Hilfe gegen häusliche Gewalt durch getarnten Onlineshop
Wenn eine Bestellung für “Naturkosmetik” im wahrsten Sinne des Wortes die eigene Haut retten kann: Eine Initiative einer 18-jährigen Schülerin aus Polen.
Warschau, 27. April 2021 | Das Logo zeigt Blümchen auf rosa Hintergrund, der Name klingt harmlos: “Rumianki i bratki“. Zu Deutsch: Kamille und Stiefmütterchen. Doch hinter dem Internet-Auftritt eines vorgetäuschten Onlineshops für Naturkosmetik in Polen verbirgt sich ein Hilfsangebot für Opfer häuslicher Gewalt. Cremes, Salben, Deos für empfindliche Haut, gegen Reizungen oder blaue Flecken, die man über private Nachricht bestellen kann.
Bittet jemand im Chat um Beratung für eine passende Hautcreme, meldet sich statt einer Verkäuferin eine Psychologin oder Juristin und fragt, wie lange die “Hautprobleme” denn schon bestehen. Bei einer Bestellung steht anstatt des Pakets dann die Polizei vor der Tür. Denn eine Bestellung heißt: “Bitte, helfe mir, mein Leben ist in Gefahr!”
„Kosmetik, die die Haut rettet“
Ausgedacht hat sich diese Initiative eine 18-jährige Schülerin aus Warschau, Krystyna Paszko. Die EU hat ihr Projekt kürzlich mit dem Preis für zivile Solidarität und 10.000 Euro ausgezeichnet.
Die 18-jährige Polin Krysia Paszko, die den Onlineshop für Opfer von häuslicher Gewalt erstellte. / Foto: APA
Als im vergangenen Frühjahr der Lockdown begann, hörte Krystyna vom Anstieg häuslicher Gewalt. Sie postete ihre Idee auf Facebook. “Das sollte ein Projekt für meine Bekannten sein, ich habe gar nicht daran gedacht, das landesweit umzusetzen.” Innerhalb weniger Tage war das Echo dermaßen groß, dass die Schülerin das Warschauer “Zentrum für Frauenrechte” mit ins Boot holte. “Kosmetik, die die Haut rettet”, heißt es doppeldeutig auf der Seite des Onlineshops.
400 Frauen wurde bereits geholfen
Inspiriert wurde Krystyna von einer Initiative aus Frankreich. Weil es für die Opfer häuslicher Gewalt während des Lockdowns schwieriger ist, ohne Kontrolle des Täters einen Computer oder ein Telefon zu nutzen, richtete die Regierung dort ein Meldesystem in Apotheken ein. Mit dem Codewort “Maske 19” können sich Betroffene an den Apotheker oder die Apothekerin wenden, die dann die Polizei alarmiert. Das System “Alerte Pharmacie” werde auch nach dem Lockdown weiter aktiv bleiben, hieß es im Herbst. Prinzipiell sollen Betroffene Fälle häuslicher Gewalt in Apotheken melden können, auch ohne Passwort.
Besonders für jüngere Frauen sei der Weg zur Hilfe per Online-Chat leichter und natürlicher, findet Krystyna:
“Weil es ein Chat ist, lässt es sich besser geheimhalten, ein Telefongespräch kann man ja aus dem anderen Zimmer mithören.”
In mehr als 400 Fällen hat der vermeintliche Naturkosmetik-Shop schon konkrete Hilfe geleistet. Etwa zehn Prozent der Betroffenen sind Männer. Jugendliche, die sich in Polen als schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender outen, müssten oft noch mit Schlägen von der Familie rechnen, sagt Krystyna.
„Häusliche Gewalt ist in Polen Tabu-Thema – selbst bei der Polizei“
Die Statistiken der Polizei in Polen würden zwar keinen Zuwachs bei der häuslichen Gewalt bedeuten, berichtet Joanna Gzyra-Iskander vom “Zentrum für Frauenrechte”. Das Zentrum betreibe aber auch ein Notfalltelefon. Dort ergebe sich ein anderes Bild:
“Im Jahr 2019 riefen uns rund 2.000 Betroffene an, im Jahr 2020 waren es mehr als 4.500.”
Wenden sich die Opfer häuslicher Gewalt in Polen direkt an die Polizei, machen sie gemischte Erfahrungen, weiß Gzyra-Iskander. Manche Beamte würden verständnisvoll reagieren und von einem neuen Recht Gebrauch machen, das seit November in Polen gilt. Die Polizei kann den Täter ohne Gerichtsentscheid aus der gemeinsamen Wohnung weisen – und ihm für zwei Wochen verbieten, sich diesem Ort zu nähern.
“Manche Opfer bekommen bei der Polizei aber auch Ratschläge wie: ‘Schließen Sie sich doch einfach in Ihrem Zimmer ein.'”
Austritt aus der Istanbul-Konvention
Was Frauenrechtlerinnen in Polen beunruhigt: Die nationalkonservative Regierung in Polen machte letztes Jahr Schlagzeilen, weil sie sich aus der sogenannten Istanbul-Konvention, dem internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, zurückziehen wollte.
Das bestätigt auch Außenpolitik-Sprecherin der Grünen in Österreich und Nationalratsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedic gegenüber ZackZack:
„Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention ist sehr besorgniserregend, weil die häusliche Gewalt auch pandemiebedingt steigt. Es gibt in Polen wenig staatliche Angebote, die dem entgegensteuern. Gewalt wird einfach tabuisiert. Es gibt Firmen struktureller Gewalt – wie das Unmöglichmachen von Abtreibungen – was Frauen zur Verzweiflung bringt“,
mahnt Ewa Ernst-Dziedzic.
Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden und sollte einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdogan selbst hatte die Konvention in Istanbul – dem Ort der finalen Einigung – unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. Später wurde sie in der Türkei zwar auch entsprechend ratifiziert, laut der Organisation “Wir werden Frauenmorde stoppen” aber nie angewendet.
(jz/apa)
Titelbild: APA Picturedesk