Mittwoch, Juni 26, 2024

Die Verfassungshasser

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt auch für Palästina-Solidaritätsgruppen. Man kann ihre Parolen kritisieren und dennoch ihr Grundrecht verteidigen.

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, ist eine der berühmtesten Formulierungen von Rosa Luxemburg. Über die Jahrzehnte gewann die kanonische Wendung ein Eigenleben, und heute können wir sie sogar als die große Maxime des liberalen, demokratischen Verfassungsstaates ansehen. Sie hat ein grundrechtliches Pathos, und Pathos ist manchmal nicht schlecht.

Vergangene Woche wurde in Wien, wie auch in anderen Städten – von den USA bis Berlin – ein propalästinensisches Protestcamp geräumt. Ich habe mir erlaubt, auf Twitter die recht nüchterne Frage zu stellen, „mit welcher rechtlichen Begründung die Einschränkung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ gerechtfertigt wurde, und musste mir schon der unschuldigen Frage wegen unterstellen lassen, ein Hamas-Verteidiger oder sonstwas zu sein. Andere haben ganz unverhohlen gemeint, dass ihnen die Räumung einer Versammlung, an der aus ihrer Sicht widerliche Parolen gerufen werden, schon recht sei.

Man könnte diese Leute auch als „Verfassungshasser“ bezeichnen.

Sie finden diese Formulierung übertrieben polemisch? Ja, das ist sie auch. Aber es hat sich auch eingeschliffen, dass Leute, die die Politik der israelischen Regierung kritisieren als „Judenhasser“ bezeichnet werden, und dass Leute, die die überschießende Kriegsführung mit zigtausenden zivilen Opfern erschütternd finden und nach einem Waffenstillstand rufen, als „Antisemiten“ verleumdet werden. Und dieser Unsinn kommt nicht nur von anonymen extremistischen Trollen im Internet.

Edtstadlers Entgleisungen

Selbst Österreichs Verfassungsministerin hat einen israelischen jüdischen (!) Philosophen als „Antisemiten“ verunglimpft, weil der eine an Kant geschulte Position des menschenrechtlichen Universalismus vertritt und auf die Utopie eines säkularen, gemeinsamen Staates von Juden und Palästinensern hofft. In einem normalen Land müsste sie wegen dieser ungeheuerlichen Entgleisung sofort zurücktreten.

Ihre Partei koaliert in Niederösterreich mit der FPÖ. Aber Herr Landbauer ist ihr offenbar lieber als Omri Boehm, der vergangene Woche mit der offenbar schockierenden Formel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ provozierte.

Entgleisungen wie die Edtstadlers sind eine überschießende, völlig verrückte Polemik, die nichts anderes wollen, als Öl ins Feuer zu gießen. Als würde es nicht schon genug brennen, als wäre die Welt nicht schon irrsinnig genug.

Dagegen ist die Bezeichnung als „Verfassungshasser“ für Menschen, die meinen, demokratische Grundrechte gelten nur für Meinungen, die ihnen gefallen, durchaus gut begründbar.

Manchmal hat man den Eindruck, man müsste vieles vom ABC beginnend erneut durchdeklinieren. Etwa, dass politische Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten das eine sind, aber verfassungsrechtliche Maximen das andere.

Gefühlsrohheit auf beiden Polen

Politisch kann ich alle möglichen Ansichten scharf angreifen und kritisieren und soll das auch tun. Bei dem Palästina-Camp an der Universität Wien waren bestimmt auch viele zugegen, die vielleicht ein ehrliches Entsetzen über das Sterben in Gaza haben, aber sehr viele skandierten grausliche Parolen. „Down! Down! Israel!“, aus vielen Kehlen, da dreht es mir den Magen um. Oder wenn einem einsamen Gegenaktivisten die israelische Fahne entrissen und in den Mülleimer gestopft wird. Das sind schon Aktionen, die jedes Verständnis mehr als nur auf die Probe stellen.

Viele pro-palästinensische Aktivisten hängen nicht nur einem manichäischen Schwarz-Weiß-Weltbild an. Dieses manichäische Weltbild hat dazu geführt, dass einige wenige das bestialische Massaker der Hamas und anderer Terrorgruppen vom 7. Oktober sogar als irgendwie legitime Widerstandshandlung rechtfertigen, oder erklären, dass es eine teils legitime Widerstandshandlung gewesen sei, teils leider aus dem Ruder lief. Das sind sehr wenige. Viel mehr lassen aber eine Empathie für die Geschändeten, Ermordeten, Vergewaltigten, bestialisch Gefolterten und für die entführten Geiseln vermissen, sie haben da einen Teil ihres Gemütsapparats auf Gefühlskälte gestellt, weil sie ansonsten mit ihrem Weltbild in Konflikt geraten würden.

Umgekehrt sind auch viele Anhänger der Netanjahu-Regierung in eine emotionale Dynamik der völligen moralischen Enthemmung geraten, bis hin zu der haarsträubenden These, dass es in Gaza keine „unbeteiligten Zivilisten“ gäbe. Gaza wird dem Erdboden gleichgemacht, in Grozny verwandelt, der Hunger und der Tod verrichten ihre Arbeit des Grauens – aber davon sind die Extremisten der anderen Seite wiederum unberührt und verleumden diejenigen als „Antisemiten“, die sich Empathie für alle Opfer bewahrt haben.

Die Traumata verstehen

Politisch haben sich beide Positionen scharfe Kritik verdient, und persönlich halte ich sie letztendlich für verabscheuungswürdig, obwohl ich sogar Aspekte der emotionalen Dynamik, die sie zu solchen unmoralischen Schlüssen bringen, nachvollziehen kann. Ich habe beispielsweise keinerlei Verständnis für Netanjahu und für Propagandaschleudern jüdischer Organisationen, die den Antisemitismus-Vorwurf nur mehr rein zur Kriegspropaganda benützen (und damit völlig sinnentleeren), um jede Kritik an der Kriegsführung mundtot zu machen, aber ich habe sehr wohl tiefes Mitgefühl für die Traumata und Ängste, die der 7. Oktober und antijüdische Exzesse in der jüdischen Bevölkerung in Israel als auch bei uns auslösen. Viele fühlen sich existenziell bedroht und es ist nachvollziehbar, dass man jede Form massiver militärischer Gewalt gegen diese Bedrohung als angemessen ansieht. Nicht wenige sind in ihrem Sicherheitsgefühl völlig erschüttert, und das ist absolut nachvollziehbar. Viele sind immer noch in einem emotionalen Ausnahmezustand.

Das sind die Aspekte, die in der Arena des Politischen und der gesellschaftlichen Diskurse ausgetragen werden müssen. Wo möglich, mit Fingerspitzengefühl, wo nötig, mit Härte.

Grundrechte gelten für alle

In diesen Debatten ist Entschiedenheit gefragt, wenn tatsächlich menschenverachtende Extrempositionen vertreten werden. Wo immer möglich würde ich dennoch dafür plädieren, Gespräche oder zumindest zivilisierte Diskussionen ohne Verleumdungen, Lügen oder Dämonisierungen zu versuchen. Denn verschiedene Episoden der vergangenen Wochen haben mir auch gezeigt, dass Leute, die sich nur anbrüllen, wenn sie Parolen schreien, gar nicht so weit von einer gewissen Verständigungsmöglichkeit entfernt sind, wenn nur einer ein Gespräch beginnt. Manchmal täuscht man sich mit der Dämonisierung der jeweiligen Gegenseite, manchmal auch nicht, aber das findet man nur heraus, wenn man das Gespräch sucht.

Eine Politik der Unterstellungen

Aber kommen wir zurück zu dem, was ich heute eigentlich sagen wollte. Im demokratischen Rechtsstaat, der verfassungsmäßige Grundrechte eisern hochhält, gelten diese Grundrechte auch für diejenigen, deren Meinungen man nicht teilt. Das Camp an der Universität Wien von einigen kleinen propalästinensischen Grüppchen war zunächst ohne jeden Zweifel von der Versammlungsfreiheit gedeckt. Auch wenn es eine unangekündigte Besetzung war, so ist sie doch eine Versammlung, die von der Demonstrationsfreiheit geschützt ist. Das hat übrigens auch die Wiener Polizeidirektion so gesehen, als schon wüste Räumungsaufforderungen an sie herangetragen wurden. Dann geschah Folgendes: Der Verfassungsschutz hat die Einschätzung vorgetragen, dass bei dem Camp Sätze gesagt und Parolen benützt worden seien, die etwa als Gutheißung terroristischer Straftaten ausgelegt werden können. Damit waren Formeln gemeint wie „From the River to the Sea, Palastine will be free“, oder „Intifada-Revolution“. Erstere, wird heute gängigerweise unterstellt, sei eine Metapher für die Forderung nach der Vernichtung oder Vertreibung aller Juden in Israel. Ich bin mir sicher, so mancher, der diese Parole brüllt, wird von sich weisen, dass diese Unterstellung akkurat ist. Für wie glaubwürdig man das auch halten mag (ich denke, bei den meisten studentischen Besetzern ist es glaubwürdig, aber vielleicht bin ich ja auch ein zu gutgläubiger Menschenfreund), das Problem dabei ist: Reicht eine böswillige Vermutung, wie jemand etwas gemeint haben könnte, der es aber nicht explizit sagte, um in verfassungsmäßige Grundrechte massiv einzugreifen? Ich habe hier nicht nur Zweifel, sondern massives Bauchweh. Eine andere Frage ist: Reicht es, wenn in einer Versammlung fünf oder zehn Trottel doofe Poster hochhalten, um das Versammlungsrecht von 200 Leuten aufzuheben? Oder muss das eine relevante Minderheit tun? Oder sogar eine Mehrheit?

All diese Fragen sind keineswegs trivial, sondern betreffen den Kern des demokratischen Rechtsstaates.

Werden ab jetzt eh alle FPÖ-Kundgebungen aufgelöst?

Weiters ist es auch eine zentrale Maxime des demokratischen Rechtsstaats, dass alle vor dem Gesetz gleich sind.

Nun ist aber nicht bekannt, dass Polizei und Verfassungsschutz in anderen Fällen diesen Logiken folgen. Wenn etwa bei einer FPÖ-Kundgebung drei Besoffene den Hitlergruß zeigen, dann wurden bisher diese drei Personen angezeigt, aber nicht die Versammlung aufgelöst.

Oder, anderes Beispiel: Terrorideologien wie die vom „Großen Austausch“ und die Forderung nach „Remigration“ sind nicht nur berüchtigte Parolen der „Identitären“ (deren Symbole übrigens in Österreich verboten sind), sie sind auch ideologische Konzepte, die von vielen Massenmördern und Rechtsterroristen auf der ganzen Welt vertreten wurden, vom norwegischen Killer Anders Breivik bis zu dem Massenmörder von Hanau und dem Christchurch-Attentäter. Nach der Logik der Vermutung, wie sie gegenüber dem Palästina-Camp angewandt wurde, könnte man leicht jedem, der das Wort „Remigration“ benützt, die Gutheißung terroristischer Straftaten unterstellen.

Ich freue mich schon darauf, dass die Polizei ab jetzt alle FPÖ-Veranstaltungen unverzüglich auflöst oder in TV-Studios die Übertragung unterbricht, sobald das Wort „Remigration“ fällt.

Ich bin ja schon im Zeitzeugen-Alter, und als ich jung war, war die Lage in etwa so: Verboten war nur, was unter das NS-Verbotsgesetz fiel, also eindeutige Nazis. Jede andere Meinungsäußerung durch Wort oder Symbole war erlaubt. Vietnamkriegsgegner liefen sogar mit der Parole „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ durch die Straßen, was heute natürlich wegen „Gutheißung terroristischer Straftaten“ streng verboten wäre. Irgendwann kam, glaube ich, die Unterstützung terroristischer Organisationen dazu, also, dass man sich strafbar machte, wenn man „Es lebe die RAF“ schrieb. Aber nicht einmal da bin ich mir jetzt ganz sicher.

Mittlerweile haben wir alles Mögliche verboten. Es gibt lange Listen von terroristischen Organisationen, mit denen man keine Sympathie bekunden darf, ohne sich strafbar zu machen. Dazu gehört etwa auch die kurdische Guerillaorganisation PKK. Zeitweise wurde zumindest in Deutschland auch das Zeigen der mit der PKK verbundenen YPG-Milizen verfolgt, was insofern besonders skurril war, da der Westen an diese Milizen sogar Waffen lieferte, weil sie Verbündete im Krieg gegen den „Islamischen Staat“ waren.

Stellen wir uns also vor, fünf Leute zeigen ganz am Ende eines Maiaufmarsches der SPÖ eine PKK-Fahne. Wird dann der gesamte Aufmarsch sofort polizeilich aufgelöst?

Zurückhaltung mit der Verbots-Keule bitte!

Und noch ein Beispiel: Bei den Demonstrationen der Corona-Gegner sind Leute verurteilt worden, die den „Judenstern“ trugen, und zwar nach dem Verbotsgesetz wegen Verharmlosung des Holocaust. Nun haben diese Leute selbstverständlich nicht ausdrücken wollen, dass der Holocaust nicht stattfand oder keine so schlimme Sache gewesen sei, sondern in ihrem Wahn gemeint, dass die Diskriminierung Ungeimpfter genauso arg wie die Judenverfolgung in den 30er Jahren sei. Jeder weiß, was ich davon halte. Aber ist es nicht verrückt, sie deswegen nach dem Verbotsgesetz zu verurteilen und ihnen eigentlich das genaue Gegenteil dessen zu unterstellen, was sie in ihrem Irrsinn gemeint hatten?

Und übrigens hat man damals auch nicht gleich die gesamte Versammlung aufgelöst, sondern „nur“ die Betreffenden individuell angezeigt.

Verfassungspatriotismus

Nun wird es sicherlich Leute geben, die durchaus der Meinung sind, es sollen Palästinacamps, FPÖ-Veranstaltungen, der SPÖ-Maiaufmarsch und Demonstrationen von Corona-Maßnahmengegnern ohne viel Federlesens verboten werden.

Nur sind diese Leute eben keine Demokraten.

Ich habe für alle Leute Verständnis, die angesichts des Blutbades in Gaza gegen den Krieg und für die palästinensische Bevölkerung auf die Straße gehen, aber wer das Gemetzel vom 7. Oktober feiert oder legitimiert widert mich an, und das gilt auch für jene, die sich aus falsch verstandener Solidarität weigern, es zu verurteilen; ich habe auch Verständnis für alle, die die massive militärische Gegenaktion Israels und das Kriegsziel der völligen Zerstörung der Hamas unterstützen, aber die böswilligen und untergriffigen Propagandaschleudern Netanjahus und seiner faschistischen Koalitionspartner widern mich genauso an wie die Hamas-Verniedlicher.

Ich muss nur leider ertragen, dass für beide die Meinungsfreiheit gilt.

Verfassung, Grundrechte und liberale Demokratie verlangen um unser selbst Willen, auch die Rede- und Versammlungsfreiheit jener zu achten, die wir ablehnen, allein schon aus einem Grund: Wenn wir beginnen, diese Rechte massiv zu durchlöchern, ist die Gefahr groß, dass es bald die Nächsten, und dann die Übernächsten trifft und am Ende auch uns selbst.

Außerdem ist es Wasser auf die Mühlen extremistischer Agitatoren, wenn wir die grundrechtlichen Maximen, die wir verteidigen müssen, selbst nicht hochhalten, sondern dauernd Doppelstandards etablieren – die Radikalen der einen Seite akzeptieren, die der anderen unterdrücken, das kann nur in die Hose gehen.

Wer nicht begreift, dass man Grundrechte auch jener leidenschaftlich verteidigen muss, deren Ansichten man nicht teilt, der hat leider von Demokratie, Rechtsstaat und Verfassungspatriotismus nichts verstanden.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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