Donnerstag, Oktober 10, 2024

Wenn die ganze Welt verrückt wird

Es ist ein Gebot der Stunde: Die Vernunft hochhalten und den Konflikt mit jedem Dogmatismus, Fanatismus und autoritärem Irrwitz aufnehmen.

Es gibt Zeitgenossen, die Petitionen unterschreiben, in denen Israel ein „siedlerkolonialistisches, rassistisches Projekt“ genannt wird, und Zeitgenossen, die diese Petitionen nicht unterschreiben, sondern möglichweise in den sozialen Netzwerken nur „liken“.

Es gibt auch viele Zeitgenossen, die ein Video eines Rechtsextremisten super finden, in denen behauptet wird, die Nazi-Killer von der SS hätten die Juden nicht mit Freude umgebracht, sondern sich dabei geschämt, weshalb die SS-Leute nicht so schlimm gewesen wären wie die Hamas, oder die die Meinung bekunden, wir sollen nicht so verzärtelt tun, in Hiroshima hat man auch einfach eine Atombombe abgeworfen, da fragte ja auch niemand, ob das unfair sei, weil unbeteiligte Zivilisten umkamen.

Welcher der beiden Typologien würde in Österreich oder Deutschland seinen Job verlieren, wenn man ihm auf die Schliche kommt? Mit einiger Sicherheit der erstere, mit ziemlich hoher Sicherheit zweiterer nicht.

Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich lehne beide Positionen leidenschaftlich ab. Aber es zeigt schon etwas, dass ersteres heute als eine Haltung angesehen wird, die eine Person vollends diskreditiert, zweiteres aber offensichtlich als nicht nur tolerierte, sondern sogar im Mainstream mehrheitsfähige, jedenfalls durchaus akzeptierte Meinung angesehen wird.

Der Geist des McCarthyismus

Wir können das Exempel für Exempel durchnehmen: Wer die Auffassung vertritt, dass es eine gute Strategie wäre, Israel zu einer Beendigung der Besatzungspolitiken zu zwingen, indem man etwa einen Konsumboykott für israelische (oder im besetzten Westjordanland durch Siedler hergestellte) Waren verhängt, der hat überhaupt keine Chance mehr. Vertritt er es selbst, wird er in hohem Bogen rausgeworfen, wenn er etwa irgendeine Funktion im Kulturbetrieb hat. Kennt er jemanden, der diese Meinung vertritt, und hat er diesen „jemand“ einmal zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen, kann er es sehr schwer haben, seinen Kopf gerade noch zu retten. Kursiert auch nur das Gerücht, eine Person könnte mit dieser Auffassung sympathisieren, die die BDS („Boycott, Disinvestment, Sanctions“) Initiative vertritt, dann hat diese schon mehr als ein gehöriges Problem. Susan Neiman, jüdische Amerikanerin und Direktorin des Berliner Einstein-Zentrums (sie ist überdies deutsche und israelische Staatsbürgerin, wenn ich mich recht erinnere), spricht in einem großen Essay in der „New York Review of Books“ von einem neuen „philosemitischen McCarthyismus“, bei dem es mittlerweile „drunter und drüber“ geht. Als McCarthyismus wird eine Periode des Kalten Krieges in den USA bezeichnet, bei dem mittels zahlreicher Verschwörungstheorien eine Hexenjagd gegen alles einsetzte, was auch nur in Verdacht kam, links zu sein.

Die jüngsten Geschehnisse geben ihr Recht: Tagungen wurden untersagt, bei denen eine Vielzahl von Menschen mit den unterschiedlichsten Auffassungen diskutieren hätten sollen, Tagungen übrigens, die von linken Juden organisiert worden waren, bei denen die Mainstream-Positionen sowieso überwogen hätten, zu diesen dazu bloß auch andere Meinungen zu Wort gekommen wären; in Kassel verlor ein indischer Kunstkritiker und Kurator seine Position, weil er vor Jahren eine recht dumme BDS-Petition unterzeichnet hatte, und das obzwar er unmissverständlich „den Terror, den die Hamas am 7. Oktober entfesselt hat“ als „schreckliches Massaker“ eindeutig verurteilte. Er empörte sich auch über die „unhaltbare Definition von Antisemitismus“, die sich breitmache. In Berlin hätte dieser Tage eine Ausstellung über muslimische Lebenswelten eröffnet werden sollen, eine reine Kunstausstellung, in der Nahost, Israel oder das Verhältnis von Muslimen zu Juden nicht einmal am Rande vorgekommen wären. Auch sie wurde gecancelt. Ein Berliner Theater hat ein humorvolles Stück („Die Situation“) der austro-israelischen Dramatikerin Yael Ronen über den Konflikt der Narrationen aus dem Programm genommen. Begründung: Jetzt, wo die Situation „uns an die Seite Israels“ stellt, habe das Stück der in Jerusalem geborenen Autorin keinen Platz mehr. Und all das hat ja nicht erst mit dem Massaker vom 7. Oktober begonnen. „Birds“, ein Theaterstück des libanesischen Autors Wajdi Mouawad, eine Art modernes „Romeo und Julia“, wurde in München wegen Antisemitismus verdammt. Witzigerweise wurde die Entwicklung des Stückes sogar von israelischen Regierungsstellen unterstützt. Unnötig hinzuzufügen, dass es auch vier gefeierte Aufführungen in Tel Aviv gab, wo man offenbar zu unterscheiden weiß, ob eine Textzeile im Munde eines Schauspielers antisemitische Stereotype bloß wiedergibt oder ob der Tenor eines ganzen Stückes gleich „antisemitisch“ sei. Oft ist alles noch eine Drehung absurder, so Neiman: „Im Namen der Sühne für die Verbrechen ihrer Eltern und Großeltern, beschuldigen nicht-jüdische Deutsche öffentlich jüdische Autoren, Künstler und Aktivisten des Antisemitismus.“ Kinder von Nazis erklären Juden, was für sie richtig sei.

Es ist völlig verrückt.

„Israelhasser“ und „Antisemit“

All das ist äußerst alarmierend. Erstens wegen der eklatanten Doppelstandards: Man muss gar keine heftige Kritik an Israels Politik üben, um schon als „Israelhasser“ und „Antisemit“ durch die Manege gezogen zu werden, während es völlig folgenlos bleibt, wenn man die Auffassung vertritt, dass man bei der nun nötigen Auslöschung der Hamas auf Menschenleben und Verhältnismäßigkeit nicht zu viel Rücksicht nehmen solle.

Weiters, und damit zweitens, weil es so etwas wie ein Wetterleuchten ist, etwas, was unsere Diskurse bedroht, und zwar nicht nur in diesem Fall. Lassen Sie mich das nüchtern und ganz systematisch sagen: Beide eingangs grob skizzierten Meinungen sind nicht die meinen, was heißt, ich glaube, gute Gründe zu haben, sie zu kritisieren. Gleichzeitig haben beide Positionen, so diametral gegenstrebend sie sind, zumindest Spurenelemente des Plausiblen. Ich kann zwar bei beiden Ansichten durchaus nachvollziehen, wie man zu ihnen kommt, halte sie aber bei weitem nicht für überzeugend. Aber keine dieser Meinungen ist so abwegig, dass sie nicht geäußert werden dürfte. Und wenn, dann schon eher die Meinung, dass man Gaza in Flächenbombardements in einen Parkplatz verwandeln und die überlebende Restbevölkerung vertreiben sollte.

Irgendwie drehen ja alle gerade durch.

Wir haben alle in unseren eigenen Diskursräumen zu bestehen und in unseren wird gerade eine Meinung auf irre Weise mundtot gemacht. Hier haben wir die Meinungsfreiheit zu verteidigen, auch wenn es sich um Meinungen handelt, die wir ablehnen. In anderen Diskursräumen stellt sich die Sache anders dar, etwa in Frankreich, in Großbritannien, in den USA, und in diesen Gesellschaften noch einmal besonders anders in den Milieus der politischen Linken und speziell der akademischen und postkolonialen Linken.

Was treibt Greta Thunberg?

Wenn ich vom verrückten McCarthyismus bei uns gesprochen habe, dann darf zugleich nicht von einer verrückten Einseitigkeit in diesen anderen Ordnungen der Diskurse geschwiegen werden. Dort ist es nicht weniger irre, nur andersrum. Aus der Kunstszene wurden antiisraelische Manifeste lanciert, und die Gefühlskälte und Empathielosigkeit gegenüber den von der Hamas Massakrierten war himmelschreiend. Das Blut der Massakrierten war noch nicht getrocknet, da wurden schon die „Kriegsverbrechen“ Israels angeprangert. Im legendären „Artforum“ stellten sich 1000 Künstler auf diese Position, danach gingen Offene Briefe hin und her, bald wurde der Artforum-Chefredakteur gefeuert, danach haben dutzende Redakteure ihre Mitarbeit gekündigt – wiederum in Solidarität mit dem Gefeuerten –, und wie es dann weiter ging, habe ich nicht mehr überblickt. Wahrscheinlich hatten sich am Ende alle wechselseitig gefeuert, so dass niemand mehr übrigblieb.

Auch die Obsession, mit der Greta Thunberg die „Fridays for Future“-Bewegung zur Pro-Palästina-Bewegung umbiegen will, hat etwas Verstörendes. Oft sind weniger die explizit vertretenen Positionen das Problem, sondern das, was man wittert: Eine eklatante emotionale Einseitigkeit. Und zwar bei beinahe allen Positionen.

Im sonst so großartigen Magazin „n+1“, der Plattform der amerikanischen intellektuellen Linken, bekommt man einen ganz guten Einblick über die hegemonialen Ansichten in relevanten Teilen der US-Radikalen. Israel wird da auf ein „völkermörderisches Projekt des Siedlerkolonialismus“ reduziert, als Auswuchs quasi aller imperialen Ungerechtigkeiten, die nicht zuletzt die USA seit 500 Jahren anrichten, von den Genoziden im Inneren (gegen die indigene Bevölkerung) als auch gegen die unterdrückten Völker weltweit. Ein jüdischer amerikanischer Linker ignoriert die Gräueltaten der Hamas nicht, postuliert zugleich aber, dass diese die Gräuel Israels nicht rechtfertigen und ist dann schnell bei der Auffassung, dass der Feldzug der israelischen Armee kein „Krieg“ sei, sondern: „Es ist eine Ausrottung.“

Die wahnwitzige Logik radikaler Linker

Aufmerksamen Beobachtern ist schon aufgefallen, wie sehr sich in einer Sache die Antipoden gleichen, also die akademische pro-palästinensische Linke dort und der pro-israelische Mainstream hierzulande: noch die leisesten Abweichungen, ja, selbst das Nachdenken, das vorsichtige, abwägende Entwickeln einer Position, all das soll ausradiert werden, es schleicht sich etwas erschreckend Autoritäres ein. Wer Einwände hat, wird moralisch diskreditiert: hier als Antisemit, dort als Agent des weißen Rassismus und des Imperialismus.

Die postkoloniale, akademische Linke hat verschiedene Theorien und Ideenschulen hergenommen, von denen einzelne durchaus inspirierend sind und dem Denken einen produktiven, neuen Horizont eröffneten – aber sie hat diese zu autoritären Wahnideen radikalisiert. Die Machtanalyse Foucaults, die gerade nicht die repressivsten Machtpraktiken, sondern die subtilen, unsichtbaren kritisierte, diente als Quelle für einen Blick auf unausrottbare Unterdrückungen, Stereotypisierungen und Herabsetzungen. Spitzt man das blöde zu, kann sich fast jeder (außer männliche, weiße, halbwegs wohlhabende Heterosexuelle) irgendwie als Opfer von unterdrückenden Strukturen sehen, und noch in jeder „Mikroaggression“ sitzt die rassistische und repressive Struktur fest drin wie die Kröte in ihrem Tümpel. Da Unterdrücker nie die Erfahrungen der Unterdrückten nachvollziehen oder auch nur verstehen können, müssen die Unterdrückten immer recht haben. Dann ist schnell alles mit Rassismus durchzogen, selbst der gutmeinendste Kämpfer für die Menschenrechte kann seinen eingeimpften Rassismus nie losbekommen, also soll er die Klappe halten und ein „Ally“ (ein „Verbündeter“) sein, bei was auch immer der Unterdrückte tut. Von da ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt zum letzten Klick: Die Palästinenser sind „schwarz“ (also „People of Color“, um exakt zu sein), die Juden sind weiß, und in Israel auch noch dazu Büttel des US-Imperialismus, also Unterdrücker. Folglich muss man richtig finden, was die Hamas tut, denn selbst wenn man es nicht richtig findet, ist es authentischer Ausdruck des Widerstandes der Unterdrückten gegen das System der Unterdrückung und damit auf höhere Weise „richtig“. Meuchelmorde und Blutrausch sind zwar schon irgendwie scheiße, aber Gewalt eben unvermeidbar, und zwar einerseits, um die koloniale Herrschaft zu brechen, andererseits, damit sich der Kolonisierte sein Gefühl der Zurückgesetzheit und seine Traumata vom Hals schaffen kann. Der Kolonisierte – mit den legendären Worten des Psychiaters und politischen Philosophen Frantz Fanon „das kolonisierte Ding“ – kann sich aus der Gewalt nur „in der Gewalt und durch sie“ befreien. Die Gewalt hat kathartische Wirkung, jedenfalls in einer Situation, in der die Gewalt „überall in der Luft liegt … In dieser Situation geht der Schuss von alleine los, denn die Nerven sind überreizt“, schrieb Fanon. Ist man nur tief genug im ideologischen Tunnelblick drinnen, dann kann man einen Mittelschichtsteenager mit Dreadlocks (Cultural Appropriation!) empörenswerter finden als das Zerstückeln jüdischer Mittelschichtsteenager mit Dreadlocks bei einem Rave in der Negev-Wüste. Und der allerletzte Klick: Da natürlich auch die Idee des freien Diskurses selbst eine bürgerliche Ideologie ist, die nur erfunden wurde, um die herrschende Macht zu stützen, soll man abweichende Ansichten delegitimieren oder zur Not niederschreien, denn was „sagbar“ und „nicht-sagbar“ sein soll, ist nach Foucault dann einfach selbst ein Machteffekt, und wenn man dafür sorgt, dass Ansichten, die die Unterdrückung stützen, nicht mehr gesagt werden, dann ist ein kleiner Schritt zur Befreiung schon gemacht.

Verteidigung der Vernunft!

Es ist schwer, in all dem Irrsinn die Vernunft zu behalten. Umso notwendiger: Die Vernunft zu verteidigen. Ankämpfen, die Freiheit des Wortes verteidigen, gegen überschießenden Autoritarismus, und die Liberalität, die Menschenrechte und den Wert jedes menschlichen Lebens gegen die Empathielosigkeit und Gefühlskälte, und ja, wenn es notwendig ist, auch gegen die eigenen Leute und den falschen Common Sense im eigenen Milieu. Damit macht man sich zwar Feinde und setzt sich zwischen alle Stühle. Aber wenn es an besseren Sitzgelegenheiten fehlt, ist das nicht der schlechteste Platz.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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