Samstag, Juli 27, 2024

Wochenstart mit Mirwais Wakil

Wochenstart mit

Herr Wakil, hat die afghanische Armee nicht gegen die Taliban gekämpft?

 

Wien, 22. August 2021 |

Kurz gesagt: Das hat sie. Bis zur letzten Patrone!

Lange Erklärung: Die afghanische Armee bestand aus vielen verschiedenen Sektoren. Die für diesen Kontext wichtigsten sind die Kommandos, die Brigaden und die Luftwaffe. (Die afghanische Armee wurde in weitere Fraktionen gegliedert, die für diesen Kontext aber unerheblich sind. Das sind zB die verschiedenen regionalen, oft tribal basierten, Gruppen, die Polizei, die verschiedenen Geheimdiensttruppen.)

Konträr zur öffentlichen Auffassung, führte die afghanische Armee seit 2014 selbstständig den Krieg. Die ausländischen NATO/US-Truppen bildeten die afghanische Armee lediglich an gesicherten Stützpunkten aus und unterstützten sie während ihrer Kämpfe aus der Luft.

Besonders evident wird dies in den Todes-Statistiken, die die afghanische Armee seit ihrer Übernahme zu verzeichnen hatte: Alleine im letzten Jahr starben mehr afghanische Soldaten als NATO-Soldaten während des gesamten Krieges. Seit 2001 starben 3.586 internationale Kräfte – bei den afghanischen Soldaten waren es mindestens 66.000.

In vielen Instanzen steckten junge Soldaten ohne Nahrung und Munition im tiefen Gebirge Afghanistans fest. Viele von ihnen wurden monatelang nicht bezahlt. Ihre Familien hungerten in den Städten, während sie irgendwo im Nirgendwo der unendlich weiten Berglandschaften feststeckten und ebenso hungerten bzw. verhungerten. In Anbetracht dieser Tatsachen sank die Kampfmoral der Soldaten – zumal sie wussten, dass die korrupten Politiker*innen in Kabul (Druglords, Warlords) währenddessen damit beschäftigt waren, Villen in Dubai und London zu kaufen.

Stellen Sie sich vor: Sie werden von Taliban-Truppen umringt, haben ihre gesamte Munition bereits verbraucht. Sie haben Luftunterstützung, Verpflegung und Munitionsnachschub angefordert – und warten seit Tagen bzw. Wochen vergeblich darauf. Was tun Sie?

Die Taliban-Strategie bestand darin, das ganze Land gleichzeitig anzugreifen und die leicht zu erobernden Positionen zu umzingeln. Hier muss erwähnt werden, dass mindestens die Hälfte des Landes bereits seit Jahren faktisch unter der Kontrolle der Taliban stand. Das bedeutet, dass diese Bereiche von ihnen kontrolliert und besteuert wurden.

Die Spezialeinheiten und die Luftwaffe waren schon lange überfordert und zahlenmäßig unterbesetzt, konnten bestimmte Regionen also überhaupt nicht unterstützen. Die Regierung konzentrierte sich darauf, große Städte zu verteidigen – was jedoch bedeutete, dass alle anderen kleinen Kontrollpunkte und Stellungen realistischerweise zum Scheitern verurteilt waren.

Würden Sie versuchen, für sich und Ihre Familie einen Kapitulationsvertrag auszuverhandeln? Würden Sie sich und Ihre Familie opfern für Politiker*innen, von denen Sie genau wissen, dass sie jederzeit in ein Flugzeug steigen und das Land zurücklassen können – und würden?

Einige Soldaten kämpften tatsächlich bis zum letzten Atemzug. Einige haben mit den Taliban einen Deal geschlossen. Einige wechselten die Seiten und traten den Taliban bei. Hier muss man wissen: Die Taliban sind vieles, aber nicht korrupt – was wiederum für viele junge Männer eine Art Sicherheit darstellt. Die Taliban haben nämlich wahrlich nicht die Herzen der Bevölkerung erobert – die Kabuler Korruption hat den Afghan*innen die Entscheidung abgenommen. (Mindestens ein Drittel der US-Gelder kam nachweislich nicht an, sondern landete in den privaten Taschen der afghanischen Regierungsmitglieder. Bei einem Budget von einigen Billionen US-Dollar kann man nur erahnen, welche unvorstellbaren Summen das waren.)

Nach vielen Opfern und einem erbitterten Kampf für die Polizei, die Spezialeinheiten und die Luftwaffe verlor die afghanische Armee. Aber sie kämpfte.

Mirwais Wakil ist Außenpolitikexperte und schreibt gerade seine Dissertation an der Universität Wien. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaft und Internationale Beziehungen studiert, unter anderem an der London School of Economics und Princeton.

Titelbild: APA Picturedesk

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