Die Krise der ÖVP ist selbstgemacht: Wer immer anderen die Schuld gibt und Krisen nicht selbstkritisch in Angriff nimmt, wer sich immer wegduckt, anstatt Verantwortung zu übernehmen, ist nicht regierungsfähig.
In Innsbruck hat der frühere ÖVP-Vizebürgermeister Johannes Anzengruber die Stichwahl für das Bürgermeisteramt gewonnen; doch das, indem er sich gegen die ÖVP gewandt und ein klares bürgerliches Profil gezeigt hat, wie es der Volkspartei längst abhanden gekommen ist. In seinem Leitartikel schreibt Martin Fritzl am 29. April 2024 in Die Presse:
Dabei wäre Anzengruber geradezu der Ideal-Typus dessen, was man sich unter einem ÖVP-Politiker vorstellt: Ein durch und durch bürgerlicher, unaufgeregter Politiker mit Wirtschaftskompetenz, vielleicht etwas zu bieder.
Die vielzitierte Wirtschaftskompetenz ist der ÖVP im Bund längst abhanden gekommen. Wenn man sich die Daten und Prognosen für Österreich ansieht, muss man zur Erkenntnis kommen, dass die Volkspartei dieses Land nicht führen kann. Fritzl weiter:
Nichts zu holen ist derzeit für die ÖVP, die den Anspruch hat, die bürgerliche Mitte zu vertreten, aber gerade in den bürgerlich geprägten Städten keine Chance hat. Die Gründe dafür zu erforschen, wäre für die in Umfragen darniederliegende Kanzlerpartei von essenzieller Bedeutung. Und sie sollte sich die Frage stellen, ob diese Schwäche nicht auch eine Folge des unter Sebastian Kurz eingeleiteten Kurswechsels zu einer populistischen Politik auf den Spielfeldern der FPÖ ist.
Die Erkenntnis ist nicht neu. Seit Ibiza (und das sind nun bald fünf Jahre) weise ich darauf hin, dass es sich dabei vor allem auch um einen Skandal handelt, der die Strategien der ÖVP seit dem Parteiputsch durch Kurz offenlegt. Das, was im Ibiza-Video zu hören ist, nur als blauen Fantasien abzutun, ist ganz offensichtlich falsch. Und selbst dort, wo die ÖVP von sich aus politische Signale sendet, tragen diese rein rechtspopulistische Handschrift. So z.B. die unsägliche Debatte zur Leitkultur – eine Kampagne, die sich auf Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit reduziert.
Christina Traar in ihrem Leitartikel in der Kleinen Zeitung vom 29. April 2024:
Der nunmehrige Wahlsieg von Anzengruber zeigt: Es zahlt sich aus, sich von der Volkspartei abzugrenzen. Diese scheint nicht nur endgültig das Gespür für die wichtigen Themen in der Bevölkerung verloren zu haben (Stichwort Leitkultur), sondern auch für das Potential in den eigenen Reihen. Den ungeduldigen Aufzeiger längst ausgedienter Parteimuster wies man zuerst zurecht und später Richtung Tür, man wisse als alteingesessene Großpartei schließlich am besten, wie Politik funktioniert. Dafür, dass das längst nicht mehr stimmt, ist Innsbruck nun ein weiterer Beweis.
Das Wegducken und Anderen-die-Schuld-Geben ist in der Tat ein ausgedientes Parteimuster der ÖVP. Cathrin Kahlweit hat in der Süddeutschen Zeitung schon am 12. April 2024 einen Fernsehauftritt von Innenminister Karner analyisert, in dem dieser in einem fort diese Strategie anwendet und keine Verantwortung für sein Ressort zu übernehmen bereit ist. Man fragt sich ja, wie sich ÖVP und Grüne den Beitritt zu Skyshield vorstellen, wenn aus ihrem Innenministerium sofort alle geheimen Informationen in alle Welt gehen. Auch der Herr Bundespräsident, der immer wieder für dieses Projekt wirbt, sollte sich fragen, ob andere westliche Staaten mit einem Österreich kooperieren können, dessen Geheimdienst eine Lachnummer und dessen Innenministerium ein veritables Sicherheitsrisiko ist.
Cathrin Kahlweit in ihrem Artikel:
Nun sollte sich Karner im ORF zum Spionageskandal um Egisto Ott erklären. Der ist dabei, sich zu einer nationalen Peinlichkeit ersten Ranges zu entwickeln, in der sich Österreich einmal mehr als Land der Opfer, nicht der Täter sieht. Täter – das sind – Ott, Marsalek, Kickl und Putin. Opfer sind all jene, die es seit weit mehr als sieben Jahren nicht geschafft haben, einen Spionagering aufzudecken, vor dem intern und von internationalen Diensten gewarnt wurde. Und dessen Mitglieder entweder suspendiert und verhaftet, in den Krankenstand oder gleich nach Dubai verabschiedet wurden.
Jeder Mensch weiß, wie lange die ÖVP das Ministerium schon führt. Ihr Wegducken zeigt ihr fehlendes Gefühl für Verantwortung:
Die ÖVP, so viel war nach 16 Minuten und 20 Sekunden klar, ist das eigentliche Opfer, und Karner forderte: »Seien wir doch froh, dass da etwas aufgedeckt wurde.« Vielleicht sollte ihm jemand sagen, dass da fast ein Jahrzehnt lang vor allem etwas zugedeckt wurde. Und dass die wichtigsten Aufdecker nicht in Österreich saßen. Und dass die ÖVP bis auf knapp zwei Jahre seit Langem das Innenministerium führt.
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