Die Auflösung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nimmt ihren Lauf: zwischen Juli und September sind über 130 Journalisten verurteilt worden. Durch das Anti-Terror-Gesetz könne laut einer NGO jegliche Rechtsverletzung durch türkische Beamte und Folterer konsequenzlos bleiben.
Ankara, 19. November 2020 | Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) kritisiert die im Oktober 2020 verabschiedete Änderung des “Gesetzes zur Bekämpfung von Terrorismus” in der Türkei. Dadurch würden Rechtsmissbrauch gefördert und straffällige Beamte geschützt. “Rechtsverletzungen durch türkische Beamte lassen sich als Anti-Terror-Aktivitäten auslegen, was Ermittlungen so gut wie unmöglich macht”, so die NGO in einer Aussendung am Donnerstag.
Sicherheitsbeamte mit Freifahrtschein
Anti-Terror-Beamten seien bis dato bis zu drei Anwälte für ihre Verteidigung finanziert worden, jetzt sei die Regelung auf Sicherheitsbeamte “und anderes Personal” erweitert worden. Jegliche Art von Rechtsverletzung eines Beamten könne dadurch in den Kontext von Anti-Terror-Aktivitäten gestellt werden und so eine vom Staat finanzierte Verteidigung ermöglichen, so IGFM. Die Regelung greife auch bei Anklagen, die von Beamten selbst ausgingen.
Besorgniserregend sei der systematische Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.
“Wer seine Meinungsfreiheit in der Türkei Erdogans (des türkischen Präsidenten Recep Tayyip, Anm.) ausübt, begibt sich in ernste Gefahr. Kritische Berichterstattung soll mit Staatsgewalt unterbunden werden. Rechtsstaatlichkeit zählt nicht mehr. Das sollten alle bedenken, die zum Beispiel als Urlauber Devisen ins Land bringen und den Unterdrückungsapparat dadurch mitfinanzieren”,
erklärt Vasilis Pavegos, Sprecher des Arbeitsausschusses Türkei und Vorstandsmitglied der IGFM.
Folter und Schikanen in Gefängnissen auf Tagesordnung
Überhaupt stünden Folter und Schikanen in türkischen Gefängnissen auf der Tagesordnung. So sei Mitte Oktober der 27-jährige Kurde Serkan Tumay im Kirrikale-Gefängnis seinen Verletzungen aufgrund von Folter erlegen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit sechs Jahren inhaftiert. Nach Angaben der Angehörigen hatte sich der Verstorbene Mitte September nach Folter durch Gefängnispersonal einen Armbruch und eine Kopfverletzung zugezogen, die schließlich zu seinem Tod führten.
Außerdem würden Journalisten, wie Can Dündar, Nedim Türfent oder Ahmet Altan, systematisch eingeschüchtert, verfolgt und inhaftiert, kritisiert die IGFM. Allein zwischen Juli und September 2020 seien in der Türkei über 130 Journalisten verurteilt worden. Can Dündar, Ex-Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, drohen in einem neuen Verfahren bis zu 35 Jahre Haft. Er war bereits wegen “Publikation geheimer Informationen” zu fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden. 2018 wurde das Urteil vom obersten Gerichtshof in Ankara aufgehoben und um den Vorwurf der “Spionage” ergänzt. Dündar lebt aktuell in Deutschland.
Der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan ist seit über 1.500 Tagen in Haft. Ihm wurde nach dem Putschversuch 2016 Zugehörigkeit zur verbotenen Gülen-Bewegung vorgeworfen, die er vehement bestreitet. Seine Zeitung “Taraf”, für die Altan Chefredakteur war, wurde nach den Ereignissen im Juli 2016 geschlossen. Für sein Werk “Ich werde die Welt nie wieder sehen. Texte aus dem Gefängnis” erhielt Altan 2019 den Geschwister-Scholl-Preis.
Der kurdische Journalist Nedim Türfent wurde im Dezember 2017 wegen “Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation” zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Hintergrund für seine Verurteilung war die Veröffentlichung eines Videos, welches türkische Sondereinsatzkräfte zeigt, die kurdische Arbeiter auf einer Baustelle misshandeln. Nedim Türfent befindet sich seit seiner Verhaftung am 12. Mai 2016 in Einzelhaft.
(apa/red)
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