Unabhängige starke öffentlich-rechtliche Medien sind immens wichtig. Sie sind die Phalanx, die ihren Speer in das Heer an privater Desinformation treiben kann. Vorausgesetzt sie sind frei von politischer Einflussnahme und liefern Qualität statt Propaganda.
Für meinen Großvater war der Gang in die Küche, wo auf einer Kredenz ein Radio stand, ein fast ritueller. Zu manch voller Stunde, auf jeden Fall aber um 12:00 für das Ö1-Mittagsjournal und später für das Ö1-Abendjournal trat er ihn an. Er hörte die Nachrichten immer in der Küche; der Fernsehapparat stand in einem anderen Zimmer und lief zu dieser Zeit nicht. Werbung, Unterhaltung und Information waren für ihn durch Orte und bestimmte Medien zweifelsfrei unterscheidbar. Ö1 war der Sender (und man muss hinzufügen die Redaktion), der er bei sachlicher Information am meisten traute und an deren Berichten er auch andere Darstellungen maß.
Heute ist die Unterscheidbarkeit dahin, die Strukurierung und Einordnung von Information dahin. Auf einem kleinen Kästchen, das wir überall mithaben, existieren Werbung, Einkauf, meist sinnloser Tratsch mit Freunden und Verwandten und Information nebeneinander. Man möchte meinen, dass eine solch prekäre Situation das Sensorium für die Unterscheidungskraft stärkt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im soeben erschienenen DOSSIER-Heft, das sich zur Gänze dem Thema Propaganda verschreibt, sagt Julia Herrnböck in ihren Artikel Warum wir Lügen glauben:
Unser Gehirn hat kuriose Eigenheiten: Es erkennt Muster, wo keine sind, und es neigt zur Annahme, große Ereignisse hätten eine große Erklärung – nur um dann Abkürzungen hin zur vermeintlichen Wahrheit zu nehmen.
Es ist ein Phänomen, das ich als Literat mit Besorgnis bis hin zur Existenzangst wahrnehme. Die Menschen wollen sich beim Lesen und beim Konsum von Information nicht mehr anstrengen. Gut, vielleicht war das immer so. Früher aber war vielschichtige und damit tatsächliche Information bis hin zu wissenschaftlicher Information nur mit bestimmter Befähigung rezipierbar. Das ist natürlich bis heute so. Nur hat in der Gesellschaft eine Verkehrung der Verhältnisse stattgefunden: Die Holschuld der Rezeptionsfähigkeit ist in eine Bringschuld der Medien umgewandelt worden.
Heute unterliegt man dem Irrtum, es liege an der Aufbereitung durch die Medien, wenn jemand nicht durch das Sehen eines Videos in fünfzehn Sekunden zum Experten für Energiepolitik wird. Wenn jemand heute eine Themenausstellung nicht versteht, ist die Museumspädagogik schuld. Man müsse, das ist das neue Credo, »die Menschen abholen, wo sie sind«.
Das ist eine fatale Ansicht des Kapitalismus. Er vermeint, die vermeintliche Mustererkennung und die Abkürzungen in der Argumentation, von denen Julia Herrnböck in obigem Zitat spricht, nicht als Rezeptionsmanko anzusehen, sondern als Forderung des Konsumenten wahrzunehmen, den er bedienen muss. Dabei haben Privatfernsehen und überhaupt private Medien einen Wettlauf losgetreten, in dem öffentlich-rechtliche Medien nicht ein Gegenpol sind, der wichtig ist, um Boulevardisierung und Kommerzialisierung durch akkurate Information ein Korrektiv zu bieten, sondern sie kommerzialisiert und boulevardisieren sich selbst seit Jahrzehnten in Vorauseilendem Gehorsam. Dirk Knipphals schreibt in der TAZ:
Sie [die öffentlich-rechtlichen Medien] könnten aber auch ganz andere Folgerungen aus der zugegeben komplexen Lage ziehen und sollten das auch tun. Weniger Beraterverträge, weniger Führungsebenen, dafür wieder mehr Aufmerksamkeit für die inhaltliche Arbeit der Redaktionen! Ernsthafte Kulturberichterstattung. Eine Politikberichterstattung, die an den gesellschaftlichen Problemlagen interessiert ist und nicht Politiker*innen als Matadore des Meinungsstreits in Talkshows vorführt. Insgesamt vielleicht ein Stück weit weniger Gefühl und Kuscheligkeit und mehr Sachlichkeit und Analyse.
Wo Redaktionen ausgeschaltet werden, entweder weil man ganz einfach Arbeitskräfte einsparen will oder weil man die Eigenständigkeit von Redaktuerinnen und Redaktueren und ihre politische Eigenständigkeit fürchtet, dort lässt man die transportierten Inhalte einfach auf die Massen los und zerstört jeden Qualitätsmaßstab für Information, jede dialektische Auseinandersetzung und lässt die Menschen sich aus beliebig konsumierten Versatzstücken ihre politische Wirklichkeit formen.
Dabei kommt es zu wüsten Verkehrungen der Begriffe. Etwa höre ich heute oft, jemand habe »recherchiert« und dabei dies und das herausgefunden. Im Gespräch stelle ich dann fest, dass dieser jemand so lange im Netz gesucht hat, bis er einen Text fand, der seine Meinung bestätigt. Das ist nicht Recherche.
Das World-Wide-Web ist heute zu einem Großteil von großen Konzernen abhängig, die entsprechend an bestimmten Inhalten und Darstellungen interessiert sind. Wir können es kritisch rezipieren, wie wir alles kritisch rezipieren können. Wir müssen aber dazu unsere Kritikfähigkeit ständig schulen, ausbauen und auch anwenden – auch, wenn unseren Überzeugungen widersprochen wird.
Und wir brauchen öffentlich-rechtliche Medien. Diese so weit wie möglich aus dem Spiel der Parteipolitik zu halten, ist eine schwierige Aufgabe, die in Österreich in den letzten Jahren völlig verpatzt wurde. Die Förderungen für Privatmedien müssen endlich ganz verschwinden und die öffentlich-rechtlichen Sender müssen vom Staat (also von allen) unterhalten und gestützt werden. Auf gesetzlicher Ebene müssen sie stärker verteidigt und abgesichert werden. Noch einmal Dirk Knipphals:
Denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist und bleibt ja wichtig. Er setzt immer noch gesellschaftliche Wirklichkeit. Wer sollte denn überhaupt noch die journalistischen und auch filmemacherischen Maßstäbe hochhalten, wenn nicht diese dem Marktgeschehen entzogene und trotz der auf die Etats drückenden Pensionsansprüche mit Recherchemitteln gut ausgestattete Institution?
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