Montag, April 29, 2024

»Es kann uns alle treffen« – Beatrice Frasl im Interview

Die Zustände rund um psychische Erkrankungen in Österreich sind desaströs. Darüber, wer dabei am stärksten verliert, hat Beatrice Frasl nun ihr erstes Buch geschrieben. Ein Gespräch über ein krankes System.

Anja Melzer

Wien, 19. Dezember 2022 | Geht man nach den Zahlen, hat dieses Buch einen Nerv getroffen. Nach nur vier Wochen war die erste Auflage vergriffen: „Patriarchale Belastungsstörung“ von der österreichischen Kulturwissenschaftlerin, Genderforscherin, Podcasterin („Große Töchter“) und Kolumnistin Beatrice Frasl. Ihr Erstling, knapp 400 Seiten stark, handelt von der politischen Dimension psychischer Erkrankungen, was Ungleichheit damit zu tun hat und warum Frauen besonders benachteiligt sind. ZackZack hat die Autorin zum Interview getroffen. Übrigens: Zwei Exemplare der zweiten Auflage, frisch aus der Druckerei, können ZackZack-Leserinnen und Leser exklusiv gewinnen!

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

ZackZack: Der Aufschrei in und aus vielen Spitälern Österreichs gerade ist unüberhörbar laut. Stationen sind völlig überbelegt oder geschlossen, die Ärzte am Limit. Krebspatienten können nicht mehr behandelt werden, Operationen werden verschoben, Medikamente fehlen. Über die schlimmen Zustände rund um Psychotherapieplätze trotz vorhandener Diagnosen, die du in deinem Buch beschreibst, jedoch echauffiert sich niemand so offen. Woran liegt das?

Beatrice Frasl: Bei psychischen Erkrankungen haben wir das schon ganz lange. Einerseits, dass es zu wenig Behandlungsplätze gibt, und zwar kassenfinanzierte. Andererseits gibt es auch zu wenig Plätze bei psychiatrischen Fachärzten und Fachärztinnen. Auch ist es total schwierig, überhaupt an eine Kassenärztin zu kommen, die sind meistens komplett ausgebucht und nehmen keine neue Patientinnen mehr. Aber auch im stationären Bereich, in Akut-Psychiatrien oder auf Therapiestationen ist es so, dass man teils monatelang auf einen Platz warten muss und wieder weggewiesen wird. Wir hatten diese Situation schon vor Corona.

Aber mit den multiplen Krisen jetzt sind die Zahlen an Menschen, die Hilfe brauchen, wesentlich gestiegen. Das ging durch die Medien, da gab es dann ganz kurz zumindest einen kleinen Aufschrei. Damals gab es dann auch dieses Versprechen von Rudolf Anschober, einem der letzten Gesundheitsminister dieser Regierung, die Kassen-Therapieplätze um 20.000 aufzustocken.

Ist das dann eigentlich auch passiert?

Ich habe versucht es herauszufinden und habe dazu total unterschiedliche Informationen erhalten. Einige Psychotherapeutinnen haben mir gesagt, dass sie keine Plätze bekommen und nichts davon gesehen haben. Andere haben mir erzählt, dass da irgendwas verteilt wurde, aber niemand genau wüsste, nach welchen Maßstäben. Alles ganz undurchsichtig.

Dabei sind 20.000 Plätze mehr eh gar nicht mal so viel, wenn man bedenkt, dass beispielsweise ein Viertel der Bevölkerung inzwischen an depressiven Symptomen leidet, bei unter 25-Jährigen sogar die Hälfte, oder?

Das ist genau das Ding. Wir haben in Österreich das Problem, dass Psychotherapie kontingentiert ist. Es gibt genug Therapeutinnen und die haben auch genügend Plätze, ziemlich sicher sogar. Doch nicht alle davon haben einen Kassenvertrag. Das ist auch schwierig, als Psychotherapeut einen solchen überhaupt zu kriegen, es gibt dafür alle möglichen Auflagen. Dazu kommt, dass diese Kassenstunden dann sehr schlecht bezahlt werden – im Vergleich zu privatbezahlten Therapieeinheiten. Alle diese Psychotherapeutinnen mit Kassenvertrag haben immer nur ein bestimmtes Kontingent mit Plätzen zur Verfügung. Und die sind meistens relativ schnell weg.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Was bedeutet das für die Betroffenen?

Wenn man einen Psychotherapieplatz sucht, dann hat man quasi zwei Optionen: sich auf eine Warteliste setzen zu lassen – das dauert in Wien meistens ein paar Monate bis zu zwei Jahren…

Bei einer Krebsdiagnose wäre ich da, um den Vergleich noch einmal zu bemühen, möglicherweise schon tot…

Bei einer Depression auch. Weil wirklich viele Leute an Suizid sterben. Das ist etwas, das auch überhaupt nicht im Bewusstsein der Bevölkerung ist.

Und die zweite Option ist: Es privat zu bezahlen. Das können dann bis zu 180 Euro in der Stunde sein. Weil das aber so teuer ist, können sich das sehr viele Leute gar nicht leisten – vor allem nicht die, die es ganz dringend brauchen. Armutsbetroffene sind ganz besonders oft von Depressionen und Angststörungen betroffen.

Warum interessiert uns das trotzdem alle so wenig?

Ich glaube, einerseits, weil es schon so ein Dauerzustand ist. Die Minderversorgung im Bereich psychischer Erkrankungen besteht schon so lange, dass es schon normal geworden ist. Die Minderversorgung bei körperlichen Krankheiten dagegen ist etwas Neues. Andererseits sind natürlich grundsätzlich psychische Erkrankungen auch etwas, das nicht so gerne besprochen wird. Das ist ein stigmatisierter Bereich.

Es ist auch noch nicht in unserem Bewusstsein angelangt, dass wir – und davon handelt ja auch mein Buch – alle Betroffene sind. Die Menschen denken noch immer, sie müssten nicht darüber nachdenken, wie viele Plätze es in der nächsten Psychiatrie gibt, wie leicht es für sie persönlich wäre einen Therapieplatz zu bekommen, weil sie denken, sie brauchen es eh nie. Es betrifft sicher nur die anderen, ich bin ja nicht verrückt, ich bin normal.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Dabei wird im Laufe eines Lebens jeder Zweite, wie du im Buch schreibst, eine psychische Erkrankung erleben. Du berichtest auch von deiner eigenen Odyssee durch den Therapieplatz-Dschungel und den verschlossenen Türen.

Ich wollte meinen Weg zum Thema nachzeichnen, mit dem ich mich seit Jahren intensiv beschäftige. Ich bin keine Psychologin, keine Therapeutin, keine Psychiaterin, sondern stamme aus dem akademischen Bereich und bin seit Ewigkeiten als Feministin unterwegs. Und irgendwann war ich selbst Betroffene. Und das habe ich jetzt wieder auf einer abstrahierten Ebene verarbeitet.

Du gibst dem ganzen Phänomen auf jeden Fall ein Gesicht und versuchst, mit persönlichen Beispielen abstrakte Zahlen greifbar zu machen.

Das ist sicher ein Ergebnis meines persönlichen Zugangs. Ich komme aus der Arbeiterinnenklasse. Wenn ich lese, dass Menschen aus der Arbeiterinnen- und Armutsklasse fünf, sechs Jahre früher sterben, dann habe ich das Bild von meinen eigenen Eltern vor Augen, die ihr Leben lang hart gehackelt haben. Das berührt mich, dass meine Eltern laut Statistik früher sterben werden, als wenn sie mehr Geld gehabt hätten.

Du schreibst im Buch den Satz: „Alle sind betroffen, aber manche sind betroffener.“

Es geht mir darum aufzuzeigen, dass psychische Erkrankung und Gesundheit verwoben sind mit strukturellen Vorbedingungen und auch mit Geschlechterpolitik. Dass nicht alle Gruppen der Gesellschaft gleich betroffen sind und nicht alle das gleiche Risiko tragen. Es gibt einen sehr interessanten Gender-Gesundheitsbericht aus dem Jahr 2019,  mit dem Schwerpunkt Depressionen und Suizid, und es werden eine Reihe an Risikofaktoren aufgelistet, die dazu führen, dass manche eher als andere Depressionen oder Angststörungen entwickeln. Und es zeigte sich: Armut, Armutsgefährdung – das ist wahrscheinlich nicht sonderlich überraschend, dass Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben, und die mit Scham behaftet sind, belasteter durchs Leben gehen als andere –, aber auch prekäre und atypische Beschäftigungsverhältnisse, Mehrfachbelastung durch Erwerbsarbeit und unbezahlte Arbeit zuhause usw. Risikofaktoren sind. Das heißt also, es hat sozioökonomische Faktoren, wer krank wird und warum. Aber es gibt auch Geschlechterfaktoren. Denn fast alles, was genannt wird in diesem Bericht, betrifft Frauen viel stärker als Männer.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Angehen tut uns das aber alle etwas. Wenn man nicht selber gerade direkt betroffen ist, ist es vielleicht ein Freund, eine Freundin, die Mama, die Schwester. Man hat sicher jemanden in seinem Umfeld, der erkrankt ist. Und – und das ist ein Punkt, den ich betonen will – wir alle tragen das Risiko, irgendwann einmal in unserem Leben daran zu erkranken, so wie wir alle Durchfall bekommen können, uns etwas brechen, uns mit Covid infizieren können. Wir können auch so stark erkranken, dass wir daran sterben könnten. Wir sind psychisch genauso vulnerabel wie körperlich. Es kann uns alle treffen.

Du schreibst im Buch, wir alle haben eine fifty-fifty-Chance, eine psychische Erkrankung zu bekommen. Statistisch erkrankt jede und jeder Zweite einmal im Leben. Frauen erkranken dabei doppelt so häufig an Depressionen als Männer.

Bei fast allen psychischen Erkrankungen sind Frauen häufiger diagnostiziert als Männer, bei Depressionen sogar doppelt so häufig. Bei Essstörungen haben wir sogar ein Verhältnis 6:1.

Und es liegt vermutlich nicht einfach daran, dass Frauen einfach öfter zum Arzt gehen?

Es ist eine komplexe Gemengelage. Einer der Gründe sind eben die sozioökonomischen Verhältnisse. Armutsbetroffene und -gefährdete erkranken in viel höherem Maße. Und davon sind die meisten Frauen. Weil Vermögen und Einkommen sehr ungleich verteilt sind. Die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen beträgt im Moment 19 Prozent in Österreich, im EU-Schnitt 13 Prozent. Es wird noch krasser, wenn man sich den Pensions-Gap anschaut. Der ist in Österreich bei 41,7 Prozent.

Frauen im Alter haben im Schnitt ja unter 900 Euro im Monat zur Verfügung.

Am stärksten betroffen sind insgesamt Pensionistinnen und Alleinerziehende. Letztere sind die größte Gruppe an Armutsbetroffenen, die erwerbstätig ist. Und das sind eben zu 93 Prozent Frauen. Da sieht man schon ganz deutlich: Armut ist ein weibliches Phänomen. Aber was auch noch dazu kommt, sind atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, das meint zum Beispiel auch Teilzeitarbeit oder geringfügige Jobs. Zu 76 Prozent stecken darin Frauen. Im Handel werden oft auch nur überhaupt Teilzeitstellen angeboten.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Man sieht das ja auch an anderen Branchen, in denen mehrheitlich Frauen zu schlechter Bezahlung arbeiten, wie im Gesundheits- und Sozialbereich.

Ja, all diese mies bezahlten Jobs, ob es jetzt die Reinigungsfrau ist oder die Handelsangestellte oder in der Pflege, sind einfach zu 80, 90 Prozent von Frauen dominiert. Wir haben also einerseits die ökonomische Ungleichbehandlung von Frauen, dazu die Mehrfachbelastung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit wie Haushalt, Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege. Dadurch haben Frauen natürlich weniger Freizeit als Männer, weniger Zeit für sich, weniger Zeit für Erholung. Sie arbeiten mehr und verdienen gleichzeitig weniger. Andererseits finden wir auch eine größere Betroffenheit von Gewalt, insbesondere von sexueller Gewalt und Gewalt in Partnerbeziehungen.

In Österreich gibt es bekanntermaßen eine sehr hohe Zahl von Femiziden.

Das ist nur die oberste Spitze des Eisberges. Da verbirgt sich natürlich ganz viel an Gewalt gegen Frauen, die nicht erst im Mord eskaliert. Das ist auch etwas, das viele Frauen traumatisiert. Dazu kommt einfach auch das Bewusstsein als Frau, potenziell Opfer zu sein. Das prägt die Psyche. Frauen gehen anders auf der Straße als Männer, weil sie wissen, dass sie vulnerabel sind. Ja, und dann gibt es natürlich auch noch so Dinge wie einengende Schönheitsideale, die die Körperzufriedenheit verringern. Wir wissen, dass die Körperzufriedenheit ganz stark an den Selbstwert und damit die psychische Gesundheit gekoppelt ist. Es sind also ganz viele Dinge, die das Risiko für Frauen erhöhen und damit ist es auch keine Überraschung, dass Frauen öfter diagnostiziert werden. Und ja, dann gibt es auch den Faktor, dass Männer seltener zum Arzt gehen.

Weil Männer eher denken, dass sie das schon allein gebacken bekommen oder sogar alleine schaffen müssen?

Genau. Ein gewisser Teil ist sicher auch eine Unterdiagnostizierung bei Männern, weil sie sich nicht helfen lassen oder das patriarchale Männlichkeitsideal ihnen das verunmöglicht. Die eine Sache übrigens, von der wir wissen, dass Männer stärker betroffen sind, ist Alkoholismus. Das ist wohl eine Art Bewältigungsstrategie, um wiederum mit Ängsten und Depressionen umzugehen. Und das Zweite ist Suizid. Männer sterben in Österreich fast dreimal so häufig an Suizid wie Frauen, wobei Frauen mehr Suizidversuche verzeichnen.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Die Suizidraten, auf die du auch im Buch eingehst, sind wirklich besorgniserregend. Du schreibst, es gibt in Österreich mehr Suizidtote als Tote durch Verkehrsunfälle und Morde zusammengerechnet.

Und weltweit stirbt alle 40 Sekunden ein Mensch durch Suizid. Das hat tatsächlich fast pandemische Ausmaße.

Bei Morden werden personell sofort starke Sonderkommissionen eingerichtet, aber Suizide jucken die Politik offenbar weniger.

Ich habe mir das auch während Covid gedacht, als plötzlich alle möglichen Mittel bereitgestellt wurden. Dabei grassiert die Pandemie der Depressionen schon ewig.

Und das hat ja dann auch – abgesehen vom menschlichen Leid – massive Folgekosten, oder?

Sehr viele Menschen werden durchs Nicht- oder Zu-Spät-Behandeln arbeitsunfähig, lange Krankenstände sind teuer für den Sozialstaat. Aber alle schauen zu und sagen: Naja. Eine Depression ist zumeist kein Schnupfen, der nach ein paar Tagen wieder vorbei ist. Wenn ich Pech habe, chronifiziert sich das. Depressionen sind beispielsweise auch der häufigste Grund für Frühpensionierungen in Österreich. Das alles kostet den Staat sehr viel Geld. Auch lange Krankenhaus- oder Reha-Aufenthalte sind wesentlich teurer, als Psychotherapie zu finanzieren.

Gesundheit ist also keine Privatsache, sie betrifft am Ende alle, weil wir alle draufzahlen.

Da steckt auch ganz viel neoliberale Ideologie natürlich drin, jeder wäre für sich selbst verantwortlich. Ich glaube auch, dass psychische Gesundheit ähnlich wie Armut gedacht wird, also als persönliches Versagen oder Faulheit oder Schwäche. Beides ein ist Ergebnis politischer Entscheidungen, beides wird total individualisiert, und dann heißt es: Es ist seine oder ihre eigene Schuld. Und daher schiebt man das auch von sich selbst weg und glaubt, dass es einen nie betreffen wird. Sonst wäre man ja auch einer dieser Schwachen.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Du führst im Buch eine Studie an, nach der es sogar Reichen in einer Gesellschaft auch selbst psychisch besser geht, wenn weniger Ungleichheit herrscht. Ist das eine Forderung à la „Erbschaftssteuer für mehr psychische Gesundheit“?

(lacht) Da gibt es zwei interessante Phänomene. Das Erste: Gesundheit zieht sich als Gradient durch die Gesellschaft. Die, die am oberen Ende sind, sind auch gesünder, die, die unten sind, sind kränker. Das ist noch keine rocket science. Aber das Zweite, das erforscht wurde: Wenn wir Gesellschaften miteinander vergleichen, sind die Reichen in gleichen Gesellschaften auch deutlich gesünder als die Reichen in ungleichen – also mit wenigen Superreichen und vielen Ärmeren – Gesellschaften. Das ist eine spannende Erkenntnis: Ungleichheit schädigt insgesamt Gesellschaften. Das wird unter anderem damit erklärt, dass in ungleicheren Gesellschaften mehr Angst vor Statusverlust und mehr Konkurrenzdruck herrscht. Einfach, weil da die Leiter nach unten viel steiler ist. Und dann gehen auch die Menschen viel weniger vertrauensvoll miteinander um. Studien zeigen zum Beispiel, dass Nachbarn in gleicheren Gesellschaften ihren Nachbarn viel mehr helfen als in ungleicheren.

Oder auch, dass Reiche mehr spenden in gleicheren Gesellschaften. Weil man die Mitmenschen viel mehr als „Kooperationspartner“ betrachtet. Und das macht ja am Ende den Menschen aus: Dass er auf Zusammenarbeit ausgelegt ist, schon seit der Steinzeit. Ungleichheit ist also sozusagen eine für Menschen nicht artgerechte Haltung.

Im Buch gehst du auch auf Erhebungen ein, wie viele Freunde wir heute eigentlich noch haben. Und du sprichst von „Beziehungsattrappen“ und nennst körperliche Folgen. Wie gefährlich ist der Backlash der Biedermeierkultur: Chatten statt Kaffeetrinken?

Ich halte das für sehr gefährlich. Und das sehe nicht nur ich so, das ist mit Daten belegbar. Einsamkeit schwächt unser Immunsystem und ist auf Dauer so schädlich wie starkes Rauchen. Das Problem ist, dass wir in einer Zeit leben, in der wir soziale Beziehungen ersetzen durch parasoziale Online-Beziehungen. Man chattet teilweise mit Fremden, die man noch nie gesehen hat. Eine Psychotherapeutin hat mir erzählt, dass immer wieder Jugendliche ihr von ihren „besten Freunden“ berichten, oder von „Dates“. Inzwischen fragt sie jedes Mal nach, ob sie die Personen wirklich kennen. Und viel zu oft stellt sich heraus, dass die Personen nur als Avatar im Internet existieren. Abgesehen davon, dass sich dahinter auch irgendein 45-jähriger Typ verbergen kann, lässt sich daran eine Entwicklung erkennen.

Auch Familiengefüge fallen auseinander, man wohnt nicht mehr mehrgenerationenmäßig in einem Haus – was aus feministischer Perspektive natürlich auch gut ist. Das Problem dabei ist, dass diese familiären Beziehungen nicht durch andere soziale Beziehungen ersetzt werden. Da gibt es interessante Erhebungen aus den USA, wo Menschen gefragt wurden: Wie viele enge Freunde hast du? Vor ein paar Jahren waren es oft noch „fünf“, mittlerweile ist die häufigste Antwort: „null“. Das ist mit hohen Konsequenzen verbunden, die wir teilweise noch gar nicht absehen können.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Wenn man von Einsamkeit spricht, kommt einem unweigerlich wieder Corona in den Sinn. In den Lockdowns waren die Menschen sozusagen eingesperrt.

Die Corona-Krise, und auch alle anderen Krisen, haben sehr eindrücklich gezeigt, dass psychische Erkrankungen nichts sind – auch wenn uns das gerne weisgemacht wird –, das aus dem Individuum heraus entsteht, sondern sie einen Zusammenhang haben mit den Strukturen, in denen wir leben. Hätten psychische Erkrankungen nur biologische Gründe, wäre die Krankheitszahl ja nicht bei einer strukturellen Änderung, wie sie die Pandemie brachte, so drastisch angestiegen. Die Corona-Krise war ein Brennglas auf ganz viele Themen. All die Dinge, die vorher schon die psychische Gesundheit verschlechtert haben, wurden durch die Corona-Krise noch vergrößert. Es gibt ein paar Studien von der Sigmund-Freud-Uni und der Donauuniversität Krems, die sich angesehen haben, wie es den Leuten psychisch geht. Die Ergebnisse sind… (ringt nach Worten)… wirklich erdrückend. Die Hälfte – die Hälfte! – aller Jugendlichen war von Depressionen betroffen. Insgesamt hat sich gezeigt: Am meisten betroffen waren junge Menschen unter 24, Menschen, die alleine leben – und Frauen. Frauen haben noch mehr gearbeitet als davor, waren häufiger von Gewalt zuhause betroffen, Frauen waren auch die ersten, die zu Beginn der Krise ihre Arbeit verloren haben und waren noch mehr von Armut betroffen, usw. Die große Frage dabei ist halt: Wie nachhaltig ist das? Wie wird es ihnen in zwei Jahren gehen?

Insbesondere jetzt, wo die rasante Teuerungswelle um sich greift und denen am meisten weh tut, die am wenigsten haben. Welche Forderungen würdest du dem Gesundheitsminister gerne auf den Schreibtisch legen?

Auf der kurativen Ebene würde ich ihm gerne ausrichten, dass die Kontingente auf Kassen-Psychotherapieplätze fallen müssen – nicht erhöht werden, sondern fallen. Sodass jeder einen Platz bekommt, der einen braucht. Die präventive Ebene: Gesellschaften müssen gleicher werden. Denn Gleichheit macht uns gesünder. Erbschafts- und Vermögenssteuern und gleichzeitig eine geringere Besteuerung von Einkommen würden Wohlstand zum Beispiel gleicher verteilen, insgesamt, aber auch zwischen Männern und Frauen. Da gibt es alle möglichen Stellschrauben, an denen man drehen kann, wenn man das wollen würde. Und wir haben einen ganzen Katalog an feministischen Forderungen seit den Siebziger Jahren, den man nochmal auspacken und endlich angehen könnte. Die sind bis heute aktuell.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

 “Patriarchale Belastungsstörung.  Geschlecht, Klasse und Psyche” von Beatrice Frasl, 19,90 €, Haymon Verlag. ZackZack-Leserinnen und Leser können exklusiv zwei Exemplare gewinnen!

Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl

Anja Melzer
Anja Melzer
Hält sich für die österreichischste Piefke der Welt, redet gerne, sehr viel und vor allem sehr schnell, hegt eine Vorliebe für Mord(s)themen. Stellvertretende Chefredakteurin. Sie twittert unter @mauerfallkind.
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16 Kommentare

  1. Die Gesundheitsanliegen der Frauen werden in vielen Bereichen nicht beachtet. http://www.infosperber.ch berichtet, dass Tausende Frauen nach der Covid-Impfung über Zyklus-Beschwerden geklagt hätten, von ihren Ärzt:innen seien sie nicht gehört worden und keine Meldung wegen Impfnebenwirkungen seien erfolgt. Nun, nachdem eine grosse US-Studie bestätigt hat, dass die C-Impfung den Zyklus beeinflussen könne, schreiben die “Qualitätsmedien”, die Frauen hätten doch recht gehabt mit ihren Beschwerden.

    • Hab Ihr voriges Posting gelesen und mir noch gedacht: na bumm, das muss betroffene Menschen wie eine Keule treffen. Seien Sie froh, dass Sie noch nie in einer Situation waren, dass Ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, Sie tagelang weinen und nicht wissen warum, Sie wochenlang nicht fähig sind, das Haus zu verlassen, weil Sie nervlich und körperlich dazu nicht in der Lage sind, dass gutgemeinte Ratschläge als Schläge daherkommen und kontraproduktiv sind. Seien Sie froh, dass Sie eine Elefantenhaut haben, es bleibt Ihnen viel erspart. Daher sprechen Sie bitte nicht über lebensbedrohliche Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben…
      (Ich habe die Fahne nicht betätigt)

      • Habe ich auch schon gehabt und bin mehrmals auf der Nase gelegen. Am Höhepunkt des Selbstmitleids hat mir dann einmal ein nettes Mädchen den bis jetzt besten Ratschlag gegeben – liebe dich selbst, dann lieben dich die anderen auch. Dh., jeder muss bei sich selbst beginnen.
        Nachdem sich bei uns in letzter Zeit die Krankenstände mit diffuser Diagnose und langer Krankenstandsdauer gehäuft haben, haben wir beschlossen, alle bei diejenigen, bei denen wir der Ansicht sind, dass sie es übertreiben, noch im Krankenstand zu kündigen. Wir können das aufgrund fachlicher Qualifikation recht gut beurteilen. Und die Allgemeinmediziner, die da recht locker wochenlange Krankenstände mit nur oberflächlicher Beurteilung ausstellen, stehen in unserer Kritik. Nach den ersten paar Exempeln sind die Krankenstände dann merkbar geringer geworden.

        • Kenne auch jemanden, der Covid zum Anlass nahm, alle Mittel zur Arbeitsverweigerung auszuschöpfen: Angst vor Viren, Angst vor Menschen (könnten ja infiziert sein), Angst vor vielen Menschen in der U-Bahn, Angst auf dem Arbeitsplatz (er hat sich quasi verbarrikadiert und eine eigene Sperre mit schmalen Tischen als Schranke aufgebaut) undsoweiterundsofort. Das ging 1,5 Jahre gut, dann ist man ihm auf die Schliche gekommen, dass er einfach arbeitsunwillig ist und man hat die Dinge beim Namen genannt. Die wochenlangen Krankenstände waren bei ihm nur möglich, da er Beziehungen in der Gesundheitsbranche hatte, die ihn mit “Ratschlägen” hinsichtlich Symptomen versorgten. Man muss ja aufpassen, dass man nicht Monate lang die selbe Krankheit hat, da sonst das Geld drastisch reduziert wird bzw. irgendwann komplett wegfällt. Doch er war mit allen Wassern gewaschen. Ja, diese Fälle gehören an den Pranger. Ich hoffe allerdings, dass sich die Krankenstände nicht durch Einschüchterung verringert haben, da vertraue ich Ihnen unbekannterweise.
          @ Liebe dich selbst, dann lieben dich die anderen auch (an sich eine exzellente Ansage): Depressive Verstimmungen oder Depression zeichnen sich durch INDIVIDUELLE endogene oder exogene Faktoren aus, zum Glück haben Sie das Richtige für sich entdeckt. Andere sind leider länger auf der Suche.

  2. Macht ruhig weiter so. Wenn da eine neue Linie erkennbar ist, dass auch soziale Themen häufiger Platz finden bei zackzack, dann find ich das gut!

  3. Ich möchte nicht wissen, wie viele “Systemgeschichten” Menschen auch zu psychologischen Opfern gemacht haben und wie viel hier die Psycholgen unseres Landes hierzu wissen und genauso dazu schweigen wie die gekauften schon die Qualitätsmedien seit vielen Jahren?

    (Habe heute auch gelesen, dass der Innenminister allein 50 PR Manager beschäftigt.
    Diese werden dann wohl den Qualitätsmedien ihre Veröffentlichungen schon und schön vorschreiben und kommt dieser Umstand wohl noch mindestens zu den Inseratenmedienskandalen noch hinzu?)

  4. Immer vor Weihnachten oder wenn’s draußen dunkel wird,das SUZID-Thema und sich wundern, wenn ..
    Das ewige Depressions-Gelabere. Es sehen sich soooo viele als Experten für Depression und übersehen das SCHÖNE AM TAG.
    Wir haben das mit den Eltern abgeklärt, auf eigene Resilienz gesetzt, mit Freunden darüber geredet, manchmal hilft sudern und dann geht’s schon wieder. Glaub es nicht, dass die Zahl der Suizide tatsächlich so hoch ist, und falls jemand suizidär ist, warum, wie alt, wie krank (Krebs). Man muss nicht alles für sch…. erklären, jedem Tag lässt sich was Gutes abgewinnen, man muss offen dafür sein, wir haben immer gelacht im Büro, wenn’s sch…. Persönlich kann ich dem Artikel nichts abgewinnen, da gibt es DEN “Lebenshelfer”, der sich insbes. Frauen sucht, denen es sch.. geht, zuhause dann sind TÜRSCHARNIERE AUSGETAUSCHT, in der Wohnung liegen Folder – neu offen aufgebreitet – über Suizid und Depressionen und ein Typ hat zuvor sie monatelang schwerst GESTALKT. böse absicht

    • Das hätten sie einmal meinem Vater und meinem Bruder, meinen beiden Nachbarn und dem Vater meiner Freundin und auch der Frau meines Arbeitskollegen erzählen sollen….die haben alle das SCHÖNE AM TAG irgendwann vor lauter Finsternis nicht mehr gesehen…hoffentlich geht es denen da wo sie jetzt sind besser, besser als in dieser Welt voller Ignoranten und ja, sie dürfen sich ruhig angesprochen fühlen.

      • Glauben Sie über sich, dass SIE vielleicht der IGNORANT waren ?

        das klingt sehr nach Schuldgefühlen? Ich kenne auch 2 Personen, die haben den Suizid ca 15 – 20 Jahre zuvor begonnen, diesen anzukündigen, irgendwann konnte die Familie nicht mehr und Jahre später, relativ im vorangeschrittenen Alter starb er. Wie schrecklich es klingt, für IHN war es eine Erlösung (Brief).
        Wenn ich ehrlich bin, warum sich jemand das Leben nimmt, die Entscheidung trifft er – das ist – MEINE Meinung – etwas sehr Persönliches.
        Ich kenne auch Personen, die lange Jahre an schweren Erkrankungen litten, die Familie sah das Leiden, einen Körper verfallen zu sehen, die mageren Glieder, blaue Adern, die Nadeln für Injektionen… von mal zu mal in einen anderen Trakt verlegt, im letzten – der Todestrakt – starb die Person schwerst gezeichnet.

        Schuldgefühle müssen Sie nicht anderen aufdrücken,
        sprechen Sie BITTE mit der Sozialseelsorge, EMPFEHLE ICH IHNEN DRINGENDST!!!!
        tun sie’s – ohne sofort beleidigt zu sein

    • Ja-mit der Jahreszeit hat es nichts zu tun- August 2021 beinahe gleich viel wie Dezember 2021
      Aber Wahnsinn wenn man die Gesamtzahlen in Österreich sieht! Knappe 10.000 und mehr!

  5. Hausärzte verschreiben bei uns Antidepressiva als wären es Zuckerl, auch weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Statt Psychotherapie und anderer Unterstützung, statt einer menschlichen Arbeitswelt und sozialer Sicherheit gibts eine Tablette. Damit hat sich die Politik aus der Verantwortung gestohlen. Bei Frauen ist der Depressionsverursacher oder Verstärker meistens männlich und bei den Männern kommt die Depression häufig aus der Flasche, mit der sie versuchen eben diese zu bekämpfen. Ein Teufelskreis der unserem unsinnigen Patriachat geschuldet ist.

  6. Die Ausführungen der Frau Frasl gefallen mir weitgehend. Ob man allerdings soziale und gesellschaftspolitische Probleme mit Psychotherapie bewältigen kann, ist mehr als fraglich. Und speziell Depressionen werden von Psychiatern in aller Regel ausschliesslich mit (wirklungslosen, aber nebenwirkungsreichen) Medikamenten behandelt, wodurch sie sich m. E. erst chronifizieren.
    Besonders das Eintreten für mehr Gleichheit gefällt mir bei Fr. Frasl.

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