Deutschförderklassen, Sprachverbote, Brennpunktschulen: Warum all das problematisch ist – der Logopäde Ali Dönmez im großen Interview mit ZackZack Türkiye.
Wien, 6. Dezember | Ali Dönmez ist praktizierender Logopäde und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit Mehrsprachigkeit. Er ist der Initiator der Petition „Lasst Kinder gemeinsam lernen!“, die sich für die Abschaffung der sogenannten Deutschförderklassen einsetzt. ZackZack Türkiye hat ihn dazu und auch zu “Sprachverboten” interviewt.
ZackZack Türkiye: Herr Dönmez, Sie arbeiten im Sprachnest, einer logopädischen Praxis in Wien, und bieten Patientinnen auch Therapien auf Türkisch an.Mit welchen unterschiedlichen Problemen kommen die Menschen zu Ihnen?
Ali Dönmez: In der freien Praxis kommen viele Kinder zu mir. Eltern melden sich, weil sie Sorgen bezüglich der Sprachentwicklung ihrer Kinder haben oder die Kindergartenpädagogin ihnen empfohlen hat, ihr Kind logopädisch begutachten zu lassen. In der überwiegenden Mehrheit in der freien Praxis therapiere ich Kinder, aber auch Erwachsene mit Schlaganfall. Das Arbeitsfeld in der Logopädie ist sehr facettenreich, was mir sehr gut gefällt.
Gibt es in Österreich einen Mangel an Praxen, die auch speziell für türkischsprachige Patientinnen ausgelegt sind?
Es gibt einen großen Mangel. Ich kann in ganz Österreich türkischsprachige Logopädinnen, die auch auf Türkisch Therapien anbieten, vermutlich an einer Hand abzählen. Wenn man bedenkt, dass es in Österreich viele türkischsprachige Menschen gibt, dann herrscht ein Riesenmangel.
Eltern aus Linz, Graz oder auch aus Salzburg sind schon zu mir nach Wiener Neustadt gefahren, damit ich das Kind begutachten kann, weil deutschsprachige Logopädinnen unsicher sind, wie sie jetzt die Sprachstörung einschätzen sollen. Ist es eine Sprachstörung oder ein Zweitsprachen-Problem? Das wäre dann gar keine Störung, sondern würde eine Sprachförderung benötigen.
Warum treten Sie so vehement gegen die sogenannten „Deutschförderklassen” ein?
Es ist wichtig für die Leserinnen und Leser zwischen den Deutschförderklassen als Fördermittel und dem Deutschförderklassensystem, das wir jetzt haben, zu unterscheiden. Die Deutschförderklasse an sich ist eine Form der Förderung, die man zusätzlich verwenden kann, und die durchaus sinnvoll sein kann. Das aber, das wir jetzt haben, ist ein selektierendes, diskriminierendes System.
Wenn wir die Deutschförderklassen kritisieren, kritisieren wir das diskriminierende System dahinter. Ich kenne kein wissenschaftliches Argument dafür, nur politisch motivierte, nicht bildungswissenschaftlich fundierte Argumente.
(C) ZackZack/Christopher Glanzl
Expertinnen schlagen ja schulautonome Modelle vor, in denen Deutschförderung integrativ stattfindet.
Genau, Kinder sollen gemeinsam von einander und miteinander lernen und jene, die zusätzliche Förderung brauchen, sollen diese auch bekommen. Stattdessen werden die Kinder mit fünf Jahren mit einem Test getestet, dem sogenannten MIKA-D Test. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es große Kritik daran.
Was ist das genau?
Der Test misst Kinder, die mehrsprachig sind, an einsprachigen Standards und das „Netzwerk Sprachenrechte“ hat große Kritik daran ausgeübt.
Und was kritisieren Sie daran?
So, wie es jetzt ist, werden Kinder im Vorfeld gestresst. Das erste Schulerlebnis ist ein Test mit weitreichenden Folgen, mit einem Testmaterial, das nicht internationalen Standards entspricht. Schülerinnen können nur aufsteigen, wenn sie diesen MIKA-D Test bestehen und in die Regelklasse eingestuft werden. Es gibt zwar Ausnahmeregelungen, aber wie viele Kinder das betrifft, ist nicht bekannt.
Wenn sie den MIKA-D Test nicht bestehen, werden sie als außerordentliche Schülerinnen eingestuft. Sie werden in eine eigene Klasse gesteckt und als „die anderen“ abgestempelt. Dann müssen sie die erste Klasse wiederholen und wenn sie ihn wieder nicht bestehen, müssen sie die erste Klasse noch einmal wiederholen. Das geht maximal zwei Jahre so. Wir wissen inzwischen von Kindern, die die erste Klasse dreimal besuchen müssen. Diese Kinder sind dann acht, neun Jahre alt und müssen mit sechsjährigen Kindern in die Klasse gehen.
Puh.
Das ist aus wissenschaftlicher, pädagogischer und menschlicher Perspektive völlig indiskutabel. Dieses System der Deutschförderklassen ist leider ein gutes Beispiel für institutionelle Diskriminierung. Als ich die Petition initiiert habe, war einer der Vorwürfe: „Eure Kinder halten unsere Kinder vom Lernen ab“. Der Blick auf mehrsprachige Kinder in Österreich ist immer noch, dass es nicht Kinder Österreichs sind, sondern die Kinder „der anderen“, der „Fremden“ bzw. der Fremdgemachten.
Deutschförderklassen sind ein Symptom eines viel früheren Systemversagens. Es gibt keine flächendeckende, österreichweite, über mehrere Jahre aufbauende mehrsprachige Sprachenförderung für Kinder. Ich plädiere dafür, dass Kinder Sprachförderung bekommen sollen, so weit möglich mehrsprachig, weil wenn Kinder mehrsprachig gefördert werden, können sie sich viel besser Sprachen aneignen.
Viele Schulen werden oft als “Brennpunktschulen” gebrandmarkt.
Brennpunktschule, das Wort schon ist problematisch. Die Schule brennt nicht, die Schule braucht Mittel. Anstatt dass man die Ressourcen dafür schafft, verwendet man solche Wörter, um sie zu stigmatisieren. Ich las einmal ein Zitat, das hier gut passt. Sinngemäß hieß es: „Wenn eine Blume nicht gedeiht, wenn sie nicht blüht, würde man die Schuld bei der Blume suchen oder sich das Umfeld anschauen?“ Wir würden uns fragen, ob sie genug Sonnenlicht bekommt, wie die Erde aussieht, ob sie genug Wasser bekommt.
Bei mehrsprachigen Kindern sagt man, wenn es um Deutschförderung geht: Die Eltern und Kinder sollen Deutsch lernen und wenn es nicht klappt, sind sie selber schuld. Da macht man es sich zu einfach.
(C) ZackZack/Christopher Glanzl
In Österreich wird Bildung vererbt wird. Wenn du als Kind in eine Familie geboren wirst, in der du nicht entsprechend gefördert werden kannst, dann hast du Pech. Wenn wir uns ansehen, wer die erfolgreichsten im Bildungssystem sind, dann sehen wir, auf welche Bevölkerungsgruppe unsere Schule zugeschnitten ist. Das sind nicht nur Kinder mit Deutsch als Erstsprache, sondern auch Kinder mit Eltern, die genug Wissen und genug finanzielle Ressourcen haben. Von dieser Benachteiligung sind auch viele Kinder mit Deutsch als Erstsprache betroffen.
Ist eine Deutschpflicht an österreichischen Schulen sinnvoll?
Deutsch ist in Österreich Amtssprache, also somit die am weitesten verbreitete und dominierende Sprache, aber nicht die einzige Sprache der Bevölkerung. Sprachverbote sind rassistisch. Es gibt ein Wort dafür: Linguizismus. Problematisch wird es, wenn man Sprachgebote hernimmt, weil sie positiv formuliert und sogar gut gemeint sein können. Ich nenne das pseudopädagogisch und pseudolinguistisch.
Sprachverbote sind kein Fördermittel. Man fördert nicht eine Sprache, indem man die andere verbietet, sondern, wenn wir uns überlegen: Wie lernen wir am besten?
Und, was ist das Geheimnis?
Dinge, die uns interessieren, Dinge, die uns Spaß machen, Menschen, die uns motivieren, wenn wir einen positiven Zugang entwickeln, das sind Dinge, die fördern. Wenn wir aber diese Situation nicht schaffen können, dann ist das das Problem und nicht, dass die Kinder in der Pause Türkisch oder Kroatisch sprechen. Kinder haben Rechte und es liegt an uns Erwachsenen, diese zu wahren.
(C) ZackZack/Christopher Glanzl
Die, die Sprachverbote wollen, bringen ja das Argument auf, so Gruppenbildung entgegenwirken zu wollen.
Das sind Argumente, die moralisieren. Gruppenbildung ist essenziell für die Schule. Wenn wir eine Schule haben, in der alle Kinder Deutsch als Erstsprache haben, gibt es dort keine Gruppenbildung? Wonach bildet sich die Gruppe? Die Gruppe bildet sich über Kinder, die Interesse aneinander zeigen. Kinder lernen voneinander. Man eignet sich Deutsch an, wenn man an einer Person Interesse zeigt, mit der man kommunizieren möchte.
Ich habe noch nie eine Klasse mit 20 ‘best friends’ gesehen. Wir haben keinen differenzierten Umgang mit Mehrsprachigkeit erlernt. Wir hatten als Kinder selber keine mehrsprachigen Vorbilder in der Schule, die Mehrsprachigkeit als selbstverständlichen Teil des Alltags vorgelebt haben. All diese Argumente, man könnte glauben, man redet schlecht über einen oder jemand fühlt sich ausgeschlossen, das ist ein angelerntes Verhalten.
(C) ZackZack/Christopher Glanzl
Wenn ich befürchte, dass Kinder in einer anderen Sprache lästern, dann ist das Verhalten das Problem, nicht die Sprache. Diese Kinder werden auch auf Deutsch über andere lästern. Sprachverbot wäre nur eine Problemverlagerung, plus negativer Auswirkung: im Raum Schule hat deine Sprache nichts zu suchen, deine Sprache ist moralisch verwerflich, eine potenzielle Waffe und gesellschaftsstörend, ihr werdet beobachtet – all das hat man dann vermittelt. Diese Sprachgebote und Sprachverbote schaffen soziale Hierarchien, lösen aber keine Probleme.
Sollte es mehr Angebote für Türkisch oder Bosnisch/Kroatisch/Serbisch als Maturafach geben?
Selbstverständlich! Ja! Es sollte mehr Angebote geben. Das war vor einigen Jahren ein riesengroßer Aufreger. Es hat Maturafächer in mehreren Sprachen gegeben und als Türkisch hinzugefügt wurde, gab es eine große Diskussion: „Diese Türken sollen sich integrieren, die sollen Deutsch lernen“. Wenn wir über Türkisch als Maturafach reden, dann reden wir von Schülerinnen, die Maturaniveau Deutsch beherrschen. Das ist mehr als viele Österreicherinnen mit Deutsch als Erstsprache können. Damit ich auf Türkisch maturieren kann, muss ich Mathe, Deutsch, Englisch, Biologie, Geografie auf Deutsch schaffen. Mein Sprachniveau ist so gut, dass ich all das meistern kann, und dann wird mir aber vorgeworfen, ich soll gefälligst Deutsch lernen! Das ist eine so absurde, tragisch komische Situation.
Wie kann man Menschen in Österreich für Antirassismus sensibilisieren?
Das grundsätzliche Problem ist, dass es in Österreich kein Problembewusstsein gibt. Wir können nicht über ein Problem sprechen, wenn wir uns nicht zumindest einig sind, dass wir ein Problem haben. Es wird so dargestellt, als ob Rassismus ein individuelles Problem sei. Rassismus ist aber ein System, das darauf basiert, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eine andere diskriminiert und strukturell benachteiligt. Dann gibt es unterschiedliche Formen und es gibt natürlich auch Rassismus auf individueller Ebene. Es fehlt eben das Bewusstsein dafür, dass Rassismus ein System ist. In Österreich haben es Menschen mit einem bestimmten Namen, Religion, Herkunft, Sprache, Aussehen schlechter am Wohnungsmarkt, am Arbeitsmarkt, in der Schule.
Was muss dagegen getan werden?
Wir müssen weiter aufklären und Rassismus benennen. Es gibt Menschen, die reflexhaft reagieren: ‚Oh mein Gott, du sagst, dass ich ein Rassist bin.‘ Nein, ich sage nur, dass etwas rassistisch ist, nicht, dass du ein Rassist bist. Wir müssen lernen, über Rassismus zu sprechen, ohne in eine Abwehrhaltung zu verfallen.
(gh)
Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl