Samstag, Juni 29, 2024

Wider die politische Depression!

Warum es gerade angesichts wachsender Unsicherheiten packende Botschaften von „Hoffnung“ und „Wandel“ braucht.

Nachdem ich die vergangenen Monate als Co-Dramaturg der „Wiener Prozesse“ bei den Wiener Festwochen wie ein Irrer gearbeitet habe – der dritte Prozess ging erst am Sonntag vor einer Woche zu Ende –, reiste ich nach Berlin, wo ich die Teilnahme am „Progressive Governance Summit“ zugesagt hatte. „Progressive Security“ war dieses Jahr das Thema, das gut gewählt war.

Dieser „Gipfel“ von progressiven Regierungsparteien wurde vor 25 Jahren von Bill Clinton, Tony Blair, Romano Prodi und anderen ins Leben gerufen, hat sich seither aber auch ein wenig gewandelt. Im Grunde ist es ein Netzwerk von sozialdemokratischen, progressiven, und linksliberalen Parteien und Think-Tanks. Eine wunderbare Tauschzentrale von Information und Wissen.

Diesmal waren Olaf Scholz, Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, die schwedische Ex-Außenministerin Anne Linde, Funktionäre der Labour Party (die demnächst einen großen Wahlsieg feiern wird), hohe Parteimanager der US-Demokraten, der Präsident des „Center for American Progress“, die dänischen Links-Grünen, die dort bei den Europa-Wahlen die rechtsgedrehten Sozialdemokraten auf die Plätze verwiesen haben, Wahlkampf-Planer von Justin Trudeaus kanadischen Liberalen und viele andere mit dabei.

Das Bedürfnis nach Sicherheit

Die Welt ist aus den Fugen, überall haben die Bürgerinnen und Bürger ein Gefühl wachsender, endemischer Unsicherheit. Die ganze Atmosphäre ist erfüllt von Gefährdungsgefühlen und Verlustängsten und dem Empfinden, dabei auf sich allein gestellt zu sein. Es ist verständlich und naheliegend, dass in einer solchen Zeit viele Menschen intuitiv dazu neigen, wenigstens das verteidigen zu wollen, was sie erreicht haben. Das „Bedürfnis nach Sicherheit“ wird hier zu einer politisch mächtigen Emotion.

In mehrfacher Hinsicht bricht die Unsicherheit in das Leben der Nationen ein: Einerseits als globale Unsicherheit, Kriegsgefahr, die Kriege zwischen Russland und der Ukraine, der Krieg in Nahost. Zweitens in Form von Kriminalität und den Schlagzeilen von Verbrechen zukunftsloser, gestrandeter junger Migranten. Und drittens als Unsicherheitsempfinden in einer stagnierenden Ökonomie mit steigenden Preisen, wo viele Leute Angst haben: Kann ich demnächst noch meine Rechnungen zahlen? Die Miete? Kann ich eine Wohnung finden, die bezahlbar ist? Strom, Gas, Heizung? Und: Was wird aus meinem Job?

Warum fühlen sich alle dauernd unsicher?

„Why Does Everyone Feel So Insecure All the Time?“ – „Warum fühlen sich alle permanent so unsicher?“ – fragte die „New York Times“ vor einigen Monaten in einem großen Essay der Autorin und Filmemacherin Astra Taylor. Taylor spricht einerseits von „fabrizierter Unsicherheit“, um Menschen „agiler“ zu machen. Die Wettbewerbskultur, die wir etabliert haben, hält die Menschen ja nicht nur mit der Karotte, also den positiven Anreizen auf Trab, sondern mit dem Stock, der negativen Botschaft: funktioniere, oder du kommst unter die Räder. Im Unterschied zu Missständen wie Armut oder Ungleichheit, so Taylors sehr wichtige Beobachtung, „befällt Unsicherheit Menschen auf nahezu jeder Sprosse der sozialen Leiter.“ Unten wissen sie nicht mehr, wie man das Essen auf den Tisch bringt, in den Mittelschichten grassiert die Angst vor dem Statusverlust, dass man die Kredite für das Eigenheim kaum mehr stemmen kann.

Hinzukommt, durch den Verlust an Solidaritäten und die Auflösung von Lebenskulturen, die so etwas wie Einbettung und Zugehörigkeit schufen – „Belonging“ – das Empfinden, dass man sich auf keine Netzwerke mehr verlassen kann. „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst“, ist ein Satz, den man in nahezu allen soziologischen Feldforschungen auf der ganzen Welt findet – vom Mittelwesten bis Gelsenkirchen, von London über Chemnitz bis in die Obersteiermark.

Und noch einmal hinzu kommt die Klimakrise, die auch die verbohrtesten Leugner nicht mehr ignorieren können. Das Bewusstsein, dass es eigentlich fünf nach zwölf ist und nicht erst die Großenkelgeneration, sondern wir und unsere Kinder massiv betroffen sein werden (und eigentlich schon sind), verstärkt noch einmal einen Fatalismus.

Verteidigung des Status Quo

Aber es gibt viele Paradoxien und Ambiguitäten, wenn man beginnt, über diese Unsicherheitsdiagnose genauer nachzudenken. Es ist einerseits richtig, dass eine solche Stimmung der fröhlichen Gesellschaftsverbesserung und dem reformerischen Elan nicht günstig ist. Es ist eher eine Stimmung, die Konservatismus verstärkt: Wer verspricht, den Status Quo zu verteidigen, wer verspricht, dass es für eine bestimmte Gruppe zumindest nicht schlechter wird, der kann auf Zuspruch hoffen. Andererseits aber grassieren Zorn und Wut. Dieser Zorn und diese Wut sind der Treibstoff, der die rechten Extremisten und Populisten stark macht. Aber sie versprechen das Gegenteil von Sicherheit. Ihre Botschaft ist ja eben nicht: „Keine Experimente“. Ihre Botschaft ist: „Schlagen wir dieses System kaputt.“

In einem gewissen Sinn haben „konservierende“ und „revolutionierende“ Botschaften die Seite gewechselt: Die meisten Linken sagen „handelt vernünftig“, „gefährdet nicht die Demokratie und Rechtsstaat“, während die Rechten mit der impliziten Botschaft gewinnen: „Wir schlagen alles kurz und klein.“

„Freiheit“, „Autonomiegewinne“ und „Sicherheit“ stehen ohnehin ganz generell in einem paradoxen Verhältnis. Die Sicherheit ist ja der – „sichere“ – Grund, auf dem sich Autonomie erst entfalten kann. Das war beispielsweise seit jeher das Paradoxon des Sozialstaates: Die Sicherheiten, die er garantierte, wurden zu mächtigen Kräften des Individualismus. Insofern ist das „Sicherheitsbedürfnis“ nicht eine Gegenkraft zum „Autonomiestreben“, sondern dessen Voraussetzung.

Sollen Linke „rechter“ werden?

In einer Ära mehrfacher endemischer Unsicherheit – wie gesagt: Internationale Spannungen, Krisengefühl der inneren Sicherheit, ökonomischen Abstiegsängsten und Angst vor der ökologischen Katastrophe –, gibt es naturgemäß auch bei den Progressiven die Intuition, dass man eher mit Botschaften des Bewahrens als des Wandels gewinnen wird. Also mit den „Tough on Crime“-Botschaften und dem Versprechen, dass man bei all den chaotischen Änderungen, die Menschen verunsichern, auf die Bremse steigen werde. Simpel gesagt: Dass man zumindest teilweise auch auf dem Spielfeld spielen muss, auf dem sich üblicherweise die Konservativen und die radikalen Rechten besonders wohl fühlen. Weitere Intuition: Dass man in einer Zeit, in der viele eher ängstlich sind und eine Atmosphäre der depressiven Stockung dominiert, mit optimistischen Botschaften des Wandels nicht durchkommen wird.

Es gab bei dem „Global Governance Summit“ einen beredeten Moment, ein Streitgespräch zwischen der linken Philosophin Lea Ypi und Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Sozialdemokraten haben keine Geschichte mehr zu erzählen, keine eingängige Botschaft, die emotional verbindet und auch leicht zu verstehen ist, attackierte Ypi den Kanzler. Der erwiderte, dass er diese Diagnose nicht teile, dass man eine Botschaft habe.

Er hat dann versucht, sie zu skizzieren. Ich habe vergessen, welche Botschaft das war.

Die Intuition, dass man selbst „konservativ“ werden müsse und das „Bedürfnis nach Sicherheit“ mit Botschaften des Bewahrens streicheln müsse, ist aber falsch, das zeigen Erfahrungen.

Es gibt genug Depressions-Verbreiter!

Progressive haben noch nie mit Botschaften von Sicherheit und Bewahren gewonnen, sondern immer nur mit Botschaften von Hoffnung und Veränderung. Dafür sind sie schließlich da. Auch heute: Gerade wegen der allgegenwärtigen Instabilität und dem Krisengefühl wünschen sich die Menschen ja nicht, dass dieser belastende Zustand bewahrt wird. Plausible Konzeptionen der Veränderung und des Optimismus kommen an. Die Labour Party wird damit demnächst groß gewinnen, obwohl sie im Ungefähren lässt, was genau sie verändern möchte. In Dänemark haben die Links-Grünen bei den Europawahlen triumphiert, weil sie das Klimathema und die soziale Frage verbunden haben, denn man muss sowohl etwas gegen die fossilen Brennstoffe als auch gegen die explodierenden Energiekosten tun. Und erneuerbare Energien schaffen beides: Sie sind saubere Energien und sie sind billige Energien, wenn die Solarfelder und Windräder einmal stehen und die Stromnetze ausgebaut sind. Die Linksgrünen haben einfach ein Bild gezeichnet, wie eine Gesellschaft der Vielfalt sowohl kulturell, als auch ökologisch und ökonomisch vorangebracht werden könnte. Sie verbanden, simpel gesagt, die grünen Themen mit niedrigeren Kosten. Sie punkteten mit einer Botschaft von Wandel, Freiheit und Sicherheit. Die rechtsgedrehten Sozialdemokraten (die in etwa für den Doskozil-Kurs stehen), haben dagegen ein regelrechtes Debakel erlitten und sind auf 15 Prozent abgestürzt.

Auch unser Land braucht einen Aufbruch aus Pessimismus und Negativität. Mitte-Links-Parteien müssen das Bedürfnis nach Sicherheit in Rechnung stellen und auch die Tatsache, dass gesellschaftlicher Wandel auch zu schnell und überfordernd sein kann. Aber wenn sie sich zu Sprachrohren von Kleingeistigkeit, Konformismus und Konservatismus machen, dann haben sie schon verloren – oder wenn sie defensiv werden, weil sie glauben, mit ihren Werten im Augenblick sowieso nicht durchzukommen. Das Bedürfnis nach einer Botschaft von „Hoffnung“ und „Wandel“ ist groß. Wie sagte Patrick Gaspard, der Präsident des „Center for American Progress“ und frühere Mitstreiter von Barack Obama: „Wir haben genug Parteien, die Depression verbreiten.“


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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