Donnerstag, Mai 22, 2025

Schlagt der Zeit die Fenster ein!

Der gefühlt endlosen Krisenzeit und dem schwindenden Zusammenhalt kann man auf drei Arten begegnen: Mit zynischem Schulterzucken, mit Rückzug oder mit Mut und Tatendrang.

Immer wieder, wenn ich mich mit gleichaltrigen Menschen über die Neunzigerjahre unterhalte, sagt jemand zu mir: Schreib doch einen Roman über die Neunziger, die Aufbruchsstimmung, den Optimismus, die Freiheit damals! Menschen, die etwa zwischen 1965 und 1975 geboren wurden, sehen die Neunzigerjahre mehrheitlich so. Oder besser gesagt: Sie haben sie so in Erinnerung.

Denn heute, da uns eine weitaus pessimistischere Grundstimmung täglich zu schaffen macht, müssen wir auch viele der Wurzeln der gegenwärtigen Krisen in den Neunzigerjahren sehen. Wir müssen Dinge viel kritischer betrachten, die wir damals übersehen haben. Das Bild, das ein im Jahr 1971 geborener in den Neunzigerjahren von den Neunzigerjahren hatte, ist und kann nicht das gleiche sein, wie das, das er heute von den Neunzigerjahren hat.

Die Zerklüftung der Gesellschaft

Mit den Veränderungen der Gegenwart verändert sich auch die Sicht auf die Vergangenheit und der Ausblick auf die Zukunft. Kapitalismus bedeutet eine Abfolge von Krisen; meist vom Kapitalismus selbst erzeugter Krisen. Der Kapitalismus light, der in den westeuropäischen Staaten von den Sechzigerjahren an gelebt wurde, scheint diese Erkenntnis noch nicht befördert zu haben. Wobei es auch in den Siebzigerjahren, Achtziger- und Neunzigerjahren schwere Krisen, erbitterte Kriege und Terrorismus gab. Man neigt nur dazu, dies alles im Rückblick weniger drastisch zu sehen.

Die heutige Krisenstimmung wird durch einen Umstand verstärkt: Die Zerklüftung der Gesellschaft. Zum einen findet sie dadurch statt, dass Konsum und Medienrezeption heute völlig individualisiert sind. World Wide Web und Smartphone isolieren uns. Wir sind mit den konsumierten Inhalten allein. Die lauen Gegenbewegungen sind all die Public Viewings; Versuche, das gemeinsame Erleben wieder zu pflegen. Das sogenannte Web 2.0, also vor allem die Sozialen Medien, sind der digitale Versuch, Gemeinschaft zu konstruieren. Anfangs (etwa im sogenannten Arabischen Frühling) hielt man sie für progressiv und revolutionär. Heute muss man erkennen: Die Sozialen Medien sind eine Waffe in der Hand der Demokratiegegner.

Düstere Timelines, unerfreuliche Schlagzeilen

Hätte man das World Wide Web von staatlichen Institutionen und Universitäten betreiben lassen, wie es anfangs war, und nicht aus der Hand gegeben, wäre das eine Chance gewesen. Doch mit seinem Ausverkauf durch Kommerzialisierung ist es heute ein noch viel schlimmerer Beschleuniger der Oligarchisierung der Gesellschaften als es die traditionellen Medien sind.

Die Zerklüftung der Gesellschaft, das Ende eines Zusammenhalts über Meinungsverschiedenheiten hinweg, ist bis in unsere Familien vorgedrungen. Wir müssen etwas tun. Zusammengefasst sehe ich nur drei mögliche Wege.

Der Rückzug

Der erste Weg ist der des Rückzugs. Es gibt wohl nur sehr wenige, die nie mit dem Gedanken des Rückzugs gespielt haben. Und es gibt viele, die sich zumindest für gewisse Zeit in einen Zustand des Rückzugs begeben, statt der Nachrichten Klassiker lesen oder Romane, die sie immer lesen wollten; statt zu konsumieren kochen, stricken, häkeln, garteln, basteln. Viele sind darin zu inkonsequent. Für sie entstehen bereits neue Geschäftszweige der Hotellerie: Anstatt Kreuzfahrten, Cluburlaub oder des in vielen Metropolen ohnehin nur noch mühsamen Städtetourismus, entstehen Ressorts, wo man sein Handy beim Einchecken abgeben muss, wo es kein WLAN und keine Zeitungen gibt, wo man mit einem Wort mit sanftem Druck beim Rückzug unterstützt wird.

Andere machen das selbstbestimmt auf Zeit. Am interessantesten sind aber wohl die radikalen Beispiele: Menschen, die sich völlig zurückziehen, sich einbunkern und versuchen in allem von anderen Unabhängig zu sein. Im Grunde ist es ein Weg der Verelendung. Denn vieles, was unser Leben ausmacht, ist eben nur in einer Gemeinschaft herzustellen. Die völlige Ablehnung dieser Gemeinschaft, die martialische Paranoia, dass jeder ein Feind ist, wird das Übel aus den Nachrichten nur direkt und sofort in den eigenen Schutzbunker bringen.

Der Zynismus

Bleibt der zweite Weg: Der Weg des Zynikers. Um Zyniker zu sein, bedarf es einer guten mentalen Konstitution, die einem vor allem vor einem schützt: Ehrlichkeit mit sich selbst. Der Zyniker macht mit. Er sagt: Ich weiß zwar, dass alles scheiße ist und die Welt den Bach runter geht, aber was soll man machen? Ich kann es nicht ändern.

Also spielt er das Spiel mit, wie es von ihm erwartet wird. Er arrangiert sich mit den Gegebenheiten und redet sich sein, sie wären nicht zu ändern. Die Menschheit sei eben, wie sie sei: schlecht. Das sei so und bleibe immer so. Er selbst ist natürlich schlauer und erkennt das. Doch er muss ebenso unethisch handeln wie die anderen, weil sie ihn sonst drangsalieren und unterdrücken.

Das »natürliche« Recht

Dieser Geist ist der Geist des Kapitalismus. Viele halten ihn für die einzig richtige Einstellung, weil sie der Meinung sind, der Kampf gegeneinander sei etwas »Natürliches«, das Recht des Stärkeren sei ein »natürliches« Phänomen. Sie übersehen, dass Recht immer etwas »künstliches« ist, das der Mensch geschaffen hat. Sie übersehen, dass der Mensch natürlich-primitive Umgangsformen transzendieren und zu neuen Begriffen von Gesellschaft fortschreiten kann – wenn er zu einer gemeinschaftlichen Durchsetzung dieses Begriffs bereit ist.

Die Zyniker dieser Welt haben gerade Hochkonjunktur. Es sind jene, die sagen, die Republikaner in den USA seien die dümmste Partei, die es überhaupt gäbe – um dann selbst für die Republikaner Präsident zu werden. Die Zyniker erfüllen ihre Umwelt mit Neid. Die einen glauben, der König der Zyniker müsse doch ein besonders gescheiter Mensch sein, sonst hätte er es nicht zum König der Zyniker gebracht. Die anderen fragen sich: Warum bin ich nicht König? Und aus reiner Frustration darüber, dass sie es nicht sind, wählen sie Politiker, die dümmer sind als sie. Das sind die Wähler der Rechtsextremen und Rechtspopulisten, denen es egal ist, wenn die von ihnen gewählten Menschen drangsalieren und töten und die Welt zerstören. Das hat die Welt eben davon.

Die Mutigen

Es bleibt der dritte und letzte Weg: der Weg der Mutigen. Die Mutigen lassen es zu allererst nicht zu, dass sie sich selbst belügen. Sie schauen auf die genauen Umstände, auch wenn das Hinschauen schmerzt. Sie beschäftigen sich mit dem Elend, den Lügen, dem Hass und der Verblendung. Und sie setzen allen Missständen etwas entgegen und sei es nur, dass sie diese beim Namen nennen. Das ist schon viel.

Bruno Kreisky hat gesagt: »Man soll nie sagen: Da kamma nix machen! Ein bisserl was kann man in der Politik immer machen.« Dieses Motto muss für den jetzigen Finanzminister Marterbauer gelten. Wir haben nach fünfundzwanzig Jahren den ersten zuständigen Minister, der den Österreicherinnen und Österreichern die Wahrheit über die Budgetzahlen mitteilt. Er ist dabei weder aufgeregt, noch pessimistisch: Er arbeitet nun mit dem, was da ist, und hat Vorschläge, wie das Land seine Finanzprobleme bewältigt. Das ist Politik.

Schlagt der Zeit die Fenster ein!

Es hat mich sehr bewegt, als Peter Pilz zu Zeiten der Kanzlerschaft Sebastian Kurz’ sagte: »Ich werde versuchen, jede seiner Lügen aufzudecken und ich werde jeder seiner Lügen die Wahrheit gegenüberstellen!« Das ist ein Motto, das mich an Erich Kästners Gedicht über Lessing erinnert:

                                   Er stand allein und kämpfte ehrlich

                                   und schlug der Zeit die Fenster ein.

                                   Nichts auf der Welt macht so gefährlich

                                   als tapfer und allein zu sein!

So alleine sind die Menschen, die sich die Demokratie wünschen, noch lange nicht. Es mag Tage geben, an denen sie – wie die meisten – auch einmal verzagen. Dann aber ist es wieder Zeit aufzustehen und ehrlich weiterzukämpfen.

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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