Die falsche und fatale Toleranz gegenüber Israels Kriegsverbrechen findet endlich ein Ende.
Nach dem bestialischen Massaker der Hamas und anderer Gruppen vom 7. Oktober hat es mir kurz ein wenig die Sprache verschlagen, einerseits wegen des grausamen Geschehens, zweitens wegen der bangen Ahnung, was darauf folgen würde und drittens wegen der vielen falschen Zungenschläge auf allen Seiten.
Ich schrieb an dieser Stelle recht bald danach: „Eine Gegenreaktion auf ein Kriegsverbrechen entbindet zugleich nicht von der Pflicht, keine Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu begehen, zugleich soll mir jemand sagen, wie ein militärischer Einsatz gegen eine Terrormiliz ablaufen soll, die sich in dicht bewohntem Gebiet inmitten der Zivilbevölkerung verschanzt, ohne dass massive Kriegsverbrechen einfach eine logische Folge sein werden.“
Während sich die Fankurve der israelischen Regierung in martialischer Kriegssprache überschlug, war wiederum bei vielen Kritikern der israelischen Regierung und der Besatzungspolitik der Mangel an Empathie für die Opfer, Geschändeten und Verschleppten abstoßend. Alles wirke wahr und falsch zugleich, formulierte ich, „als wäre die Sprache krank geworden“.
Auf das Massaker der Hamas folgten nun eineinhalb Jahre Blutrausch und ein Krieg, der jedes Maß des durch das Selbstverteidigungsrecht Zulässigen überschritt; ein Krieg, der längst schon alle Prinzipien der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit hinter sich gelassen hat. Begleitet ist er von einer Sprache der Verrohung und der offenen Befürwortung von ethnischen Säuberungen und von der Verletzung wichtiger Prinzipien des internationalen Rechts, etwa der Befürwortung des Einsatzes von Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung. Und nun auch noch die Abschnürung des Gazastreifens von humanitärer Hilfe, der Verwandlung einer ganzen Region in eine Horror- und Terrorzone.
Geradezu bizarr sind die durchschaubar-absurden Ausreden der israelischen Führung: Einerseits verkündet man eine Abschnürung des Gazastreifens von jeder Hilfe, andererseits behauptet man, es gäbe dort eh genug an Nahrung und Sonstigem. Als wäre nicht der Sinn von Abschnürung und Belagerung seit Menschengedenken, dass es dann eben nicht genug für die Bevölkerung gibt.
Dabei gibt es ein paar Dinge, die sollten in der zivilisierten Welt klar und unumstritten sein: Gräueltaten rechtfertigen keine Gräueltaten. Und wer – vorgeblich als Antwort auf eine Gräueltat – Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, ist in Den Haag bestens aufgehoben. Das gilt für Benjamin Netanjahu genauso wie für die Hamas-Anführer und wie es für Leute wie Milosevic, Karadzic und Co. gegolten hat.
Es gehört zum Krieg dazu, noch dazu unter den konkreten Bedingungen, bei denen sich nicht alles immer genau herausfinden lässt, dass die Geschehnisse „dynamisch“ sind, was ein gern gebrauchter Begriff dafür ist, dass eine exakte Bilanz nicht mittendrin, sondern erst retrospektiv getroffen werden kann. Aber vorsichtig formuliert ist eines längst unbestreitbar: Wir erleben seit Monaten mutmaßlich eines der schlimmsten Verbrechen gegen das Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht der letzten Jahrzehnte innerhalb jener Regionen, die im weitestem Sinne dem Westen zuzurechnen sind. Und man schaut nicht nur zu, man hielt auch viel zu lange die Klappe. Wir reden von Dimensionen wie Srebrenica, wenn nicht schlimmer.
Gerne kontern Netanjahus PR-Leute schon bloße Warnungen mit ihren Gaga-Definitionen von Antisemitismus, mit denen sie jede Widerrede diffamieren wollen, dass es eine „Anwendung doppelter Standards“ sei, Israel für Dinge zu kritisieren, für die man nicht alle in gleicher Lautstärke kritisiert. Aber natürlich und mit vollem Recht gibt es diese doppelten Standards, denn selbstredend verlangt man von der Regierung eines demokratischen Staates, der den Menschenrechten und der Aufklärung verpflichtet zu sein vorgibt, etwas anderes als von Idi Amin und Pol Pot. Genauso wie man seine eigene Regierung oder befreundete Nationen härter kritisiert als Regierungen am anderen Ende des Erdballs. Dürfte man keine „doppelten Standards“ anwenden, könnte man auch Viktor Orbáns Medienpolitik nicht kritisieren, denn diese ist natürlich noch ein bisschen weniger schlimm als die der chinesischen Regierung oder jene von Alexander Lukaschenko.
Aber diese Diffamierungsstrategie ist jetzt sowieso am Ende, schlägt leider in ihr Gegenteil um. Der Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurf als grober Klotz der Kriegspropaganda hat einen Schaden angerichtet, der noch Jahrzehnte nachwirken wird. Wer echten Antisemitismus bekämpfen will, wird es künftig schwerer haben.
Und so wie es vor eineinhalb Jahren richtig war, die Empathielosigkeit anzuprangern, mit der eine entgleiste Israel-Kritik die Opfer des Hamas-Massakers klammheimlich zu rechtfertigen versuchte, genauso erschütternd ist heute die Empathielosigkeit gegenüber den zivilen Opfern dieses außer Rand und Band geratenen Krieges. „Ein jegliches hat seine Zeit“, wie es im Buch Kohelet heißt. Also: Gestern war dieses unerträglich und damit anzuprangern, heute jenes.
Ethnische Schuldzuweisung
Was ist da alles zu lesen? Dass „die“ es doch irgendwie verdient hätten, da es in Gaza doch keine „unschuldigen Opfer“ gäbe, als wäre jede Person, die dort anwesend ist, vom Baby bis zum Teenager eben auf groteske Weise ein Komplize der Hamas; als hätte jeder sein Lebensrecht und den Schutz des Völkerrechts verwirkt, der nicht die Hamas stürzt. Es graut einem bei vielen Sätzen, die so mancher, der sich in anderen Fragen auf der Seite des Guten wähnt, einfach mit Klarnamen ins Internet haut.
Man schüttelt sich, weil man plötzlich sieht, dass selbst Freunde noch Massenexekutionen applaudieren würden, wenn sie nur lange genug der entsprechenden Propaganda und Gehirnwäsche ausgesetzt sind.
Israels Regierung und seine Streitkräfte stehen offiziell unter Verdacht des internationalen Strafgerichtshofs, einen Genozid zu begehen. Es ist ein juridischer Begriff, der heute zugegebenermaßen oft politisiert ist. Wenn er juridisch scharf sein soll, soll er nicht zur Parole missbraucht werden.
In früheren Zeiten hätte man unter dem Begriff des Genozids die Ausrottung eines gesamten Volkes verstanden, aber bis 1948 war der Begriff juristisch zugleich bedeutungslos. Heute ist das Völkerrecht strenger und die Auslegung durch die internationalen Gerichte enger, und zwar, weil wir die Menschenrechte viel höher halten und weil es auch einen Fortschritt gibt. Kein unwichtiger Punkt übrigens: Das Recht ist stets das geronnene Protokoll der Kämpfe der Vergangenheit, und damit Ausdruck von Fortschritten, die durchgesetzt wurden.
Heute ist auch die Zerstörung der Lebensgrundlage und damit die Vernichtung eines Volkes in einem wesentlichen ihrer Siedlungsgebiete ein Genozid, vorausgesetzt dies geschieht nicht einfach „zufällig“ im Rahmen von Kriegshandlungen, sondern auch noch mit explizitem Vorsatz. Es bestehen natürlich kaum Zweifel, dass die Existenzbedingungen der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zerstört werden und am Vorsatz besteht im Grunde auch kein Zweifel, denn es wird ja offen ausgesprochen: Umsiedlung, Aussiedlung, Bedingungen schaffen, damit dort niemand mehr leben will, ethnische Säuberung. Wer hier Einwände formulieren möchte, sollte einen Moment überlegen, was er damit bezweckt. Will man wirklich argumentieren, dass über 50.000 Tote, davon ein Großteil Zivilisten und darunter noch einmal 15.000 Kinder und rund zwei Millionen Vertriebene noch kein Genozid sei, man also noch einmal ein paar töten darf, bis es soweit ist? Und wieviele denn? Fehlen noch 20.000? Man schüttelt sich bei diesen Argumenten.
Der Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu ist nach den Regeln der heutigen, internationalen Institutionen erlassen und ist daher zu vollziehen.
Was hier geschieht ist nicht nur ein Grauen, das die Regierungen der zivilisierten Welt nicht mehr durch Schweigen unterstützen dürfen (oder gar durch Waffenlieferungen), es wird aufgrund seiner Doppelmoral auch für lange Zeit die Glaubwürdigkeit westlicher Werte untergraben. Ja, man wagt das Wort sowieso nicht mehr aufzuschreiben und nicht nur wegen des immer schon gültigen, Mahatma Ghandi zugeschriebenen Bonmonts, der auf die Frage, was er denn von den westlichen Werten halte, geantwortet haben soll: „Ich hielte sie für eine gute Idee.“
Natürlich weiß jeder Teenager, wo immer auf diesem Globus: Westliche Opfer sind eine Schlagzeile, nicht-westliche Opfer nicht einmal eine Nummer in der Opferstatistik. Aber es wird in diesen letzten Monaten auf besonders gefühllose Weise vorgeführt. Wie soll sich der Westen von dieser Schande noch einmal erholen? Und wir wundern uns noch, dass sie uns für unsere Scheinheiligkeit hassen? Ich lache ja manchmal über die grüblerischen Artikel mit dem Titel „Why they hate us?“ Ich fürchte, das ist kein großes Geheimnis und die Suche nach Antworten auf diese Frage keine Raketenwissenschaft.
Es ist unumgänglich, dass man sich endlich wieder auf das – ohnehin – zivilisatorische Minimum einigt. Verbrecher sind Verbrecher, mögen sie auch gegen andere Verbrecher vorgehen. Gräueltaten rechtfertigen keine Gräueltaten. Das internationale Recht gilt entweder für alle oder für keine. Wer ethnische Säuberungen rechtfertigt, nur weil sie die angeblich eigenen Leute betreiben, der steht nicht auf der Seite des Rechts, sondern auf der des Verbrechens, auch wenn er manchmal das Recht gegen Verbrecher hochhält, wenn es ihm praktischerweise in den Kram passt. Wer nur für die Menschenrechte der eigenen Freunde ist, ist nicht für die Menschenrechte, sondern ein Feind derselben. Die Schande der Einen reduziert nie die Schande der Anderen.
Titelbild: Miriam Moné, https://pixabay.com/illustrations/palestine-flag-national-flag-1184100/, https://pixabay.com/illustrations/cloth-texture-textile-sign-flag-5101651/