Covid – Die Herrschaft der Provinz
Ein Schilift, so lernen wir Alpenmenschen, ist eine winterliche Aufstiegshilfe. Mit Corona haben wir dazugelernt: Ein Schilift ist eine Ausnahme.
Wien, 20. Dezember 2020 | Ein strenger Lockdown der Regierung trifft Gasthäuser und Hotels, Museen und Kinos, Spielzeuggeschäfte und Blumenhandlungen. Die Ausnahmen gelten nur dem Nötigsten, das man zum Leben braucht. All das bestimmt die Regierung – mit einer Ausnahme: dem Schilift. Der ist im dritten Lockdown eine Angelegenheit der „Länder“, wie wir die Provinz verharmlosend nennen. In der Abgeschiedenheit, in der Liftkaiser Provinzbürokraten Anweisungen geben, entsteht der Totalschaden, den bisher Tausende Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben.
Wenn jemand keine oder falsche Zahlen nach Wien meldet; wenn rund um Ischgl kein Fehler gemacht worden ist und die Verantwortlichen daher verantwortlich bleiben können; wenn – wie in Kärnten – bedrohte Altersheime von der Behörde so lange in „konzentrischen Kreisen“ geschützt werden, bis alle infiziert sind; wenn das Contact Tracing nach kurzem Herumwursteln einfach aufgegeben wird – dann regiert die Provinz.
Durchtauchen, durchwursteln, durchschwindeln, „Es wird schon gehen“ statt „So kann man das machen“ – das ist die Herrschaft der Provinz. Ihre Zentrale steht im Zentrum von Wien am Ballhausplatz. Ihre Politik richtet sich nicht nach Zahlen und Fakten, sondern nach Stimmungen und Erwartungen. Genau da liegt der entscheidende Unterschied zwischen Berlin und Wien.
In Berlin hat man sich früh für eine „evidenzbasierte Politik“ entschieden. Ihr Prinzip ist einfach: Wenn eine vereinbarte Kennzahl über- oder unterschritten wird, kommt es zu einer vorher bekannten Folge. Politik wird so auch in der Pandemie berechenbar. Eine Ampel, die ständig folgenlos Farben wechselt, würde in Berlin nicht ans Netz gehen.
Eine Gruppe steht im Zentrum dieser Politik: Wissenschaftler und Experten. Angela Merkel tritt ihren Wissenschaftlern mit Interesse und Respekt gegenüber. Sebastian Kurz hält das im ORF-Gespräch anders: „Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, wenn sieben Wissenschaftler zehn verschiedene Meinungen vertreten!“
Zwanzig Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben jetzt über “The Lancet”, eine der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt, ihren Aufruf veröffentlicht: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32625-8/fulltext Sie fordern eine gemeinsame evidenzbasierte COVID-Politik in Europa. Dazu formulieren sie ein klares Ziel: nicht mehr als zehn neue COVID-Fälle pro Tag und pro Million Menschen. Steigen die Zahlen darüber, muss es automatisch scharfe Maßnahmen geben, egal, wo die Zahl überschritten wird. „Dieses Ziel kann in ganz Europa spätestens im Frühling 2021 erreicht werden“.
Der Vorschlag ist gut begründet und hat einen entscheidenden Vorteil: COVID wird in einem Europa der offenen Grenzen erstmals gemeinsam und nicht in Konkurrenz miteinander bekämpft. Kurz kann dem Vorschlag folgen. Oder einfach weitermachen, mit Ampeln, Lichtern, Tunnels und gelegentlichem Spott über Wissenschaftler, die er noch immer nicht ernst nimmt. Dann steht nur eines fest: die vierte Welle. Und damit der Versuch des COVID-Kanzlers, auch auf ihr zu surfen.
Drei der zwanzig Lancet-Wissenschaftlerinnen kommen übrigens aus Österreich. Falls es jemanden in der Regierung interessiert…
Titelbild: APA Picturedesk