Samstag, Juli 27, 2024

SPD gewinnt Bundestagswahl – Polit-Erdbeben

Polit-Erdbeben:

Zum vierten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte geht die SPD als erste ins Ziel. Für die CDU ist es das historisch schlechteste Ergebnis. Laschet will sich derweil ins Kanzleramt retten – und bekommt ein Scherbengericht.

Wien, 27. September 2021 | Die SPD gewinnt nach 1972, 1998 und 2002 zum vierten Mal die deutsche Bundestagswahl. Mit Finanzminister Olaf Scholz darf sich damit erstmals seit der Schröder-Ablöse 2005 wieder ein Sozialdemokrat realistische Hoffnungen auf das Kanzleramt machen.

Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg: die Königsmacher heißen Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP). Beide wollen erst zu zweit verhandeln, da es zwischen den beiden Mittelparteien die größten inhaltlichen Differenzen gebe, so Habeck. Danach wolle man mit SPD und CDU über etwaige Bündnisse reden. Grünen-Star Habeck wittert jetzt innerparteilich Morgenluft. Nach der unterlegenen Kanzlerkandidatur hatte er zunächst verschnupft reagiert und Kollegin Annalena Baerbock Experten zufolge nur halbherzig unterstützt. Jetzt soll er de facto Verhandlungsführer der Grünen werden. In Schleswig-Holstein konnte er erstmals ein Direktmandat holen.

Stimmen von CDU, Linken, AfD – und Nichtwählern

Während die SPD 25,7 Prozent erreicht (+5,2), fällt die CDU auf 24,1 (-8,9). Für CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen ist sie damit „nicht mehr Volkspartei“. Die Grünen schaffen es auf 14,8 Prozent (+5,8) und erreichen damit ihr bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Die liberale FDP gewinnt leicht hinzu (+0,7) und kommt auf 11,5. Sie lässt damit die AfD hinter sich, die mit 10,3 Prozent gerade noch zweistellig bleibt (-2,3). Die Linke fällt mit 4,9 Prozent (-4,3) zwar unter die 5-Prozent-Hürde, wird aber wohl als kleine Gruppe im Bundestag vertreten sein, da sie drei Direktmandate erringen konnte.

Bitter für die Union ist, dass auch Hochburgen wie das Saarland verloren gingen. Nordrhein-Westfalen, immerhin das Stammland von Ministerpräsident Armin Laschet, ist seit Sonntag wieder rot. Derweil setzt die SPD im Osten zu einem ungeahnten Höhenflug an: die Sozialdemokraten sind vor AfD und CDU stärkste Partei in den Bundesländern der ehemaligen DDR. Dies dürfte auch an spannenden Wählerwanderungen liegen – und zwar von Parteien, die in den letzten Jahren im Osten vor der SPD lagen: knapp 2 Millionen wanderten von der CDU zur SPD, 820.000 von den Linken, 420.000 kamen von der AfD. Überraschend: ganze 1,25 Mio. Nichtwähler konnten die Roten mobilisieren, wie die Zahlen von Infratest Dimap zeigen.

Für eine Überraschung sorgte vor allem der SPD-Kandidat aus Südthüringen, Frank Ullrich. Im für die Roten traditionell schwierigen Pflaster holte er das Direktmandat und verwies den umstrittenen CDU-Rechtsaußen, Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, auf die Plätze. Dieser räumte eine „schwere Niederlage“ ein. Im Vorfeld hatten die Grünen und vereinzelt Liberale zur Wahl von SPD-Ullrich aufgerufen.

Ampel oder Jamaika?

Wer Deutschland künftig regieren wird, ist völlig offen. Rechnerisch möglich sind sowohl die „Ampel“ (SPD, Grüne, FDP), ein „Jamaika“-Bündnis (CDU, Grüne, FDP), die Große Koalition unter SPD-Führung oder auch die relativ unwahrscheinlichen Varianten „Kenia“ (SPD, CDU, Grüne) bzw. „Deutschland“ (SPD, CDU, FDP). Für ein Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linken reicht es knapp nicht. Von Wahlsieger Olaf Scholz wird eine Ampel favorisiert, mit der auch große Teile der Grünen sympathisieren. Doch die FDP liebäugelt mit einem Jamaika-Bündnis. Für die CDU wäre das die einzige Möglichkeit, trotz der massiven Verluste das Kanzleramt zu behalten.

Armin Laschet verblüffte noch am Wahlabend, als er in der Elefantenrunde aus dem desaströsen Ergebnis der CDU einen Regierungsanspruch ableiten wollte. Am Montag rudert er dann zurück und verwies auf ein „verändertes Parteiensystem“.

Scherbengericht bei den Konservativen

Unterdessen brodelt es in der Union. Während sich die CSU am Wahlabend überraschend regierungsfreudig zeigte, scheint sie einen Tag später in der Realität angekommen zu sein. Auch die Niederlage wird jetzt zugegeben. Am Sonntag sprach man noch von einem Kopf-an-Kopf-Rennen – auch, als der SPD-Vorsprung immer größer wurde.

Laschet bekommt auch aus den eigenen Kabinettsreihen Druck. Bei CDU-Gesundheitsminister in NRW, Karl-Josef Laumann, soll es laut „Bild“ einen regelrechten Wutausbruch gegeben haben: „Es reicht jetzt! Ich bin es endgültig leid! 1,5 Millionen Wähler sind direkt von CDU zur SPD gegangen. Die CDU ist jetzt nur noch 2-mal FDP!“ Nach Informationen des Boulevardblatts gebe es zur Stunde in der CDU-Zentrale ein politisches Scherbengericht. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ist sauer: „Es sind Fehlentscheidungen in der Vergangenheit gewesen, inhaltlicher Art, in der Regierung und auch in der personellen Aufstellung“, so der CDU-Politiker vor Beratungen der Parteispitzen in Berlin. Er sehe keinen Regierungsauftrag für seine Partei und bringt Laschet damit gehörig unter Druck. Am Sonntag hatte schon Sachsen-Anhalts Landeschef Reiner Haseloff massive Kritik am unglücklichen Laschet-Wahlkampf geübt.

Laut aktueller Forsa-Umfrage am Tag nach der Wahl wollen lediglich 27 Prozent der Deutschen, dass Laschet es überhaupt versuchen solle, nach der Niederlage in Koalitionsverhandlungen zu gehen. 60 Prozent wiederum wollen eine Regierung unter Führung von Olaf Scholz. 40 Prozent wünschen sich eine Ampel, nur 30 Jamaika.

(wb)

Titelbild: APA Picturedesk

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