Kommentar
Die vergangene Woche stellt Ibiza und nahezu alles in den Schatten, was die Zweite Republik in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Es liegt an uns, wie wir durch diese Krise kommen und welches Österreich wir danach vorfinden werden.
Wien, 23. März 2020 / Erst war es in China und vereinzelt in anderen asiatischen Staaten. Dann auf einmal in Italien. Ein Nachbar, schlimm genug, aber halt nicht Österreich. Doch dann war es hier und schließlich überall. Das neuartige Coronavirus hat unser Leben binnen einer Woche drastisch verändert.
Verantwortung minus Inszenierung
Manche wollten es bis zuletzt nicht wahrhaben und sind in Ischgl Ski gefahren, haben gefeiert. Andere haben das verteidigt, die meisten aber scharf kritisiert. Wieder andere haben sich nun eingeigelt in ihren Weltuntergangsbunkern, die nun „endlich“ Verwendung finden. Es ist klar, dass diese Krise niemanden kalt lässt und es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit ihr. Krisenpolitik im Angesicht einer Pandemie ist eine Herausforderung. Insofern hat die eben noch zerstrittene Regierung gezeigt, dass sie auch anders kann. Zieht man die teils peinliche, türkise Inszenierung und den quasi-religiösen Pathos des Bundeskanzlers ab, kann man der Krisen-Performance von Türkis-Grün durchaus ein ordentliches Zeugnis ausstellen. Gerade der grüne Gesundheitsminister Rudi Anschober wirkt kompetent, besonnen und im richtigen Maße ernsthaft, um diese Krise im derzeit wichtigsten Ressort zu meistern.
Die Sprache der Krise
Doch es gibt auch besorgniserregende Entwicklungen. Blickt man nach Ungarn oder Israel, so kann man sehen, wie schnell die Krise missbraucht wird, um einen autoritären Staat in Reinform zu errichten. Auch hierzulande müssen wir wachsam bleiben, angesichts der zwar wichtigen, aber doch drastischen Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Denn es ist klar, dass der türkise Teil der Regierung bis vor kurzer Zeit noch, im Aufgalopp mit der FPÖ, eine autoritäre Wende in Österreich herbeiführen wollte. Man kann, man sollte das genauso benennen. Dass Staats- und Regierungschefs weltweit die Krise nutzen, um sich selbst zu profilieren, ist gewiss keine spezifisch österreichische Angelegenheit. Doch das Wie ist entscheidend. Ein patriotischer Sammlungseffekt und nationaler Schulterschluss ist durch viele Wege erreichbar. Die Sprache der Solidarität, die Sprache des Krieges, die Sprache der Parteifarbe. All das funktioniert mehr oder weniger. Die Umfragewerte für nahezu alle im Amt befindlichen Entscheidungsträger steigen. Doch am Ende ist die Wahl der Strategie und der Sprache entscheidend für die Frage, welches Land wir nach dieser Krise vorfinden werden.
Weltweite Pandemie, nationale Strategie
Wir erleben, dass sich die Regierungen Europas im Angesicht der weltweiten Ausbreitung des Virus selbst am nächsten sind. Wenn Sebastian Kurz Europa für die Unfähigkeit zur Krisenpolitik rügt, sollte er sich die Frage stellen, welchen Beitrag er hierfür auch schon in der Vergangenheit geleistet hat. Denn wer oder was ist Europa? Europa sind die 27 Mitgliedstaaten. 27 Einzelgänge, so gut und richtig die Maßnahmen im Einzelnen sein mögen, sind ein Armutszeugnis für Europa und – für Sebastian Kurz. Demokratisches Leadership heißt nicht, andere zu belehren und so zu tun, als würden alle Staaten mit ähnlichen Maßnahmen dem Beispiel Österreichs folgen. Nein, demokratische Verantwortung und Leadership bedeuten, gemeinsam Wege auszuloten und Entscheidungen zu fällen, die der Tragweite der Krise gerecht werden. Wenn Österreich gut durch diese Phase kommt, ist das schön. Doch wenn Europa daran scheitert, nützt es gerade einem militärisch neutralen, kleinen und daher schwachen Land wenig. Wir sind auf andere angewiesen. Schauen wir uns doch einmal in der Nachbarschaft um: Russland streckt vorgeblich die Hand zu uns aus und behauptet, es gäbe im flächenmäßig größten Land der Erde so gut wie kein Corona. Gleichzeitig wird laut EU-Außendienst gezielt Desinformation aus Moskau gestreut, um Europa zu destabilisieren. Jenseits des großen Teichs strauchelt ein wahlkämpfender US-Präsident mit dem Virus, das bis vor Kurzem nicht existent für ihn war. Doch jetzt ist er der große Heiler seiner Nation – und vielleicht bald auch Kriegstreiber: sein Außenminister Pompeo träumt offenbar davon, die Gunst der Stunde für Regime Changes zu nutzen. Bei alldem nützen türkise Werbesujets rein gar nichts. Es wäre jetzt die Stunde der Diplomatie und der internationalen Zusammenarbeit. Man darf gespannt sein, ob und von wem sie ergriffen wird.
Wir statt Ich
Doch trotz all der politischen Dimensionen, sieht man, wie die Bevölkerung gerade – bis auf wenige Ausnahmen – über sich hinauswächst. Das gegenseitige Vertrauen scheint größer, als der ein oder andere noch vor Wochen sich selbst zugetraut hätte. Nachbarn lernen sich nun endlich kennen, man hilft sich, die Polizei wird gefeiert, die Versorger und das medizinische Personal sowieso. Inmitten des neoliberalen Scheiterns kaputtgesparter und privatisierter Gesundheitssysteme überflügelt das Wir das Ich. Das ist die große Hoffnung in einer Krise, die ihren Höhepunkt wohl noch nicht erreicht hat. Österreich kann das schaffen. Doch Europa steht, wieder mal, vor dem Scheitern. Wir haben noch Zeit, die Dinge zu korrigieren. Solidarität bringt in einer vernetzten Welt auf Dauer nur grenzüberschreitend etwas. Corona sprengt Grenzen, auch in unserem Denken. Lernen wir vom Virus, um es zu besiegen.
Benjamin Weiser
Titelbild: APA Picturedesk
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