Samstag, Juli 27, 2024

Alles Antisemiten außer Bibi

Es ist keine gute Idee, die Empathie für palästinensische Opfer als „Judenhass“ zu verunglimpfen.

Welchen Grad an Verrücktheit gesellschaftliche Stimmungen und Dynamiken absurder Einseitigkeit erreichen können, zeigte sich unlängst bei der Berlinale, dem Filmfestival in der deutschen Hauptstadt. Da wurde etwa dem jüdischen israelischen Filmemacher Yuval Abraham einer der Hauptpreise verliehen. Ausgezeichnet wurde seine Dokumentation über die Lebensbedingungen der Palästinenser im Westjordanland. Er stand mit einem seiner arabischen Co-Regisseure auf der Bühne, hielt eine Rede, in der er sich für Frieden, einen Waffenstillstand, Versöhnung und Gleichberechtigung einsetzte, und bezeichnete die administrativen Benachteiligungen der Bewohner in der besetzten Westbank als „Apartheid“. Nun ist Israel innerhalb seiner Landesgrenzen sicherlich kein „Apartheid“-Staat, aber das Regiment in den besetzen Gebieten ist gekennzeichnet durch drei verschiedene Verwaltungsregionen, zerschnitten durch dutzende Korridore und Checkpoints, in denen jeweils unterschiedliche Normen bezüglich Bewegungsfreiheit usw. herrschen, was ja exakt die Definition von Apartheid ist. Das Absurde war aber: Es ging gleich ein Aufschrei durch die deutschen Lande, dass bei der Berlinale „Antisemitismus“ gepredigt werde.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ein jüdischer Israeli plädiert für Frieden, Waffenstillstand, Gerechtigkeit und rechtliche Gleichstellung – dafür, wie er explizit sagte, dass seinem Co-Regisseur die gleichen Rechte zustehen sollten wie ihm selbst (!) – und wird dann mit dem „Antisemitismus“-Vorwurf niedergemacht.

Deutsche beschimpfen Juden als Antisemiten!

Dass dieser Vorwurf nicht zuletzt auch von Deutschen kam, von denen wohl nicht wenige Enkel und Urenkel von Nazi-Mitläufern oder -Verbrechern sind, gibt dem Ganzen noch eine zusätzliche schlecht riechende Note.

Die Deutschen beschimpfen also Juden als Antisemiten. Man kann sich kaum etwas Verrückteres ausdenken. Aber es ist fast schon alltäglich geworden.

Wie verantwortungslos mittlerweile mit der Antisemitismus-Vokabel herumgeworfen wird, ist skandalös und auch völlig kontraproduktiv. Wer Empathie für die vielen zigtausend zivilen Opfer im Gazastreifen nicht nur heimlich hegt, sondern auch offen ausspricht, muss schon damit rechnen, als „Antisemit“ gebrandmarkt zu werden.

Die Hamas hat am 7. Oktober nicht nur einen folgenschweren Terroranschlag verübt, sondern ein brutales Massaker, ein sadistisches Blutbad, das über tausend Todesopfer forderte, und sie hält immer noch dutzende Geiseln in ihrer Gewalt. Mit Recht wurde oft der Vorwurf erhoben, dass es vielen Palästina-Solidaritäts-Aktivisten an Empathie für diese Opfer fehlt, und sie nur die Opfer der israelischen Anti-Hamas- und Vergeltungs-Operationen beklagen, und dass diese Kaltherzigkeit im Extremfall auch Folge von blankem Antisemitismus ist. Juden in aller Welt sind echtem Antisemitismus ausgesetzt, haben nicht nur ein subjektives Bedrohungsgefühl, sondern sind in einer aufgeheizten Atmosphäre auch realen Bedrohungen ausgesetzt, wie zuletzt ein Messerangriff eines jungen tunesischstämmigen Schweizers auf einen orthodoxen Juden in der Schweiz zeigte.

Nach dem 7. Oktober sind aber auch über 30.000 Bewohner des Gazastreifens ums Leben gekommen, und man darf getrost davon ausgehen, dass wohl nicht einmal ein Drittel davon aktive Hamas-Kämpfer waren. Der Rest sind Zivilisten, die nach den Normen des Kriegsvölkerrechts geschützt werden müssen. Die mangelnde Empathie mit den jüdischen Opfern des 7. Oktober ist moralisch skandalös, aber genauso ist es die mangelnde Empathie mit den massenhaft getöteten Zivilisten im Gazastreifen. Wer aber diesen Aspekt des Massakers erschütternd findet, der wird gleich selbst moralisch niedergemacht und damit mit echten Antisemiten in einen Topf geworfen.

In Folge davon gibt es in Deutschland und Österreich mehr Empörung darüber, wenn jemand die Inkaufnahme von zehntausenden zivilen Opfern ein „Massaker“ nennt – als der Vorgang des Massakrierens selbst.

Es ist eigentlich unglaublich: Die Diskurse sind in Österreich und Deutschland völlig entgleist.

Nicht einmal in Israel selbst, wo die Traumatisierung durch das Hamas-Gemetzel so etwas wie „Einseitigkeit“ psychologisch erklären würde (sie wäre dort absolut verständlich), sind die Diskurse so grotesk einseitig wie hier. Und zwar bei weitem nicht. Was in Israel eine ganz alltägliche Kritik an der Regierung ist, die noch nicht einmal sonderlich für Aufmerksamkeit sorgen würde, wird hier als „Antisemitismus“ verunglimpft. „Es ist ja nur in Deutschland so, dass jeder, der Kritik übt, gecancelt oder beschimpft wird“, konstatiert die Wiener jüdische Filmemacherin Ruth Beckermann erschrocken. Das „Rede- und Denkverbot“ verhindere auch Gespräche, Streit, aber auch die Artikulation der Verwirrtheit und der verschiedensten Intuitionen, die viele Menschen haben. Hierzulande gibt es nicht einmal mehr eine akkurate Berichterstattung – weil die bloße Artikulation von Fakten, die den Propagandisten nicht passen, schon zu Shitstorms führen kann.

Ein nicht unwesentlicher Teil davon ist natürlich Propaganda. Propaganda ist, wie wir alle wissen, nichts anderes als eine zynisch kalkulierte, instrumentell motivierte Strategie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Öffentliche Meinung beeinflusst man, indem man die eigenen Interessen als gerecht hinstellt, aber auch indem man andere Meinungen diskreditiert, und wenn möglich so weit, dass sich niemand mehr diese abweichenden Meinungen zu sagen traut. Das ist bekanntlich unschön, intellektuell abstoßend und ethisch verwerflich, aber so funktioniert Propaganda nun einmal. Die radikale israelische Rechte, vor allem Benjamin Netanjahu und seine heutigen faschistischen Bündnispartner, haben seit Jahren strategisch darauf hingearbeitet, jede Kritik an ihrer Politik als „antisemitisch“ zu verleumden. Propaganda, so kann man das auch definieren, lebt von Lügen, an die die Propagandisten in aller Regel selbst nicht glauben.

Propaganda als Gehirnwäsche

Das Fatale ist aber das Gift, das die Propaganda bewirkt. Es gibt mittlerweile viele Menschen mit ehrenwerten Motiven und noblen Überzeugungen, die tatsächlich diese Propaganda glauben. Die wirklich glauben, dass jede Kritik am israelischen Vorgehen, dass jede Erschütterung über das kriegerische Massaker und jedes Erschrecken über palästinensisches Leid Ausdruck von „Antisemitismus“ sei, deren Artikulation im öffentlichen Raum gänzlich unterdrückt gehört. Das sind die toxischen Symptome von Propaganda, und wir wissen aus vielen Ereignissen der Geschichte und Gegenwart, dass Propaganda wie eine Gehirnwäsche wirkt.

Es ist ja auch auf den verschiedensten Seiten so: viele Muslime – ob im Nahen Osten oder irgendwo anders auf der Welt – sind ebenso der Meinung, dass Muslime nichts als Opfer westlicher Gewaltherrschaft, imperialistischer Überfälle und antiislamischen und rassistischen Ressentiments sind. Auch diese Überzeugung ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern operiert mit Tatsachensubstraten, die aber zu einem überzogenen Schwarz-Weiß-Bild verwandelt werden. Wenn ein solches dichotomisches Bild einmal etabliert ist, dann sind manche überzeugt, dass jede Form von Gegenwehr erlaubt oder zumindest rechtfertigbar ist. Auch westliche, nichtmuslimische Linke, Antiimperialisten oder Anhänger gewisser Spielarten postkolonialer „Theorie“ sind dafür mehr als empfänglich (die Gänsefüßchen sollen die Diskrepanz zwischen klugen Aspekten der Theorie und eher dümmlichen Schlagwort-Versimpelungen derselben illustrieren).

Das darf aber nicht übersehen lassen, dass sich auch die Gegenseite mehr und mehr in radikalisierte Einseitigkeiten hineinschraubt, was so weit geht, dass von einem in Deutschland veranstalteten internationalen Filmfestival gefordert wird, es möge abweichende Meinungen künftig nicht mehr zulassen.

Die Falle der Selbstgerechtigkeit

Die jeweiligen Meinungsgemeinschaften lassen sich auch die absurdesten Dinge einfallen, um die jeweils eigene Seite über alle Kritik erhaben darzustellen. So wie manche Pro-Palästina-Aktivisten wirklich meinen, dass die Geschichte von Leid und Unterdrückung alles rechtfertigt, so argumentieren heute nicht nur Netanjahu-Anhänger, dass es in Gaza gar keine „unschuldigen Opfer“ gäbe, da quasi jeder Zivilist mitschuldig sei, weil man die Hamas nicht gestürzt hat, oder schlimmer noch, weil viele Einwohner Gazas selbst einzelne oder sogar viele Elemente der radikal-islamischen Ideologie teilen. Das ist in etwa so absurd als würde jemand sagen, das Massakrieren israelischer tanzender Twentysomethings ließe sich legitimieren, weil ja schließlich die Rechts-Ultrarechts-Koalition bei Wahlen gewonnen hat.

Leute, so geht das nicht, denn sogar dann, wenn Menschen in den Sog verurteilungswürdiger Ansichten geraten, rechtfertigt das niemals moralisch ihre Tötung, ganz abgesehen davon, dass Völkerrecht und Kriegsrecht hier verdammt eindeutig sind. Nicht nur Zivilisten mit netten Ansichten sind durch das Völkerrecht geschützt, sondern auch Verhetzte, Dumme oder Konformisten, die nachplappern, was ihre Herrschenden sagen.

Alle Wahnsinnigkeiten und alle Einseitigkeit muss leidenschaftlich bekämpft werden, und wenn immer möglich müssen Doppelstandards vermieden werden. Wenn man der einen Seite etwas vorwirft, kann man es nicht bei der anderen Seite entschuldigen. Besonders lustig ist das etwa in Hinblick auf die Parole „Palestine will be free, from the river to the sea“. Nun hat die Hamas sicherlich eine andere Vorstellung von einem „Free Palestine“ als Humanisten, die von einem multiethnischen, demokratischen Zusammenleben von Juden und Arabern zwischen „river and sea“ träumen. Aber die Unterstellung, dass auch nur ein relevanter Teil jener, die diese Parole nachplappern Judenhasser seien, ist eben auch: Eine Unterstellung, die man zunächst einmal belegen sollte. Mein Verdacht: Es wird welche geben, für die das zutrifft. Es wird welche geben, für die das nicht zutrifft. Heute wird aber diese Phrase als Beleg für Antisemitismus oder sogar Schlimmeres (nämlich als Aufruf zum Judenmord) gesehen. Sie ist sogar strafbar. Was aber offenbar niemand weiß und auch von den Strafverfolgungsbehörden wohl eher nicht geahndet wird: auch die Likud-Partei Benjamin Netanjahus benützt diese Parole, nur umgedreht. In deren Gründungscharta heißt es nämlich: „Between the sea and the Jordan there will only be Israeli sovereignty.“ Forderungen, dass das Bekenntnis zur Likud-Partei und ihrer Charta strafbar werden soll, sind allerdings keine bekannt.

Groteske Doppelstandards

Persönlich können mir ja beide Versionen gestohlen bleiben, denn die palästinensische Variante würde im freundlichsten aller Fälle auf ein Ende von Israel als sicherer Heimstatt für Juden aus aller Welt hinauslaufen, die Likud-Version auf Siedler-Raub, gewaltsame Landnahme, Vertreibung der ansässigen Bevölkerung und ethnische Säuberung.  

Man kann jetzt natürlich der Meinung sein, dass man gerne beide Versionen verbieten solle. Aber man kann genauso gut der Meinung sein, dass eine liberale Demokratie auch dumme Ansichten aushalten muss. Ich neige stets zur möglichst liberalen Auffassung, da Verbote leicht eine schiefe Bahn etablieren, wenn man damit einmal anfängt. Was aber nicht möglich ist, das ist, der einen Seite jede Form von Artikulation durch moralische Verunglimpfung oder in dem Fall sogar durch das Strafrecht zu verunmöglichen und auf der anderen Seite grotesk gegensätzliche Maßstäbe anlegen.

Die strategische Operation, auch noch die leiseste Kritik am israelischen Vorgehen unter Antisemitismus-Verdacht zu stellen, ist aber auch noch aus anderen Gründen fatal: Es ist nie gut, Menschen die Möglichkeit zu nehmen, ihr Unbehagen zu artikulieren. Das treibt auch die Anständigen und Moderaten in die Hände der Radikalen, zerstört die intellektuelle Unterscheidungsfähigkeit und verunmöglicht Gespräche. Zugleich untergräbt es die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Selbstkorrektur. Nichts gefährdet die Sicherheit Israels so sehr wie seine radikale Regierung, die sich Kritik durch Verleumdung vom Hals schafft, und deren Mitläufer, die wie in einer Fankurve von den Rängen dieselbe auch noch anfeuern.

Diese Claqueure sind jene Art von Freunden, von denen der Volksmund üblicherweise sagt: Wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde mehr.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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