Mit 19. Mai wird es auch in Wien weitreichende Öffnungen geben. Die derzeitigen Infektionszahlen geben das zwar her, doch berge das gleichzeitige Aufsperren ein gewisses Risiko, sagt Virologe Norbert Nowotny.
Florian Bayer
Wien, 7. Mai 2021 | „Die doch sehr strengen Maßnahmen haben gefruchtet“, so der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig. Nach Beratungen mit Experten verkündete er durchaus überraschend, ab 19. Mai Gastronomie, Hotellerie, Kultureinrichtungen und Sportstätten zu öffnen. Bereits zwei Tage vorher gehen die Schulen wieder in Vollbetrieb.
„Die Infektionszahlen sind stärker gesunken, als die Prognosen vorhergesagt haben“, sagte Ludwig. Dies ermögliche, die vom Bund geplanten Öffnungsschritte auch in Wien umzusetzen. Der Spielraum, besonders auf den Intensivstationen, sei aber nach wie vor eng. Auch betonte Ludwig die Gefahr von “Long Covid”, also chronischer Spätfolgen einer Corona-Infektion, deren Verlauf sich noch nicht abschätzen lasse.
Österreichweit gab es zuletzt (Stand 6. Mai) 1.220 Neuinfektionen und acht Tote pro Tag, die 7-Tages-Inzidenz liegt damit bei 124. Mit einem Wert von 119,7 liegt die Wiener Inzidenz knapp unter diesem Durchschnitt. Bei welchen Zahlen die nun beschlossenen Öffnungen wieder zurückzunehmen seien, beantwortete der Bürgermeister nicht.
Steigende Zahlen nach Lockerungen?
„Die derzeitigen Zahlen, auch dank der harten Lockdowns in der Ostregion, geben durchaus diese Lockerungen her. Ich fürchte nur, dass durch die gleichzeitige Öffnung aller Bereiche die Neuinfektionen wieder ansteigen können“
, sagt Norbert Nowotny, Virologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.
Zwar wirken sich ihm zufolge die Impfungen bereits positiv aus, auch saisonale Effekte kämen uns entgegen, da sich das Bewegungsverhalten der Menschen mehr ins Freie verlagere. „Wir sollten den jetzigen Vorsprung aber nicht verspielen. Ende Juni sollten wir bessere Zahlen haben als jetzt, um gut durch den Sommer zu kommen“, so der Virologe. Erst dann würden die Impfungen flächendeckend greifen und die Zahlen deutlich sinken.
Warnendes Beispiel Vorarlberg
Das Beispiel Vorarlberg zeige, dass breite Öffnungen mit stark ansteigenden Zahlen einhergehen können. Die 7-Tages-Inzidenz vervierfachte sich dort binnen weniger Wochen. Allerdings wurden laut Nowotny erfolgreich Maßnahmen gesetzt, um gegenzusteuern, nämlich Ausreisetests aus Gebieten mit hoher Inzidenz. Die Infektionszahlen konnten damit zuletzt wieder stabilisiert werden. Mit der vorzeitigen Beendigung des harten Lockdowns im Burgenland seien die viel weitreichenderen Öffnungen in Vorarlberg nicht vergleichbar.
Weil Ausreisetests in einer Großstadt wie Wien nicht machbar seien, plädiert Nowotny für Vorsicht und ein Augenmerk auf öffentliche Verkehrsmittel. Zwar herrscht in Öffis auch weiterhin FFP2-Maskenpflicht, dennoch könne es durchaus zu Infektionen kommen, wenn Leute dicht an dicht stünden. Und mit Gedränge wird nach den Öffnungsschritten vermehrt zu rechnen sein. „Ich würde daher anregen, die Frequenz der öffentlichen Verkehrsmittel zu erhöhen“, sagt er.
Auch die bis zu 1.500 Personen bei Veranstaltungen in Innenräumen bereiten dem Virologen Bauchweh, hier werde es gute Sicherheitskonzepte brauchen. Derzeit ist die genaue Ausgestaltung noch nicht bekannt, die entsprechende Verordnung des Gesundheitsministeriums ist noch ausständig.
Mehr Infektionen in Schulen
Und auch bei Schulen bestehe eine gewisse Gefahr. „Aufgrund der gleichzeitigen Öffnungen in allen Bereichen werden vermehrt Infektionen ins Klassenzimmer getragen werden“, sagt Nowotny. Positiv hervorzuheben sei aber, dass der Großteil der Pädagogen mittlerweile geimpft sei und durch die regelmäßigen Tests viele Infektionen frühzeitig erkannt werden. Betroffene Klassen können dann in Quarantäne geschickt werden. Luftreinigungsgeräte brauche es nicht mehr, regelmäßiges Lüften erfülle denselben Zweck, so Nowotny.
Für einen breiten Schutz in der Bevölkerung werde es eine Durchimpfung von zumindest 75 Prozent brauchen, schätzt er. Langfristig werde Corona zum saisonalen Virus, das durch regelmäßige Auffrischungsimpfungen – wie derzeit bei der Influenza – gut in den Griff zu bekommen sein könne. Die derzeitigen Impfstoffe würden gegen alle verbreiteten Varianten zumindest einen Basisschutz bieten. Mit der Verbreitung einer gefährlicheren Variante, bevor es zu einer Durchimpfung in Österreich kommt, rechnet er nicht.
Wien weitet Gurgeltests aus
Positiv bewertet Nowotny auch, dass die Stadt die PCR-Gurgeltests weiter ausweiten will. Mittels mobiler Teams soll über das städtische Testprogramm „Alles gurgelt“ aufgeklärt werden. Derzeit seien die Kapazitäten von 200.000 täglich durchführbaren Tests noch nicht ausgereizt, sagte Vizebürgermeister Wiederkehr (NEOS). Um das zu ändern, sollen Gurgeltests künftig auch in zehn dezentralen „Testboxen“ angeboten werden – vor allem, um Älteren die notwendige Registrierung zu erleichtern.
Künftig sollen auch vermehrt Schwangere geimpft werden, für Ludwig eine besonders sensible Gruppe. Studien aus den USA bestätigen, dass diese tatsächlich ein vielfach erhöhtes Risiko für tödliche Verläufe haben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Ludwig forderte mehrmals auf, die Maßnahmen auch weiterhin ernst zu nehmen. „Nichts wäre schlimmer, als vor dem oder im Sommer wieder Schritte zu setzen, die wir alle nicht wollen.“
Titelbild: APA Picturedesk