Mittwoch, Mai 8, 2024

Das Gamskogel-Prinzip

Nehammer statt Kurz:

Sebastian Kurz wollte die ganz Macht. Karl Nehammer will die Reste der Macht verteidigen. Am Katschberger Gamskogel gab der Bundeskanzler den Kurs vor: Wir schwindeln uns durch.

 

Wien, 9.1.2022   Ein Freund, der sich vor kurzem ins Kanzleramt verirrte, berichtete mir von einem seltsamen Gerät: einem Lügendetektor ganz in türkis. Jeder, der an ihm vorbeigeht, muss etwas zur aktuellen Lage sagen. Wenn das nicht gelogen ist, schlägt das Gerät mit einem Pfeifton an.

Das Gerät ist imstande, Art und Intensität der Lüge zu messen. Mit einem in Lage und Lautstärke mittleren Ton verrät es die Notlüge und ihre Schwester, die Gelegenheitslüge. Nur bei der Gewohnheitslüge bleibt der Detektor anerkennend still.

Die Gewohnheitslüge zeichnet sich mehrfach aus: durch ihre Regelmäßigkeit, durch die Nichtigkeit ihrer Anlässe und durch die wiederkehrende scheinbare Sinnlosigkeit. Wenn also der Gesundheitsminister beteuert, alles rund um die COVID-Impfung mit ELGA abgestimmt und das Gesundheitswesen mitsamt der Länder im Griff zu haben, pfeift das Gerät leise. Es muss nicht das Ministergesicht lesen können, um die Not hinter dem Schwindel zu erkennen.

Wenn aber der Kanzler erklärt, dass er das geliebte Neujahrkonzert auslassen müsse, um „in einer pandemisch schwierigen Situation“ kein „falsches Signal“ zu senden, bleibt der Kasten still. Der Grund des Konzertschwänzens ist mit dem Foto, auf dem sich der Kanzler kurz vor Sylvester mit Freunden um den Gamskogelhütten-Stammtisch am Katschberg drängt, weithin bekannt. Der Gamskogel-Abstand bei der Hüttengaudi liegt weit unter dem zwischen zwei Konzertbesuchern. Tage nach dem Beisammensein wurde die Hütte wegen COVID-Verdachts „am Berg“ geschlossen. Niemand wäre dem Kanzler böse gewesen, wenn er einfach urlaubsbedingt seinen Konzertbesuch abgesagt hätte. Aber der Detektor hätte den Bruch im konsequenten Umgang mit der Unwahrheit verlässlich entdeckt.

Die Kurz-Entdeckung

Sebastian Kurz war ein politischer Pionier, weil er eine Entdeckung gemacht hat: Wer die Verbreitung von Gewohnheitslügen mit Inseratenmillionen belohnt, hat die Chance, alle Beteiligten abzurichten. Lügenproduzenten, Lügenverteiler und Lügenkosumenten lernen gemeinsam, dass alle lügen und alles gelogen ist. Die Wahrheit ist nichts mehr wert, weil sie als eine von vielen Meinungen zur Seite geschoben werden kann.

Im türkisen Regime ranken sich alle Lügen um eine Zentrallüge: die Existenz einer handelnden und Verantwortung tragenden Regierung. Egal, ob beim Schutz der Schülerinnen vor COVID oder bei der Besteuerung der Klimazerstörung, bei der Abwehr von randalierenden Antisemiten oder islamistischen Terroristen, bei der Bekämpfung von Armut und Korruption – überall stellt sich heraus, dass an der Spitze nicht getroffener Entscheidungen ungeeignete und überforderte Personen stehen.

Der Grund für eine der schlechtesten Regierung der Zweiten Republik liegt in einem weiteren Kurz-Prinzip: Der junge Führer setzte auf bedingungslose Loyalität und erkannte, dass sachliche Kompetenz eigene Wege erlaubte. Daher entschied er sich für Einwegminister, die nach dem Verbrauch mit einer Handbewegung entsorgt werden konnten.

Karl Nehammer ist eine der Ausnahmen von der Flaschenregel. Er war vom Parteisekretär bis zum Innenminister als Mann fürs Gröbste am richtigen Platz. Nehammer verfügt über eine solide Ausbildung zum politischen Bodyguard. Das machte ihn zu einem skrupellosen Generalsekretär und zu einem überforderten Innenminister. Bundeskanzler wurde er, weil sich in der Personalreserve der ÖVP derzeit niemand mit Sachkenntnis, Führungsqualität und politischer Erfahrung findet.

Wenn Nehammer die Eignung zum Bundeskanzler und Raab, Karner, Schramböck, Tanner, Plakolm und Köstinger die zur Ministerschaft nicht mitbringen, muss sie woanders erfunden werden. Das System aus Produzenten und Verteilern garantiert, dass das funktioniert.

Nehammer und das Nichts

Das alles erinnert an Kurz. Aber ein wesentlicher Unterschied bleibt: Sebastian Kurz wollte die ganze Macht. Sein Ziel war ein Regime wie das von Viktor Orbán in Budapest. Kurz ist an den letzten Brückenköpfen von Rechtsstaat und unabhängiger Berichterstattung gescheitert. Karl Nehammer ist kein zweiter Kurz. Er verteidigt als letztes Aufgebot die Partei, die sich nach 35 Jahren in der Regierung mit allen verbliebenen Kräften an die Futtertröge klammert. Für Kurz ist es um alles gegangen. Für Nehammer geht es um das Nichts.

Das eint ihn mit den Lügenverteilern. Wenn eine neue Regierung den Großteil der Inseratentröge abbaut und den Zugang zum Rest transparent und fair reguliert, droht nicht nur dem Boulevard die Hungersnot. Daher wird weiter versagt, weiter gemauert und weiter gelogen werden. Der Neujahrs-Hüttenschwindel des Kanzlers war kein kleiner Ausrutscher, sondern wohl die programmatische Erklärung für sein erstes volles Kanzlerjahr: ein Jahr ohne einen einzigen Pfeifton. Damit steht fest: 2022 wird Österreich nach dem Gamskogel-Prinzip regiert.

p.s.: Werner Kogler findet das alles gut. Ich nicht.

Titelbild: APA Picturedesk

Peter Pilz
Peter Pilz
Peter Pilz ist Herausgeber von ZackZack.
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