Wer wird deutscher Kanzler?
Im Kampf um die Merkel-Nachfolge fliegen die Fetzen. Während sich CDU-Laschet mit einer fragwürdigen Aussage zur Nachkriegsleistung der Sozialdemokratie hinreißen ließ, muss SPD-Scholz Fragen zu einer Razzia im Finanzministerium beantworten.
Berlin, 11. September 2021 | Nach 16 Jahren Angela Merkel ist das Rennen um das Kanzleramt in Berlin so offen wie nie. Etwas mehr als zwei Wochen noch, dann weiß Europa, wer Regierungschef im mächtigsten und bevölkerungsreichsten EU-Land wird.
Gerade bei den Konservativen steigt die Nervosität, denn der Trend in den Umfragen scheint sich zu verfestigen: die SPD liegt deutlich vor der Union aus CDU und CSU. Selbst die zuvor zurückhaltende Noch-Kanzlerin Angela Merkel schaltete sich in ihrer letzten Rede vor dem Parlament ungewöhnlich scharf in den Wahlkampf ein. Etliche andere Unionsvertreter warnen beinahe täglich vor einem „Linksrutsch“, sollte die SPD von Kanzlerkandidat Olaf Scholz die Wahl gewinnen.
Laschet mit Entgleisung auf Parteitag
Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der in der Direktwahlfrage nicht einmal in Bayern vor Scholz liegt, steht gehörig unter Druck. Sollte er die Wahl verlieren, droht der Noch-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bald ganz ohne Amt dazustehen. Umso schärfer werden auch seine Töne. Am Samstag ließ er sich zu einer Entgleisung auf dem CSU-Parteitag hinreißen: „In all den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen die Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite“, so Laschet.
In den sozialen Medien rief die Aussage Empörung hervor. Bilder vom Kniefall des Ex-SPD-Kanzlers Willy Brandt in Warschau machten die Runde. Andere erwähnten die „Ehe für Alle“, die vom Koalitionspartner SPD maßgeblich auf den Weg gebracht worden war. Laschet hatte damals für den Fall einer Mehrheit des Vorhabens vor einem Verfassungsbruch gewarnt. Vor einigen Tagen sorgte er deshalb für Verwirrung, als er im ZDF betonte: „Ich hätte dafür gestimmt, man kann aber auch dagegen stimmen.“ Mittlerweile will er es anders gemeint haben: „Damals hätte ich so gehandelt wie Angela Merkel: Sie hat den Weg freigemacht, aber bei der Abstimmung ihre Bedenken berücksichtigt. Heute hätte ich für das Gesetz gestimmt.“
Söder auf einmal zahm
Dass der Union eine Wahlniederlage blühen könnte, weiß man auch in München. Berichten zufolge bereitet sich die CSU schon darauf vor, die Schuld auf die Schwesterpartei CDU zu schieben und schießt deshalb fleißig in Richtung Laschet. Das geschieht nicht uneigennützig, denn auch die bayerischen Löwen hat der Sinkflug in den Umfragen erwischt, die CSU liegt bei unter 30 Prozent. Am Parteitag in Nürnberg gab sich CSU-Chef Markus Söder allerdings zahm: „Wir wollen, dass du Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wirst. Die Bühne gehört dir“, sagte Söder zu Laschet, der im Angesicht der jüngsten CSU-Angriffe gegen seine Person fast schon frenetisch bejubelt wurde.
Laschet forderte in seiner Rede abermals von Scholz, ein Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linken auszuschließen. Umfragen zufolge hat eine deutliche Mehrheit aber keine Angst vor einem solchen möglichen Bündnis. Selbst konservative Experten sehen die „Rote Socken“-Kampagne bislang nicht aufgehen.
Neuer Druck für Scholz
Gewonnen ist die Wahl für die SPD allerdings noch lange nicht. Scholz hatte sich am Donnerstag nach den Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft Osnabrück in seinem Finanzministerium verstimmt gezeigt. Das kam nicht überall gut an und wird jetzt von der politischen Konkurrenz ausgeschlachtet. Laschet warf Scholz Populismus vor. Er solle sich bald dafür entschuldigen. Grüne, FDP und Linke wollen Scholz zudem vor den Finanzausschuss zerren und zu den Vorgängen rund um die Geldwäscheeinheit FIU befragen. Gerüchte, wonach das CDU-geführte niedersächsische Justizministerium die Durchsuchung aufgrund des Termins kurz vor der Wahl aus parteipolitischen Zwecken durchgeführt haben könnte, wurden vom Ministerium selbst zurückgewiesen. Der leitende Staatsanwalt in Osnabrück ist in unterschiedlichen Funktionen bei der CDU tätig.
Beobachter rechnen auch aufgrund der Causa damit, dass sich Laschet und Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock am Sonntag im ARD-„Triell“ auf Scholz einschießen werden. Spannend dürfte die Konfrontation allemal werden. Geht es nach CSU-Söder, wird sich an diesem Wochenende die Wahl entscheiden. Es sei die letzte Möglichkeit für eine Trendwende, so Söder im Vorfeld des Parteitags.
Einer „YouGov“-Umfrage zufolge erholt sich die Union aus CDU und CSU zwar leicht, sie liegt bei 21 Prozent. Doch die Sozialdemokraten legen weiter leicht zu und würden Stand jetzt von 26 Prozent gewählt werden. Die Grünen sind mit 15 Prozent wohl aus dem Rennen um die Kanzlerschaft. Die rechtsradikale AfD hält bei 12 Prozent, während die liberale FDP von 13 auf 10 Prozent abrutscht. Die Linke fällt von 8 auf 6 Prozent und kämpft damit um den Wiedereinzug (5-Prozent-Hürde).
(wb)
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