Mittwoch, Dezember 11, 2024

Juristen und Richter kritisieren italienischen Ministerpräsidenten Conte – “Die Achtung der Verfassung und der Gesetze ist ein MUSS der Autorität”

“Die Achtung der Verfassung und der Gesetze ist ein MUSS der Autorität.”

Ende April wandten sich 20 hochrangige Juristen an den italienischen Ministerpräsidenten Conte. Per offenem Brief äußern sie scharfe Kritik am aufkommenden Polizeistaat in Italien, der sich im Zuge der Corona-Krise etablierte. ZackZack druckt den  umfangreichen Brief exklusiv deutschsprachig ab.

Rom/Wien, 13. Mai 2020 | Auch in Italien kommt immer schärfere Kritik gegen die Notverordnungen aufgrund von Covid-19 auf. Die für einige polizeistaatlich anmutenden Maßnahmen lassen viele Bürger fassungslos zurück. Nun wandten sich 20 Juristen, darunter Richter, Staatsanwälte und hochrangige juristische Experten, per offenem Brief mit dem Titel „Rechte und Freiheiten“ an Conte.

Richter und Staatsanwälte richten sich an Conte

Der Brief vom 28. April hat es in sich: Conte wird klargemacht, dass er die Verfassung zu achten habe und welche rechtlichen Probleme, seine Verordnungen mit sich bringen würden. Aber auch die Rolle der Medien und so mancher Medienkampagnen wird scharf kritisiert. Die Juristen sprechen Conte mit “unter Kollegen” an, denn er ist selbst Jurist.

ZackZack druckt den ausführlichen Brief exklusiv deutschsprachig ab. Es soll damit auch deutlich werden, dass es auch in Italien – jenes europäische Land, das zuerst von Covid-19 gebeutelt wurde – viel Widerstand gegen einen Corona-Polizeistaat gibt:

 RECHTE UND FREIHEITEN

Unser Beitrag geht von keinerlei ideologischen und/oder politischen Voraussetzungen aus und beabsichtigt in keiner Weise, in die politische Agonie und in irgendeine der politischen Auseinandersetzungen, die im Land stattfinden, einzugreifen.

Sie bezieht sich auch nicht auf eine bestimmte Behörde unter den vielen, die verbindliche Bestimmungen für die Bürger diktiert haben. Es ist nicht unsere Absicht, Themen zu identifizieren, an die man sich mit Angriffen oder Kritik wenden kann, sondern nur, das Verhalten und die Fakten in ihrer materiellen Objektivität zu analysieren, und zwar von wem auch immer. Unsere Absicht ist es nur, die objektiven schwerwiegenden Verletzungen der verfassungsmäßigen Rechte hervorzuheben, die praktiziert wurden und werden (unabhängig von den Absichten, die sie inspiriert haben), und die nicht weniger schwerwiegende Verzerrung der Beziehungen zwischen Institutionen und Bürgern, die entstanden ist und weiter angeheizt wird, um bestimmte als nützlich erachtete Ergebnisse zu erzielen.

Was diesen letzten Aspekt des Problems betrifft, so ist es sehr beeindruckend und äußerst beunruhigend zu sehen, dass inzwischen in allen Massenmedien, einschließlich des staatlichen Fernsehens, mit immer wiederkehrender Gewohnheit und sogar mit einem sehr breiten öffentlichen Konsens öffentliche Reden wichtiger Behörden – der Präsidenten der Regionen – zu sehen sind, Bürgermeister und nicht nur – die sich mit der  ausufernsten Vulgarität an die Bürger wenden und eindeutig illegitime Maßnahmen propagieren, basierend auf der Überzeugung, dass sie das Recht haben, den angeblich undisziplinierten Bürgern – in der Erzählung auf Subjekte minus habentes reduziert – jede Verpflichtung aufzuerlegen, die von der Behörde willkürlich bis an die Grenze des Surrealen gewählt wird.

Ebenso beunruhigend ist ein schrecklicher Rückschritt des Lexikons, die Vertreter jeder Autorität dazu veranlasst, Ausdrücke wie “Freiheit gewähren” zu verwenden, die der Struktur der Verfassung selbst widersprechen, die die Grundrechte der Person anerkennt, respektiert und nicht gewährt.

Covid-19 wird auf die eine oder andere Weise vorübergehen. Während der Volksaufruhr bei den Reformen der so genannten materiellen Verfassung eher von Dauer ist. Und aus diesem Grund müssen sie sorgfältig analysiert und, wenn nötig, bekämpft werden. Es ist offensichtlich, dass in den ersten Tagen das plötzliche und unvorhergesehene (wenn auch nur schuldhafte) Eintreffen der Pandemie es verständlich gemacht hat, auf Maßnahmen zurückzugreifen, die ebenfalls nicht legitim und unzulänglich sind. Aber es ist nicht hinnehmbar, dass dies weiterhin geschieht und sogar zur Regel gemacht wird, von der sogar behauptet wird, sie sei tugendhaft, nachdem mehrere Monate Zeit gegeben wurden, um mögliche und funktionelle Abhilfemaßnahmen zu verstehen und von denen zu unterscheiden, die nutzlos und/oder inakzeptabel sind.

Ohne ein Wort des ruhigen, aber entschiedenen Dissens würde es als legitim durchgehen, was nicht ist, und die rätselhafte Narrativ dieser Tage bestätigt werden, in der die Ursache der Pandemie und das zu lösende Problem in der angeblich, aber dokumentierten, nicht vorhandenen (wenn nicht sogar völlig marginalen) Disziplinlosigkeit der Bürger liegt.

Abgesehen davon ist es offensichtlich und nicht umstritten, dass wir alle eine Reihe sehr schwerer Schäden durch die gegenwärtige Situation erleiden, von denen einige direkt durch die Pandemie verursacht werden und andere – nicht weniger wichtig – mit der Bewältigung des Notfalls zusammenhängen.

Dies wird im Übrigen objektiv durch die Tatsache belegt, dass die vom Gesundheitsministerium bereitgestellten täglichen statistischen Daten von Region zu Region und sogar von Provinz zu Provinz unterschiedlich sind.

Zu diesem Punkt genügt es in der Tat, wenn man bedenkt, dass das Istituto Superiore di Sanità (Höhere Institut für Gesundheit) in den letzten Tagen eine eigene Studie veröffentlicht hat, aus der hervorgeht, dass “von etwa 4.500 Fällen von Covid-19, die zwischen dem 1. und 23. April gemeldet wurden, 44,1% der Infektionen in der Rsa (Altersheime – Residenze sanitarie assistenziali) auftraten, 24,7% in der Familie, 10,8% im Krankenhaus oder in der Klinik und 4,2% am Arbeitsplatz.“

Angesichts dessen muss man anerkennen, wie absolut rätselhaft die Pressekampagne ist, die praktisch in einheitlicher Manier geführt wird und die sich verbreitet hat und weiterhin den Glauben nährt, dass die Ursache der Infektionen das Verhalten unschuldiger Bürger ist, die mit ihren Hunden spazieren gehen oder beim Laufen von einer Drohne verfolgt werden.

Wir können auch nicht versäumen, anzuprangern, wie viel Nährstoff dieser Pressekampagne die Verbreitung von Szenen beschert hat, die absichtlich mit symbolischem Wert aufgeladen sind, in denen Hubschrauber der Polizei und bewaffnete Männer in aggressiv gehaltener Kleidung Bürger jagen, die darauf aus sind, Dinge zu tun, die gar nicht dazu beitragen können, zur Zunahme von Ansteckungen beizutragen, wie z.B. sich am Strand fern von jedermann zu sonnen oder im Meer zu schwimmen.

Diejenigen, die sehen, dass so viel öffentliche Gewalt nicht gegen diejenigen eingesetzt wird, die die Ansteckung produziert und/oder genährt haben, sondern gegen unschuldige Bürger, die darauf bedacht sind, ihre verfassungsmäßigen Grundrechte unbeschadet auszuüben, können nur eine völlig falsche Darstellung der Ursachen des Übels und folglich der rechtmäßig und sinnvoll eingesetzten Abhilfemaßnahmen nähren.

Ebenso wenig kann man sich passiv schweigend zu Komplizen machend, die Narrative akzeptieren, die die These bestätigen, dass diejenigen, die sich kritisch gegen diese oder jene Maßnahme äußern, ihre eigenen kapriziösen Ambitionen verteidigen wollen.

Es stimmt, dass viele nur unter dem Verzicht auf einen Spaziergang oder ein Spiel leiden, aber Millionen andere leiden unter dem Scheitern ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten, dem Verlust ihrer Arbeitsplätze, der sehr ernsten Gefährdung grundlegender Teile ihrer Existenz und sogar ihrer Identität selbst.

Was die Schäden anbelangt, die durch die Entscheidungen der Behörden verursacht wurden, so können sie nur dann als gerecht (im Sinne der Einhaltung des Gesetzes) angesehen werden, wenn die Maßnahmen, die sie verursacht haben und immer noch verursachen:

  1. formell legitimiert sind und
  2. materiell notwendig sind, um die Pandemie zu bekämpfen.

Vom ersten Gesichtspunkt aus gesehen, wie in diesen Tagen von vielen maßgeblichen Juristen gut illustriert wurde, ist es klar, dass fast alle Maßnahmen, die zur Verhinderung bestimmter Verhaltensweisen von Bürgern ergriffen werden, aus formaler Sicht verfassungswidrig sind, da sie gegen den in der republikanischen Verfassung vorgeschriebenen Gesetzesvorbehalt verstoßen.

Dies ist eine entscheidende technisch-juristische Frage, die nicht als Formalismus abgetan werden kann, denn in dieser Angelegenheit ist, wie man sagt, die Form die Substanz.

Und weil Demokratie nicht in erster Linie eine Form der Wahl der Regierung ist, sondern eine Methode der Machtausübung. Insbesondere eine Machtausübung, die sowohl formell als auch materiell dem Gesetz unterliegt.

Und es ist sehr gefährlich, die Schwere von Verletzungen der Verfassung und der Gesetze zu unterschätzen, indem man sich auf die guten Absichten derer beruft, die sie begehen.

Zum einen, weil uns die Geschichte lehrt, dass die bedauernswertesten Diktaturen einen Konsens auf der Grundlage der Aussicht auf gute Absichten erreicht haben, und zum anderen, weil in einem modernen Staat der Zweck niemals die Mittel heiligt und es auf die Objektivität der Dinge ankommt und nicht auf das moralische Urteil der Machthaber.

Auch fehlten oder fehlen Instrumente, um die Achtung des oben erwähnten Gesetzesvorbehalts mit der Dringlichkeit, die geeignetsten Maßnahmen zu ergreifen, in Einklang zu bringen. Das Gesetzesdekret zum Beispiel, das es dem Parlament erlaubt hätte, seine Vorrechte auszuüben. Offensichtlich nicht, wie es geschehen ist, auf eine unzulässig allgemeine Übertragung von Befugnissen beschränkt.

Nach dem zweiten der oben aufgeführten Profile können Maßnahmen, die die verfassungsmäßigen Rechte von Personen reduzieren, nur dann rechtmäßig ergriffen werden, wenn sie unbedingt notwendig sind, um höherwertige Güter wie die Gesundheit direkt zu schützen.

Daher kann die öffentliche Gewalt legitimerweise jedes Verhalten verbieten, das direkt Schaden verursacht oder auch nur die öffentliche Gesundheit gefährdet. Andererseits kann sie aber keinesfalls die Ausübung von Rechten verhindern, die nur unter bestimmten Bedingungen und nur indirekt eine Gefahr für die Gesundheit darstellen können.

Nachdem klargestellt wurde, dass Covid-19 auf dem Luftweg verbreitet wird und dass ein angemessener Schutz dadurch erreicht wird, dass ein gewisser Abstand zu anderen Personen eingehalten und geeignete Masken getragen werden, ist nicht klar, wie das Verbot von Tausenden von Aktivitäten, die an sich nicht die Fähigkeit haben, die Infektion zu verbreiten, als legitim angesehen werden kann.

Und die Beispiele sind praktisch endlos.

Wie jemand die Ansteckung fördert:

– die allein oder mit Familienmitgliedern, mit denen sie zusammenleben, durch die Straßen gehen?

– ein zweites Zuhause besuchen, allein oder bei Verwandten, bei denen sie leben?

– ein Gewerbe oder einen Beruf ausüben, mit Abstandshaltung und der Verwendung der Maske?

– der jemanden aus verschiedenen Gründen (Zuneigung, geschäftlich usw.), während er die Distanz respektiert und die Maske benutzt?

Und warum sollte es harmlos sein, im Umkreis von zweihundert Metern um Ihr Haus herum zu laufen, und wenn man dies innerhalb eines Kilometers oder mehr tut, würde sich die Seuche nur verbreiten?

Und warum können Sie mit Ihrem Ehepartner in einem Haus leben, aber nicht zusammen Auto fahren? Warum ist der Besuch einer Tante nicht ansteckend und ein Besuch bei einem engen Freund wäre ansteckend?

Warum sollte es legitim sein, Verhaltensweisen zu verbieten, die eindeutig harmlos sind?

Was ist die formale Rechtfertigung dafür, dass in solchen Fällen die Rechte der Menschen verletzt werden, indem selbst die elementarste Ausübung ihrer Rechte verhindert wird?

Und unter Bezugnahme auf das Erfordernis der “Notwendigkeit” des Verbots in Bezug auf den Schutz der Gesundheit: Wenn die geltenden Verbote für die Situation in der Lombardei, die bisher insgesamt 73.479 Fälle und 13.449 Todesfälle zu verzeichnen hatte (Daten des Gesundheitsministeriums), als angemessen betrachtet würden, wie könnten sie dann nicht als übertrieben angesehen werden in Bezug auf die Situation in Kalabrien, die bisher insgesamt 1.096 Fälle und 83 Todesfälle zu verzeichnen hatte? Dies gilt umso mehr in einem Regime eines tendenziellen Verbots, die Grenzen der Region zu überschreiten.

Noch ist ein Ansatz akzeptabel – formell und materiell – der davon ausgeht, dass durch die nicht Verhinderung der Ausübung des Legalen (weil die Verwendung des Wortes “erlauben” subversiv ist), die Voraussetzung der Bedingung für eine Straftat schaffen würde.

Denn die Legitimierung eines solchen Vorgehens könnte so weit gehen, den sogenannten Samstagabend-Massakern entgegenzuwirken, indem Jugendlichen unter einem bestimmten Alter verboten wird, nach 20.00 Uhr das Haus zu verlassen. Oder das Verringern der Plage der sexuellen Gewalt, indem Sie Frauen zwingen, nicht allein auszugehen.

Es ist der Staat, der vom Volk Befugnisse erhält, und nicht das Volk, das Zugeständnisse vom Staat erhält. Und in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat darf das Volk nicht wie ein dummes Kind behandelt werden.

Und es kann gewiss nicht als legitim angesehen werden, wenn ständig behauptet wird, als wäre es ein Beweis dafür, dass ein ganzes Volk sich für unfähig halten muss, wenn es frei bleibt, wie es die Verfassung verlangt, spontan und bewusst alles Vernünftige zu tun, um seine eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer zu verteidigen.

Die Institutionen können die Bürger legitimerweise zur Zusammenarbeit auffordern, selbst wenn sie spontan ihre Rechte opfern, aber sie können diese Rechte nicht verletzen, weil dies der einfachste Weg ist, keine anderen legitimen und sogar pflichtbewussten Wege zur Lösung von Problemen zu beschreiten.

Alle Energien – moralische, materielle, wirtschaftliche -, die sich dazu verpflichtet haben, fälschlicherweise mit dem Finger auf unschuldige Bürger zu zeigen und sie mit Instrumenten zu verfolgen, die immer unverhältnismäßig (Hubschrauber gegen Badegäste) und manchmal offenkundig unrechtmäßig sind (die Razzien von Menschen und Drohnen in Privathäusern), wurden durch die Suche nach den wahren Ursachen der Ansteckung und die Suche nach legitimen und wirksamen Abhilfemaßnahmen abgelenkt.

Die Achtung der Verfassung und der Gesetze ist ein MUSS der Autorität.

Und wie fast immer trifft auch hier das Gute mit dem Nützlichen zusammen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass die Institutionen von den Bürgern noch viel länger Respekt vor illegitimen und dysfunktionalen Regeln erhalten werden. Zwar würden sie leicht weiterhin die konstruktive Zusammenarbeit erreichen, die im Hinblick auf die Achtung der Bürgerrechte und die Anerkennung der Wahrheit der Tatsachen erforderlich ist, aber als Alternative zu praktischen Narrativen, die von einer kranken Beziehung zwischen Bürgern und Institutionen inspiriert sind.

  1. April 2020

Anna Maria Gregori – Richterin am Gerichtshof von Rom

Massimiliano Siddi – Stellvertretender Staatsanwalt am Gericht von Viterbo

Felice Lima – Stellvertretender Generalstaatsanwalt am Berufungsgericht von Messina

Salvatore Cantaro – Magistrat a.D.

Fernanda Cervetti – Magistrat a.D.

Carmen Giuffrida – Magistrat und nationale Expertin, die zum Rat der Europäischen Union abgeordnet ist

Gianluigi Dettori – Richter am Gericht von Cagliari

Anna Maria Torchia – Richterin am Gericht von Catanzaro

Daniela Quartarone – Richterin am Gerichtshof von Bergamo

Luciana Silvestris – Stellvertretende Staatsanwältin am Gericht von Bari Concetta

Maria Ledda – Stellvertretende Generalstaatsanwältin am Berufungsgericht von Catania

Viviana Digesu – Richterin am Gerichtshof von Catania

Axel Bisignano – Stellvertretender Staatsanwalt am Bezirksgericht Bozen

Antonio Giglio – Richter am Gericht von Catanzaro

Maurizio Pascali – Richter am Gerichtshof von Padua

Massimo Zanetti – Direktor des Berufungsgerichts von Perugia

Chiara Capezzuto – Stellvertretende Staatsanwältin am Gericht von Viterbo

Giovanni Benelli – Stellvertretender Staatsanwalt am Gericht von Trient

Massimiliano Radici – Richter am Gericht von Busto Arsizio

Valentina Grosso – Stellvertretende Staatsanwältin am Gericht von Genua”.

(ot)

Titelbild: APA Picturedesk

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