Die Corona-Jahre haben Verwundungen hinterlassen. Das einfach zu ignorieren, ist vermutlich keine gute Idee.
Sie kennen ja alle das Phänomen, dass man im Freundeskreis ein paar Dinge sagt, die man in der Öffentlichkeit eher nicht so laut sagen würde. Das Phänomen ist natürlich altbekannt, weil man sich am Kneipentisch über alles lustig macht, auch über die Verrücktheiten der eigenen Leute, selbst über die höchstpersönlichen, eigenen Schrullen und Peinlichkeiten. Nicht wenige pflegen überdies einen gesunden Sarkasmus, der in der Öffentlichkeit leicht vorsätzlich missverstanden werden könnte. Das Phänomen hat aber in der jüngsten Zeit immens zugenommen, weil es ein paar Themen gibt, über die man nicht sprechen darf, ohne dass man dann gleich Empörungsstürme und Verleumdungen erntet. Wenn ich mit Kumpels, Freundinnen und Bekannten zusammensitze, dann lästern wir über vertrottelte Antiimperialisten, die in ihrem Wahnsinn jeden Akt bewaffneten Widerstands von Palästinensern – und seien es der Hamas-Terror – als exemplarischen Akt der Emanzipation der Menschheit betrachten, wir rollen die Augen über Yanis Varoufakis, der das Hamas-Gemetzel vom 7. Oktober mit dem Widerstand des ANC gegen das südafrikanische Apartheidsystems verglichen hat, genauso wie wir über die Knallköpfe der anderen Seite den Kopf schütteln, die jede Kritik am fürchterlichen Gaza-Krieg der Netanjahu-Regierung als Antisemitismus verunglimpfen. Wir würden uns weniger Blödsinn von allen Seiten wünschen. Wir halten die Aussagen von Varoufakis für genauso irrwitzig wie das Einreiseverbot, das unlängst die deutsche Regierung über ihn verhängt hat. Den erschreckenden, zeitgenössischen Hang, alle „problematischen Meinungen“ gleich zu verbieten, nehmen wir mit offenem Mund wahr, zumal für viele heutzutage offenbar alle Meinungen „problematisch“ sind, die von den eigenen Meinungen abweichen. In Deutschland haben sie jetzt einen Palästina-Kongress, bei dem sicherlich Aussagen getroffen worden wären, die ich für bescheuert gehalten hätte, schon verboten, bevor diese Aussagen überhaupt getroffen worden sind. Also quasi untersagt, weil die Gefahr besteht, dass bescheuerte Meinungen geäußert werden. Das ist verrückt, aber mehr als das: Erstens wird der Korridor der zugelassenen Meinungen so eng gezogen, dass viele Menschen empfinden, sie können nicht einmal ihre Betroffenheiten artikulieren, ohne gleich verunglimpft zu werden, und zweitens sind solche leichthändigen Verbote ein Einstieg ins Autoritäre. Wer sowas macht, wird auch beim nächsten Mal grundrechtliche Prinzipien mit Nonchalance außer Kraft setzen. Man möchte eigentlich jeden Tag an Rosa Luxemburgs Maxime erinnern, dass die Freiheit immer zunächst auch die „Freiheit des Andersdenkenden“ ist.
Der Zug der Zeit: Heikle Themen vermeiden
Aber die meisten sagen all das nicht mehr offen, weil sie fürchten, sich garantiert ein paar Vollhonks einzutreten, die einen entweder als „rassistischen Verteidiger des Genozids in Gaza“ beschimpfen, als auch welche, die einen sofort als vermeintlichen „Antisemiten“ entlarven. Man vermeidet das verständlicherweise gerne, so wie man heikle Themen umschifft, wenn man den wunderlichen Urgroßonkel trifft. Diese Strategie der Vermeidung hat verschiedene Gründe. Einer ist, dass man die Dummheiten der eigenen Seite lieber ignoriert, aus Angst, man würde dann der Gegenseite zugerechnet. Diese Strategie der Vermeidung umfasst leider immer mehr Themen, von den Wokeness-Triggerthemen oder gewissen Überspanntheiten bis zu gänzlich anderen Themenkomplexen. Etwa auch den Themenkomplex Corona und Covid-Maßnahmen.
Ich gestehe hier deshalb: Wenn ich mich mit meinen Freunden treffe, zerkugeln wir uns auch ein bisschen in der Rückschau auf manche Covid-Maßnahmen. Etwa über den legendären Tweet der Polizei München, die verkündete: „Nein, ein Buch auf einer Bank zu lesen ist nicht erlaubt.“ Ich habe ja die angenehme Charaktereigenschaft, sehr schnell zu vergessen, aber wenn ich mich recht erinnere, war die Logik so: Man durfte zur körperlichen Erbauung spazieren gehen, und, bevor man vor Erschöpfung zusammenbrach, durfte man sich zum Ausrasten auf eine Parkbank setzen – aber nur dann. Keineswegs durfte auf einer Parkbank sitzen, wer nicht erschöpft war, sondern einfach Lust darauf hatte. Ich glaube, das war wegen des Babyelefanten, weil ja theoretisch die Gefahr bestanden hätte, dass jemand in einem Abstand von weniger als 1,5 Meter an einem vorüber geht, und dann wäre die Katastrophe da gewesen und das Virus hätte überspringen können. Unter freiem Himmel. Noch schlimmere Gefahr: Jemand hätte sich daneben auf die Parkbank setzen können. Nicht auszudenken! Oder der Tod hätte sozusagen stolpern können und schon wäre man auf der Intensivstation gelandet.
Verwundungen durch die Pandemiejahre
Naja, sie sehen schon: Das war natürlich völlig verrückt. Wie noch ein paar weitere Dinge verrückt waren. Im Freundeskreis kann man retrospektiv herzhaft darüber lachen, aber man vermeidet, es öffentlich zu tun, aus Sorge, dass das nur „den Schwurblern“ hilft, den spinnerten Impfgegnern, oder denen, die meinten, das Virus sei von George Soros oder Bill Gates erfunden worden, damit wir alle geknechtet werden können. Oder damit uns Big Pharma mit der Impfung umbringen kann.
Die Frage ist nur: Warum soll man eigentlich nicht darüber reden? Heute wird gelegentlich von einer „Aufarbeitung“ der Covid-Maßnahmen gesprochen und die Münchener Historikerin Hedwig Richter hat jüngst nicht zu Unrecht moniert, „man überlässt es dem Narrensaum der Corona-Leugner und rechten X-Trollen, diese Zeit ‚aufzuarbeiten‘, als gälte es, eine zweite Nazidiktatur zu bewältigen.“
Am liebsten würden wohl sehr viele die Jahre einfach abhaken. Die Covid-Pandemie hat zu sehr vielen Zerwürfnissen geführt, zu hysterischen Debatten, die bis in die engsten Freundes- und Familienkreise hinein reichten, Maßnahmenbefürworter gegen Maßnahmenskeptikerinnen, die einen verdammten die Impfung, die anderen luden sich „Stay at home“ in ihre Social-Media-Porträts. All das war nicht bloß einfach „kontrovers“, sondern voller Emotionalität und Wut.
Ärztinnen wurden gemobbt, im Einzelfall in den Tod getrieben, sogar Rettungsleute von Medizin-Gegnern überfallen. Andererseits fühlten sich Leute arg an den Rand gedrängt, nette Hippies, die auf Homöopathie oder Meditation stehen, sahen sich plötzlich als „Schwurbler“ und „Ungeimpfte“ in einer Weise gesellschaftlich geächtet, die sie als gemein und brutal empfanden. Und nun gibt es da zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: Einfach vergessen. Möglichkeit zwei: „aufarbeiten“, was immer das sein könnte. „Wir werden darüber reden müssen, sonst fliegt uns das alles noch einmal um die Ohren“, sagte unlängst ein Mediziner und „Public-Health“-Experte zu mir, der seinerzeit öffentlich eine akzentuierte Stimme war.
Natürlich geschahen Fehler
Grundsätzlich können sich auch im öffentlichen Bereich viele eine „Aufarbeitung“ vorstellen, man hört, in Deutschland findet die Idee einer Enquete-Kommission im Bundestag wachsende Akzeptanz. Voraussetzung wäre freilich eine gelassene und offene Ausbreitung einer Unzahl an Fakten und selbstreflexiven Beurteilungen. Diese Absicht würde sofort in Tosen, Geschrei und Aggression untergehen. In Österreich hat die Bundesregierung sogar die Akademie der Wissenschaften mit der Erstellung einer Studie beauftragt. Die Studie ist übrigens ziemlich gescheit, in Passagen sogar richtig brillant. Man hat sie in einer Pressekonferenz am 21. Dezember präsentiert. Das war der Donnerstag vor dem Weihnachtswochenende.
Das ist erfahrungsgemäß nicht ein Termin, den man wählt, wenn man sich eine Wahrnehmung des Präsentierten wünscht.
Ein Verschwörungstheorie-nahes Internetportal hat die Protokolle des deutschen Robert-Koch-Instituts rausgeklagt, und natürlich werden die tausenden Seiten jetzt als Dokument des „Beweises“ verkauft, wie wir manipuliert, eingesperrt, oder was auch immer wurden. Dabei findet man in den Diskussions-Mitschriften das genaue Gegenteil: Wissenschaftler und Experten, die auf Basis unsicheren Wissens und angesichts von sich ständig ändernden Fakten und Evidenzgrundlagen ihre Empfehlungen ableiten. Man sieht, was man wann wusste oder zu wissen glaubte. Erst unterschätzte man die Gefahr, dann überschätzte man sie vielleicht. Bald ging man von einer Fallsterblichkeit von rund drei Prozent aus. Fallsterblichkeit ist der Anteil von Toten pro Erkrankung, also etwas anderes als Infektionssterblichkeit (letztere ist viel niedriger). Eine Fallsterblichkeit von drei Prozent hätte aber in Deutschland immer noch viele hunderttausend Tote bedeutet. Man diskutierte kontrovers über Ausgangsbeschränkungen, Lockdowns und deren Länge, hatte früh Sorge vor den psychosozialen Auswirkungen, man war sich bald bewusst, dass man die kleinen Kinder und jungen Schulkinder eher in Ruhe lassen sollte. Politiker und Politikerinnen wiederum mussten auf Basis von Empfehlungen, unter den Bedingungen von Ungewissheit Entscheidungen treffen, die manchmal richtig, manchmal zu lasch, manchmal zu streng ausfielen.
Die Normbetroffenen, wie die Bürger im Fachjargon heißen, reagierten gereizt. Die einen fühlten sich einem unnötig hohen Todesrisiko ausgesetzt, die anderen durch autoritäre Maßnahmen gegängelt, und ganz generell war man auf viel existenziellere, eklatantere Weise von Regierungshandeln betroffen, als das sonst der Fall ist.
Bindende Regeln und individuelle Freiheitsrechte
Selbstverständlich gibt es hier einiges zu besprechen, und sei es bloß, weil es ja nicht so oft solche Ausnahmesituationen gibt, die man als Gesellschaft meistern muss. Jetzt, wo die akute Krise vorbei ist, kann man etwas lernen. Was hat gut funktioniert? Was schlecht? Wo neigte man zu überschießendem Handeln, wo reagierte die Politik nur kopflos, weil sie nicht vorbereitet war – und wie kann man das in künftigen Fällen vermeiden? Man kann ja sogar zu dem Schluss kommen, dass man es sowieso nicht vermeiden kann. Weil man eben bis zu einem gewissen Grad im Dunklen tappt, wenn man mit dem Unbekannten konfrontiert ist, sodass die besten Pläne nichts helfen.
Als Gesellschaft haben wir sicherlich auch verfassungs- und staatsrechtlich manch Kluges zu besprechen, da ja ganz generell die ewige Spannung im demokratischen Rechtsstaat der unauflösliche Konflikt zwischen bindender sozialer Ordnung und individueller Freiheit des Einzelnen ist. Massive Eingriffe sind durch ein großes Risiko zu rechtfertigen – aber natürlich muss man darüber diskutieren, wie groß das Risiko sein muss, wie klar Evidenzen sein müssen, oder ob in einem Augenblick der Ungewissheit schon die Möglichkeit eines hohen Risikos ausreicht. All das ist nicht trivial, denn in anderen Fällen kann man schnell in einem autoritären Maßnahmenstaat aufwachen.
Das „Gute“ an Covid war ja meines Erachtens sowieso, dass die verhängten Maßnahmen für die Gesellschaft als ganzes so unbequem waren, dass die Gefahr immer sehr klein war, dass sie sich verstetigen könnten. Soll heißen: Keine Regierung war froh, wenn sie Schulen, Unternehmen, Restaurants zusperren musste – und wünschte nichts so sehr, als ein Ende der notwendigen Maßnahmen. Deswegen hatte ich nie Sorge, dass unsere Maßnahmen einen Einstieg ins Autoritäre bedeuten würden, was bei anderen Maßnahmen durchaus denkbar wäre (etwa beim elektronischen Tracking der Bevölkerung, um „Ansteckungsketten“ zu verfolgen. Da wäre denkbar, dass das elektronische Tracking auch über den Notfall hinaus beibehalten wird).
Kaum zu rechtfertigende Doppelstandards
Auch die Frage von ungerechtfertigten Doppelstandards wäre ein Thema für eine nachträgliche Diskussion, da die Zustimmung zu jeder Art von Regierungshandeln zusammenbricht, wenn die Leute das Gefühl haben, dass es nicht gerecht zugeht. In Österreich durfte man etwa in Gondeln zum Schifahren, aber nicht ins Theater. Die einen wurden mit Fördermitteln überschüttet – die anderen in ihrer Existenz gefährdet. Andererseits: Politiker waren auch gehetzt, hinkten logischerweise oft den Aufgaben hinterher und mussten hunderte Parameter berücksichtigen, nicht nur gesundheitliche, sondern auch ökonomische. Man trifft dutzende oder hunderte Regelungen, die auf jeweils unterschiedliche Umstände reagieren sollen, man versucht verschiedene Maximen in Balance zu halten (Ansteckungsketten verringern, zugleich die Wirtschaftsleistung so wenig wie möglich abwürgen), und heraus kommt verständlicherweise ein Tohuwabohu, bei dem dann eben nicht alles in einer Balance ist, sodass Leute mit Recht ausrufen können: „Warum darf der das, während ich nichts darf?“
Ich neige daher zu der Auffassung: Reden wir darüber. Überlassen wir das Thema nicht jenen, für die ihr Leidenschaftsthema „Corona-Diktatur“ zu einer Obsession geworden ist. Wenn die Vernunft aus Angst vor dem Irrsinn die Klappe hält, kommt selten etwas Gutes heraus.
Titelbild: Miriam Moné