der dann als Hass nach Außen explodiert.
Kind an fremde Welt verloren
Filmisch ist das alles famos gemacht, die schauspielerische Leistung ist brillant, und ein wirklich genialer Kniff ist dem Produzenten mit der, wie man hört, einzigen Vorgabe gelungen, die er gemacht hat: Nämlich, dass auch die Eltern des Täters Opfer sein müssen, keine Mit-Täter. Denn viel zu häufig ist es ja so, dass, wenn ein Kind eine Schreckenstat begeht, man nach der Schuld der Eltern sucht, und im Film tauchen dann gewohnheitsmäßig prompt verdrängte Geheimnisse auf. Typus: Der Gewalttäter, der selbst Gewalt erfuhr, der Vergewaltiger, der selbst missbraucht wurde, der Killer, dessen Kindheit voller Lieblosigkeit war. Dieser ganze Schmafu, sie kennen ihn. In „Adolescence“ sind die Eltern einfach liebe Normalos, die nichts falsch gemacht haben. Gute Leute aus der Arbeiterklasse, die aber ihr Kind in eine Welt verloren haben, zu der sie keinen Zugang haben, von der sie nicht einmal wussten. Sie sind auf ihre Weise auch Opfer.
Egal, das soll nicht der siebentausendste „Adolescence“-Essay werden, derer sind genug geschrieben. Aber es ist ja kein Zufall, dass die Serie so einschlägt, einen Nerv berührt, ein grassierendes Unbehagen, ein Krisengefühl. Ohnehin ist es oft so, dass die Rezeption eines bedeutenden Kunstwerkes genauso interessant ist wie das Kunstwerk selbst. Was spiegelt sich in der Rezeption? Das Krisengefühl, nicht nur, was wir mit der Welt anstellen, sondern mit uns selbst. Technologie, Kommunikationsformen, der aggressive Stil der Netzdiskurse, der ja nicht nur die Debatten ruiniert, sondern sogar unsere Gehirne.
Was schon bei einem Spät-Fiftysomething wie mir Gehirnmatsch anrichtet, wird Teenagersynapsen völlig verknoten, ist ja klar.
Mobbing ist arg genug, wenn es „nur“ in einer unmittelbaren Bezugsgruppe passiert, aber noch einmal etwas anderes, wenn es medial für alle sichtbar ausgestellt wird. Das Bedrohungsgefühl, die Angst vor dem Shitstorm, der dich immer ereilen kann, die Gefahr, als Person vernichtet zu werden, nur einer Verleumdung oder des vorsätzlichen, böswilligen Missverstehens wegen.
Die Algorithmen, die genau diese Reaktion wünschen und folglich auch begünstigen und auf Negativismus programmiert sind. Alle diese Pathologien, die unserer Zeit das Gepräge geben, und die eben nur zu einem Teil aus der Zeit kommen und zum anderen Teil aus der Technologie selbst, also aus deren Funktionsweise. Zeitgefühl und Technik lassen sich sowieso nicht mehr einfach so trennen, und die Vorstellung, dass die medialen Strukturen nur ein neutrales Instrument seien und gewissermaßen den Zeitgeist bloß zum Ausdruck bringen, aber nicht seine Ursache sind, war sowieso schon immer falsch.
Jede Zeit hat ihre Medien
Die großen Religionskriege des 16. Jahrhunderts ließen sich nicht ohne Buchdruck erklären und das Zeitalter der Revolutionen des 19. Jahrhunderts nicht ohne das Zeitungswesen und auch der heutige Dschihadismus würde ohne das Internet und der TikTok-Radikalisierung im Kinderzimmer anders aussehen. Zeit ließ sich nie von Technik trennen, und die Technik wiederum nie von der Eigentumsordnung.
Erregung bringt Geld
Wer mit unserer Erregung Geld verdient, wird sie zu seinem Vorteil schüren. Brutal gesagt: Wenn Pornhub mit Analsex-Clips, die jedes Kind barrierefrei sehen kann, Geld verdient, wird irgendwann manche 13-jährige glauben, dass sie das auch endlich im grindigen Stiegenhaus haben muss, weil das doch normal ist.
Man kann das auch Dialektik des Fortschritts nennen, die Tatsache nämlich, dass die Menschheit stets recht gut darin war, wie in der Frankenstein-Geschichte ohne bösen Vorsatz Monster zu erschaffen, die sich dann gegen sie wenden.
Depression, Übellaunigkeit, sektiererische Polarisierung, Konzentrationsschwäche, viele Ausprägungen von Jugend- und Teenager-Kriminalität, sogar der Terrorismus, Sexualverbrechen und Einsamkeit, all das ist natürlich nicht die alleinige Folge des technologischen Strukturwandels. Aber es lässt sich eben auch nicht erklären, wenn man diesen Strukturwandel ignoriert und ihn als eine neue, gewissermaßen „neutrale“ Etappe des Medialen ansieht und damit kleinredet.
Titelbild: Miriam Moné