Jede fünfte Frau in Österreich wird gestalkt, nicht einmal ein Zehntel der Anzeigen führt zu einer Verurteilung. Warum es oft so schwer ist, etwas gegen Stalking zu tun.
Wien | Der Brief ist mit Rabatt-Stickern aus dem Supermarkt an Ninas Wohnungstür geklebt. Keine Briefmarke, kein Absender. Darin eine obszöne Nachricht mit Kugelschreiber: „An die Schlampe im Dachgeschoss. Morgen oder übermorgen wirst du schwanger. Wirfst du das Kind dann in den Kanal?”
Nina, die eigentlich anders heißt, ist die einzige Mieterin im obersten Stockwerk – zu ihr hinauf verirrt sich niemand, der nicht gezielt zu ihr will. Trotzdem nimmt sie die Nachricht zuerst nicht ernst. Ein Gefühl der Beunruhigung bleibt dennoch, vor allem als sie den Brief Freunden zeigt. Die sind schockiert. Dann kommt ein zweiter, ein dritter, ein vierter, ein fünfter und ein sechster Brief – alle mit wüsten Beschimpfungen bis hin zu Androhungen sexueller Gewalt. Manchmal vergehen nur ein bis zwei Tage bis zur nächsten Nachricht, manchmal mehrere Monate. Nina hat einen Stalker und keine Ahnung, wer ihr da Angst machen will.
Jede fünfte Frau betroffen
Zwanzig Prozent der Frauen in Österreich sind laut Statistik Austria im Laufe ihres Erwachsenenlebens von Stalking betroffen. Sie werden über eine längere Zeit terrorisiert, verfolgt, ihnen wird auflauert, sie werden ständig gegen ihren Willen angerufen und bekommen konstant unerwünschte Nachrichten und Geschenke bis hin zu Drohungen geschickt, es werden Informationen über sie verbreitet oder es werden Dinge beschädigt. Bei fast zwanzig Prozent der Betroffenen ist der Stalker ein aktueller oder ein Ex-Partner. Rund die Hälfte wird von einem unbekannten Täter belästigt.
Zwei Betroffene haben ZackZack ihre Geschichte erzählt. Iris – auch sie heißt eigentlich anders – weiß genau, wer ihr Stalker ist. Sie lernt ihn bei einer Auftragsarbeit kennen. Zuerst verstehen sie sich gut. Er will mehr, sie will keine Beziehung. Doch das akzeptiert er nicht: Er ist eifersüchtig und wird aggressiv. Wenn sie Zeit mit anderen Freunden verbringt, muss er immer genau wissen, wo sie ist und was sie tut. Dann zieht er nach Wien, damit er sie sehen kann, obwohl sie ausdrücklich sagt, dass sie das nicht will.
Mehrmals versucht Iris den Kontakt abzubrechen – wenn sie das tut, und er Tabletten nimmt, sich besinnungslos trinkt oder verletzt, ist es ihre Schuld, redet er ihr ein. Seine ständigen Nachrichten, in denen er schreibt, sich etwas anzutun, hören nicht auf. Einmal steht er in Bandagen vor ihr: Er sei wegen ihr aus dem Fenster gesprungen, außerdem sei er todkrank und sie dürfe ihn nicht allein lassen. Heute weiß Iris, dass er seine Leiden wohl nur erfunden hat.
Wenig Vertrauen in die Polizei
Stalking ist seit 2006 strafbar. Bis zu einem Jahr kann man dafür ins Gefängnis gehen, bis zu drei Jahre, wenn die Stalking-Handlung über ein Jahr gedauert hat, oder wenn die Tat zum Suizid oder Suizidversuch des Opfers geführt hat. Aber nur rund 13 Prozent der von Stalking betroffenen Personen gehen zur Polizei. Die Hälfte dieser 13 Prozent berichtet, dass das Stalking danach aufgehört hat, bei 20 Prozent ist es weniger geworden. Dass so viele Betroffene nicht zur Polizei gehen, obwohl es durchaus helfen kann, hat verschiedene Gründe.
Auch Iris will nicht zur Polizei. Zu groß ist die psychische Belastung, über die Vorfälle zu sprechen, zu groß die Angst, dass ihr die Schuld gegeben und sie von den Beamten nicht ernstgenommen wird, weil sie den Kontakt nicht sofort abgebrochen hat. Dass viele Frauen kein Vertrauen in die Polizei haben, weist man beim Bundeskriminalamt zurück. Stattdessen macht man die Opfer allein dafür verantwortlich, sich keine Hilfe zu suchen: Sie würden aus Angst vor dem Partner nicht zur Polizei gehen, oder weil sie denken würden, Stalking wäre schon nicht so schlimm. Doch Betroffene und Hilfsorganisationen sind anderer Meinung.
Zuhause nicht mehr sicher
Nina kennt die Aussagen von Frauenschutzorganisationen, wonach viele Frauen, die in Österreich ermordet werden, zuvor gestalkt werden. Dreimal wendet sie sich an die Polizei, das erste Mal nach dem dritten Brief. Doch die Polizei sagt ihr, dass eine Anzeige nichts bringen wird, die Staatsanwaltschaft würde das nicht als Stalking bewerten und kein Verfahren führen. Und genau so kommt es auch.
Doch Ninas Stalker denkt noch lange nicht ans Aufhören. Mittlerweile läutet es auch an der Gegensprechanlage von Ninas Wohnhaus – zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wenn sie den Hörer abnimmt und fragt, wer da ist, bekommt sie keine Antwort. Schaut sie aus dem Fenster, um nachzusehen, sieht sie nur noch, wie eine Gestalt um die Ecke huscht.
Eine Zeit lang ist sie so wenig wie möglich zuhause. Sie verlässt die Wohnung nicht mehr ohne Pfefferspray, ihre Hausschlüssel klemmt sie sich auf dem Heimweg zwischen die Finger, um im Notfall zuschlagen zu können. „Es ist ein schreckliches Gefühl, sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher zu fühlen, sondern sich die ganze Zeit zu denken, da könnte jemand vor meiner Tür stehen, vielleicht während ich schlafe”, erzählt sie.
„Es ist ein schreckliches Gefühl, sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher zu fühlen.”
Nina, Betroffene
Sie wendet sich wieder an die Polizei, doch die Beamten sagen ihr nur, das nächste Mal, wenn jemand läute, solle sie einfach 133 anrufen. „Sinnlos” findet Nina, die sich im Stich gelassen fühlt. „Bis die Polizei kommt, ist der längst weg.”
Niemand zuständig
Einmal verweist die Polizei sie einfach an Wiener Wohnen, da die Sache mit den Briefen ein Mieter-Problem sei. Doch auch Wiener Wohnen fühlt sich nicht zuständig und schickt Nina zu einer Mediationsstelle, die eigentlich bei Streitigkeiten zwischen Nachbarn helfen soll. Die Mediationsstelle, an die Wiener Wohnen Nina weiterleitet, ist jedenfalls überfordert mit dem Thema und leitet Nina deswegen an eine Beratungsorganisation weiter.
Fragt man allgemein bei Wiener Wohnen nach, wie man dort auf Hilfegesuche bezüglich Stalkings reagiere, wird Mietern geraten „dringen die Polizei einzuschalten” falls sie sich bedroht fühlen. Außerdem gebe es die Initiative „GEMEINSAM.SICHER wohnen”, eine Kooperation von Wiener Wohnen, Polizei und verschiedenen sozialen Organisationen.
„Frauen, die zur Polizei gehen, werden oft weggeschickt“
Pia Hoffmann, Beraterin bei der Frauenhelpline
Kostenlose Beratung für von Gewalt betroffene Frauen gibt es zum Beispiel bei der Frauenhelpline. Wenn dort das Telefon klingelt, ist die Psychologin Pia Hoffmann eine von mehreren Beraterinnen, die abhebt. Dass die Polizei sie auch bei Stalking nicht ernst nimmt, berichten ihr viele Frauen, die von Gewalt betroffen sind.
„Frauen, die zur Polizei gehen, werden oft weggeschickt, weil ihnen gesagt wird, es zahle sich nicht aus, eine Anzeige zu machen. Aber das ist nicht richtig so”, sagt Hoffmann. Das Recht auf eine Anzeige hat jeder.
Trotzdem Hilfe suchen
Auch wenn es schwierig sei, sollte man trotzdem zu Beratungsorganisationen und zu den Behörden gehen, rät Hoffmann. Denn sonst gäbe es keinen Grund für die Täter, aufzuhören. In der Beratung könne man gemeinsam ausloten, welche rechtlichen Schritte möglich sind und gemeinsam zur Polizei gehen.
Es sei wichtig, dass Betroffene die gesamten Vorfälle und Nachrichten dokumentieren, damit sie vor der Polizei und vor Gericht als Beweise gelten. Wenn es einem möglich ist, solle man dem Stalker einmal klar mitteilen, dass man keinen Kontakt mehr wolle und dann alle weiteren Kontaktversuche ignorieren, empfiehlt Pia Hoffmann. Es könne sein, dass Stalker dann die Lust verlieren.
Manche bräuchten Personenschutz
Doch der Schutz liege eben nicht allein in der Verantwortung der Opfer, so Hoffmann. Laut ihr müsste die Polizei genauere Gefährlichkeitseinschätzungen und Täterprofile erstellen. Es sollte mehr verpflichtende Schulungen bei Polizei und Gericht geben und mehr Konsequenzen, damit Täter ihr Verhalten ändern.
Die Polizei kann mit Annäherungs- und Betretungsverboten arbeiten, eine einstweilige Verfügung beim Bezirksgericht zu beantragen ist auch möglich. Doch es gibt Täter, die sich einfach über solche Verbote hinwegsetzen, so Hoffmann. In Wahrheit bräuchten manche Frauen sogar Personenschutz.
Einen Schlussstrich ziehen
Irgendwann hält Iris die Situation nicht mehr aus, sie bricht den Kontakt ab – diesmal endgültig. Und dann steht er plötzlich vor ihrer Wohnung. Teilweise läutet er stundenlang Sturm, während sie in ihrer Abstellkammer sitzt und hofft, dass er weggeht. Er legt ihr Unmengen an Geschenke vor die Tür, bittet und droht über unzählige Emails und Nachrichten auf jeder App und jedem Social Media-Kanal. Es hilft nicht, dass sie ihn blockiert. Er scheint immer genau zu wissen, was sie wo macht und mit wem.
„Er hat versucht, sich über jede Art in mein Leben zu schleichen. Es gibt keine von diesen Nachrichten, die mich nicht völlig kaputt gemacht hat. Ich habe das nicht lesen können, ohne zu weinen”, erzählt Iris. Doch sie hält durch und ignoriert ihn weiter. Inzwischen hat sie sich ihrer Mutter anvertraut und Freunden – auch weil es ihr zu diesem Zeitpunkt schon so schlecht geht, dass sie es nicht länger verstecken kann.
“Es gibt keine von diesen Nachrichten, die mich nicht völlig kaputt gemacht hat.”
Iris, Betroffene
„Das hat mir die Stärke gegeben, die Nachrichten zu ignorieren, egal wie grauslich sie waren.” Monatelang traute sie sich nicht einmal in seinen Wohnbezirk. Dann ein Akt der Selbstermächtigung: „Ich habe all seine Geschenke in eine Kiste getan und sie ihm vor die Tür gestellt.”
Es dauert noch vier Monate, bis die Nachrichten aufhören, obwohl sie nicht mehr antwortet. In dieser Zeit bekommt sie auch Nachrichten von “Lena”, einer angeblichen Freundin des Stalkers und antwortet auch ihr nicht. Daraufhin droht “Lena”, dass sie Iris‘ Leben zerstören wird. Dann ist es endlich still. Insgesamt waren es fast drei Jahre, in denen der Stalker versuchte, sie zu kontrollieren.
Schwachstellen im Gesetz
Bei Stalking geht es um Macht, weiß Pia Hoffmann: „Die Täter wollen entscheiden, wie und wie oft die Frau an sie denkt, sie wollen die Kontrolle über sie und ihr Leben. Es gibt ihnen ein gutes Gefühl, jemandem Angst zu machen.” Gerade gewalttätige Partner, die eine Trennung nicht akzeptieren und die Frau dann stalken, können mitunter sehr gefährlich sein.
„Es muss oft relativ lang etwas passieren, damit es juristisch relevant ist. Wir sprechen oft davon, dass es über 20 Vorfälle geben und es über mehrere Monate laufen muss, außer es passiert etwas Extremes wie etwa, dass die Fenster eingeschlagen werden. Das ist für die Betroffenen eine große Hürde. Da gibt es mehrere Schwachstellen im Gesetz”, sagt sie.
Eine andere Person, die sich beruflich mit Stalking auskennt, ist die Wiener Rechtsanwältin Patricia Hofmann. Sie vertritt Stalking-Opfer vor Gericht. Das Anti-Stalking-Gesetz von 2006 bewertet sie grundsätzlich positiv, da es durch dieses überhaupt erst möglich geworden sei, Stalking strafrechtlich zu verfolgen. Es sei jedoch fraglich, ob in §107a StGB das gesamte Unrecht dieser Taten erfasst werde. Hofmann findet: „Es müssten hier klarere Regelungen geschaffen werden.”
Auch einige Formulierungen in §107a StGB sind unkonkret. Demnach ist es Stalking, wenn eine Person „über eine längere Zeit hindurch fortgesetzt” beharrlich verfolgt wird und das Opfer dadurch in der „Lebensführung unzumutbar beeinträchtigt” wird.
Viel mehr Anzeigen als Verurteilungen
Im Jahr 2020 wurden laut Bundeskriminalamt 1693 Personen wegen Stalking angezeigt. 110 Personen wurden laut der gerichtlichen Kriminalstatistik dafür verurteilt. Dass weit mehr Personen wegen Stalking angezeigt als verurteilt werden, hat laut Hofmann zwei Gründe. Entweder die angezeigten Vorfälle erfüllen nicht die gesetzlichen Kriterien von Stalking, oder es gibt keine Verurteilung, sondern eine Diversion. Bei dieser zahlt man eine Geldbuße, leistet gemeinnützige Arbeit oder bekommt eine Probezeit. Auch das könne helfen, denn die Frauen wollen meist nur, dass es aufhört. „Wenn er sie dann nicht mehr kontaktiert, dann ist der Zweck der Anzeige erfüllt”, so Hofmann.
Über ein Jahr ist mittlerweile seit der letzten Nachricht an Iris vergangen. Sie glaubt, dass ihr Stalker Wien verlassen hat. So schnell wird sie das Erlebte jedoch nicht loslassen, auch wenn es ihr jetzt besser geht. Iris hat mittlerweile viel reflektiert und eingeordnet und geht in Therapie. Ihr einziger Wunsch: Ihn nie wieder zu sehen.
„Ich werde nicht zulassen, dass er Macht über den Ort hat, an dem ich mich wohlfühle.“
Nina, Betroffene
Nina ist nach wie vor im Ungewissen. Obwohl es Hinweise gibt, dass der Stalker im selben Haus wohnt, hat die Polizei bis heute niemanden befragt oder die Briefe untersucht. Jeder Nachbar, jeder Mann, der ihr auf ihrer Stiege oder in ihrem Wohnblock begegnet, könnte es sein. „Ich werde nicht zulassen, dass er Macht über den Ort hat, an dem ich mich wohlfühle”, sagt sie entschlossen. Dennoch überlegt sie, umzuziehen.
Manchmal riecht es vor ihrer Tür auf dem Gang stark nach Männerparfum, so als wäre jemand erst vor kurzem da gewesen. Einmal findet sie auf dem Treppenabsatz einen leeren Energy-Drink und berauschende Codein-Tropfen – als wäre jemand dort gesessen und hätte gewartet.
Betroffene finden Unterstützung bei folgenden Anlaufstellen:
Frauenhelpline: 0800 222 555
Männernotruf: 0800 246 247
Gewaltschutzzentren/ Interventionsstelle Wien
Bundeskriminalamt: Information zu Stalking und Handlungsmöglichkeiten
Titelbild: ZackZack/Miriam Mone, Montagen: Thomas König.